Der Tagtraum – Verbindliche Weite
Ich sitze am Ufer des entlegenen Eilands der Oligoamory. Kleine friedliche Wellen schlagen leise an den Strand – die Sonne scheint, aber hier am Strand geht meistens ein frischer Wind.
Irgendwo in den Wäldern des Inselinneren hinter mir glaube ich ganz fern eine Flöte zu hören – nur eine schlichte Folge von Tönen.
In mir hallt die Geschichte von Anday und Tavitih noch nach.
Hätten die Oligoamoren sie auch auf dem Festland oder dem vielgestaltigen Archipel der Polyamory so erzählen können?
Oder hätten sie damit Kritik und Unverständnis hervorgerufen?
Wären die Protagonist*innen als besetzend oder vereinnahmend angesehen worden? Wäre ihr Verhalten gar als besitzergreifend interpretiert worden, ihre enge, fast schon spirituelle Verflochtenheit und Feinfühligkeit als wechselseitige Abhängigkeit?
Hätte das dortige Publikum die Geschichte alsbald für sich abgehakt und Anday und Tavitih für künftige Begegnungen den Satz ins Stammbuch geschrieben „Wahre Liebe gibt frei!“ ?
Gedankenverloren blinzle ich durch mein Kelchglas mit halbdurchsichtigem Cuja-Cuja-Nektar hindurch in die Ferne, in der Himmel und Meer nun grün-gelblich erscheinen.
„Wahre Liebe“, denke ich – und dabei fallen mir all die zahlreichen Mären und Geschichten ein, die alleine ich schon kenne und die sich um dieses Thema ranken. Held*innen gibt es da und Schurk*innen, große Ideale und rabenschwarze Abgründe. Widersprüchliches also, in mannigfacher Gestalt.
„Wahre Liebe“, ich wiege die Worte nochmals auf meiner Zunge – und denke dann: „Wahre Liebe… – …macht erst einmal… …gar nichts!“
Sie ist – ja. Sie entsteht irgendwann zwischen Lebewesen – und die sind es dann eigentlich immer, die ihrerseits irgendetwas mit der Liebe oder wenigstens in ihrem Namen anstellen.
Wenn also Liebe erst einmal nur eine Verbindung, eine Art Energie zwischen Lebewesen ist… – haben dann die obigen Fürsprecher*innen nicht eventuell Recht, daß es wichtig wäre, sie darum frei und unbesetzt fließen zu lassen – wohin sie will?
Was würden die Oligoamoren wohl dazu sagen?
Den freien Fluß der Liebe würden sie wahrscheinlich gar nicht in Frage stellen. Aber wie ich das nachhaltige Völkchen kenne, hätten sie zu der Qualität vermutlich einiges zu sagen:
„Frei ja – aber nicht beliebig! Schau, Oligotropos, das paßt doch genau.“, würden sie dann verkünden. „Es ist buchstäblich wie mit Deiner Energie, die Du ‚Strom‘ nennst: Scheinbar neutral steht er Dir konstant in gleicher Stärke jeden Tag ab Deiner Steckdose zur Verfügung. Der Strom ist immer da – und ihm ist es egal, ob Du damit eine Schraube eindrehst oder ein Orchester erklingen läßt. Dir wird aber vermutlich nicht egal sein, ob seine Quelle nukleares Feuer oder Windkraft ist. Das ist es, wo Verbindlichkeit ins Spiel kommt – aber Verbindlichkeit und Freiheit müssen darum trotzdem kein Widerspruch sein!“
Tja. Manchmal überfordern diese kecken Oligoamoren sogar mich noch, wenn sie in dieser Weise von Nachhaltigkeit zur Verbindlichkeit springen… Oft suchen sie dann ein Beispiel, von welchem sie annehmen, daß ich es besser verstehen könnte: „Wie Knüpfteppiche…“
„Knüpfteppiche, also ehrlich…,“ will ich noch sagen, da sind sie schon mitten im Thema:
„Ja, stell‘ Dir vor, Du handeltest mit Knüpfteppichen. Würdest Du für Deine Kunden nicht die makelloseste Qualität zum besten Preis einkaufen wollen?“
„Durchaus…“
„Dann stell Dir vor, daß Du einen Hersteller finden würdest, der Dir das bietet: Feinste Beschaffenheit, filigranste Muster – und das zu einem Preis weit unter dem der Konkurrenten.“
„Verführerisch…!“
„Nicht wahr? – