Eintrag 98

Sei willkommen!

(…nicht nur am Valentinstag)

Während unseres ganzen Leben – und speziell in den Momenten, in denen wir Beziehungen eingehen, bewegen wir Menschen uns zwischen verschiedenen Polen: Zum einen wollen wir natürlich unseren Individualismus, unser Selbst, mit unserem eigenen Gedanken- und Wertesystem erhalten. Zum anderen möchten wir aber auch meist zum Wohl anderer beitragen – auf deren Unterstützung wir selbst ja ebenfalls oft angewiesen sind – und üben uns daher in Altruismus.
Altruismus – laut Wikipedia eine „Uneigennützigkeit, Selbstlosigkeit, durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Handlungsweise“ – ist daher in unseren menschlichen Beziehungen eine wichtige Eigenschaft, die allerdings – wie die sprichwörtliche Medaille – eine zweite Seite besitzt.
Und diese zweite Seite äußert sich in unserer Angst, uns durch zu starkes Eingehen auf unsere Mitmenschen und aufgrund unserer Sehnsucht nach Teilhabe und Einbeziehung quasi „aufzulösen“, uns durch Anpassung und Einordnung in Konformismus zu verlieren (Aufgabe eigener Individualität an die Normen und Meinungen der Bezugsgruppe). Wodurch wir wieder zurück zum Individualismus steuern, es mit unserer Strebsamkeit aber dabei manchmal übertreiben und bei dessen „Medaillenrückseite“, dem Egoismus (Ichbezogenheit, Selbstverliebtheit) landen…

Dies alles könnte hübsche Theorie sein, wenn wir in unseren Mehrfachbeziehungen nicht alle permanent miteinander eigentlich durch diese 4-Faktoren-Matrix pendeln würden. „Wir und die anderen“ ist DAS dynamische Grundmotiv, nach dem wir wie in einem Tanz – mal näher und mal weiter – kreisen.
Die Herausforderung: Seinen eigenen Werten und Zielen treu bleiben – und dabei nicht in Egotripping, Narzissmus oder Gängelei zu verfallen; willentlich zum Gesamtwohl einer Gruppe, der man selbst angehört, beizutragen (durchaus auch, weil es einem selbst mit zugutekommen kann) – und dies nicht zu tun aus Angst vor Verantwortung, aus Selbstunterschätzung oder der Bedürftigkeit, unbedingt dazugehören zu wollen.
Aus diesem Grund wird in der Polyamory so häufig zu der einer Mehrfachbeziehungserrichtung vorausgehenden Pflege eines gut aufgestellten Selbst aufgerufen, bzw. in der Oligoamory betone ich hier auf meinem bLog das Hervorbringen des berühmten „gemeinsame Wirs“, welches den Beziehungsmittelpunkt bilden sollte, um die Wahrnehmung von Eingebundensein bei gleichzeitiger Wertschätzung aller Beteiligten erfahrbar zu machen.
Auf diese Weise könnte die Verbundenheit, der ich u.a. meinen letzten Eintrag gewidmet habe, von dem Maß unserer Fähigkeit zur Einlassung als Individuum und unserer Bindungsfähigkeit als soziales Wesen profitieren.
Die Traumatherapeutin Maria Sanchez z.B. weist darauf hin, daß wir demgemäß über die Bindungsfähigkeit, die wir nach innen haben, auch nach außen verfügen können…

Frau Sanchez geht allerdings davon aus, daß die meisten von uns in unserer westlichen Gesellschaft bereits zu einem frühkindlichen Zeitpunkt ein Bindungstrauma erlitten haben, welches aus der Diskrepanz, wie wir urspünglich angelegt waren und wie das Außen (vor allem unsere nächsten Bezugspersonen) uns indessen haben wollte, hervorgegangen ist.¹
Ein meist unbewußter Teil von uns würde sich seither regelmäßig als „unverbunden“ erleben, speziell in Situationen, die die Verletzung unseres Wesenskernes um den Preis der Anerkennung durch Bezugspersonen (bzw. später: Beziehungs- und Lieblingsmenschen!) berühren würden.

Der Sozialwissenschaftler Stefan Ossmann sagte vor drei Jahren in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung: „Das knappe Gut [in polyamoren Beziehungen] ist nicht Liebe oder Sex, sondern Aufmerksamkeit.“ ²
Eine ziemlich präzise Beobachtung würde ich sagen, eingedenk vieler der von mir verfolgten Filmbeiträge, Situationsbeschreibungen und Forumsdiskussionen zu unserem Thema – und vor allem der dort regelmäßig dargestellten Herausforderungen und Schwierigkeiten.

Ein heute wahrgenommener Mangel an Aufmerksamkeit kann also gewissermaßen eine Art Retraumatisierung auslösen, indem jener oben erwähnte verletzte Teil von uns erneut registriert, daß es wohl (abermals / seit kurzem / jetzt aktuell) Seinsseiten an uns gibt, die wieder einmal nicht willkommen sind.
Was für die Betroffenen und die übrigen Beziehungsbeteiligten jedoch ebenfalls nicht offensichtlich ist – und für die Gesamtbeziehung problematisch wird – ist, daß wir aus einem solchen Erleben dann fast immer Glaubenssätzen ableiten, die wir uns fortan selbst sagen (oder wir bestätigen jene negativ, die ohnehin schon verankert waren).
Ich sage „problematisch für die Gesamtbeziehung“, da Verletzungen auf dieser Ebene stets in einem „Wir-Feld“ verhaftet sind, da die (re)traumatisierte Person aus einer Haltung heraus agiert, in der sie ohnehin bereits übersensibel auf ein Geschehen oder Antizipieren (Vorwegahnen) im Außen fokussiert ist – und eben bereits nicht mehr gut bei sich selbst verwurzelt ist [aus „So, wie du bist, bist du nicht ok!“ wird „So, wie ich bin, bin ich nicht ok…“].

An dieser Stelle ist ebenso zu erkennen, wie aus einem bloßen Gefühl („…da hat mich etwas irritiert…“), welches nach der Irritation abklingen würde, wenn es unbelastet wäre, eine Emotion (= Gefühl+Bewertung) entsteht, deren „Getriggertsein“ fortan weiter anhält. Ein Prozess setzt ein, der dauerhaft Lebenskraft bindet, die andernorts viel gedeihlicher gebraucht werden würde.

Die Traumatheraputin Sanchez folgert, daß solche Prozesse dazu beitragen sollten – und auf jeden Fall dazu beigetragen haben, daß wir mit bestimmten Bereichen unserer Persönlichkeit gar nicht ausgereift individuell werden durften bzw. sollten – und dementsprechend auch nicht wurden.
Sie folgert weiter, daß viele von uns dadurch „chronische Symptome“ entwickelt haben, die einem „inneren Diktator“ entsprechen, der uns mit Glaubenssätzen nach wie vor vorschreibt, wie wir statt dessen besser sein sollten, des weiteren einen „inneren Kritiker“, der uns beim vermeintlichen Scheitern abwertet – und vor allem unsere Umgebung in diesen Abwärtsvergleich einbezieht, sowie einen „inneren Verführer“, der uns mit Ablenkung im Außen (Suchtstrukturen wie Medien, Drogen, Sex, Essen, Geld/Konsum, etc…) zeitweise aus diesem Spannungsfeld herauszunehmen versucht.
Suchtstrukturen wiederum sind laut Frau Sanchez gefärlich, weil sie, wie sie es nennt, „die Bühnen vertauschen“würden: Es würde ein vermeintlich „kontrollierbares“ Substitut angeboten, statt einem Weg hin zu echter Daseinsfreude.

Wer meinem bLog bis zu diesem Eintrag gefolgt ist, weiß, daß dies insbesondere in Mehrfachbeziehungen kritisches Potential birgt, da hier „Verunsicherungssituationen“ doch andere Herausforderungen als in der Monogamie darstellen – und sei es nur dadurch, daß es dort keinen Rückzug ins „Gewohnte“ gibt, weil einerseits eventuell mit mehr „Neuanfängen“ umgegangen werden muß – aber auch weil schlicht die (nicht mal so große) Zahl der teilhabenden Personen in ihrer Vielfalt eine immer wieder veränderte Fülle an Nuancen, Facetten und Schattierungen des Miteinanders hervorbringen wird [als bei (nur) zwei langjährigen Partner*innen].
Daher bieten obendrein gerade Konflikte in Mehrfachbeziehungen das zwiespältige Potential, ausgestanden werden zu müssen – weil sich hier die Beteiligten eher mittelfristig nicht in einen falschen Burgfrieden aus Rückzug in Schneckenhäuser des Schweigens entlassen werden (was bei zwei Personen noch eine Option wäre – wie unsere Eltern- und Großelterngenerationen bewiesen…)

In Eintrag 62 nannte ich sie erstmals: Ambiguitätstoleranz ist also gefragt – die Frau Sanchez übrigens passend zum Beziehungsthema noch konkreter „Begegnungskompetenz“ nennt.
Hier sind wir also wieder als Individuum (wie gesagt aus dem Lateinischen in-dividuus : „un-teilbar“) eingeladen, diese Kompetenz aufzubauen; denn weil wir ja leider nicht vollends individuell (und vielschichtig) werden durften – wie ich weiter oben schrieb – hat dies auch dafür gesorgt, daß wir akut jedem Dilemma hilfloser gegenüberstehen, als es sonst vermutlich der Fall gewesen wäre.

Unsere Glaubenssätze und Symptome aus inneren Diktatoren, Kritikern und Verführern profitieren davon, wenn wir derart mit uns selbst und den äußeren Umständen im fortgesetzten (Unzufriedenheits-)Kampf bleiben.
Folglich hieße das für uns, aus diesem Kampf auszusteigen. Aber bitte nicht durch die nächste Verführung in Verkleidung (die ja auch als ambitioniertes Sportprogramm oder das strenge Praktizieren einer spirituellen Ausrichtung daher kommen könnte…)!

Der Weg zur erwähnten Daseinsfreude, zu einem „Ich bin“, bedeutet vor allem, gerade auch mit dieser seltsamen empfundenen Unverbundenheit in unserem Inneren in Kontakt zu kommen. Sogar einschließlich der Seiten in uns, die diese Unverbundenheit um keinen Preis fühlen möchten und uns deshalb diktieren wollen, daß ein*e Starke*r am mächtigsten allein sei*, uns als abhängig und bedürftig kritisieren – oder die uns mit nicht ganz passend zugeschnittener Zerstreuung vom Fühlen, Anerkennen und uns-selbst-Wahrnehmen ablenken möchten.
Auf diese Weise erschaffen wir für uns die Chance, dann festzustellen, daß wir doch sehr gute Gründe für all das haben, was wir fühlen: Womit wir beginnen, auch ganz stark internalisiert (in uns aufgenommene) Traumata und Glaubenssätze aufzulösen, weil wir so durchschauen, daß WIR NIE VERKEHRT WAREN!
Und da ich bereits in Eintrag 26 auf Konsequenzen ungünstig erworbenen Denkens bei Konfliktlösungsstrategien (Stichwörter „win / lose“ ) hinweise, schließt sich hier der Bogen zu Frau Sanchez‘ Eingangsbemerkung, wie sehr eben unsere Bindungsfähigkeit „nach innen“ mit unserer Bindungsfähigkeit „nach außen“ – also vor allem zu unseren Lieblingsmenschen – zu tun hat.

Unsere Vergangenheit liebt also in der Tat immer mit, wenn wir uns mit unseren Partner*innen verbinden wollen. Daher ist Begenungskompetenz so wichtig, denn dies kann nur in einem Leben in Kontakt gelingen.
Echter Kontakt bedeutet, daß diese Liebe, nach der wir uns alle sehnen, nichts von uns „weg“ oder „anders“ haben“ möchte. Liebe umarmt sogar all unsere Konjunktive von „wenn“ und „hätte“: Wahre Liebe gibt allen Seiten ein Daseinsrecht.
Und wenn – wie Stefan Ostmann oben sagte – Aufmerksamkeit das knappe Gut ist, welches wir alle begehren, dann stellen wir doch schon sehr oft fest, daß wir uns meist bereits zu wenig Zeit für uns selbst nehmen. Hier beginnt Begegnungskompetenz: Sich selbst immer tiefer begegnen – in der Liebesbeziehung zu sich selbst.
„Ich“ sollte also mehr da sein; „Ich“ sollte mehr stattfinden…

Wie so etwas beginnen könnte, das hat für mich sehr lebensnah der britische Autor Matt Haig in seinem Buch „Die Mitternachtsbibliothek“ ausgedrückt, indem er schreibt:


¹ aus: YouTube: Transgenerationstrauma, Maria Sanchez im Interview mit Simon Rilling (25.10.2022)
Zusätzlich Dank an Frau Sanchez für ihr therapeutisches Onlineangebot, aus dem ich in meinem Eintrag auszugsweise zitiere (für den Zugang zu den betreffenden Inhalten hat mein Haushalt ordnungsgemäß bezahlt).

² Online-Angebot Süddeutsche Zeitung Magazin vom 02. Juli 2021, Interview von Thomas Bärnthaler im Gespräch mit Stefan Ossmann [Polyamorieforscher an der Universität Wien] (SZPLus abonementpflichtig)

³ Matt Haig: „Die Mitternachtsbibliothek“ [2021] – Droemer TB; (10. Edition, 3. April 2023)

* „Der Starke ist am mächtigsten allein“ – Zitat aus Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, I. Akt, 3. Szene

Danke an Valiant Made auf Unsplash für das Foto!

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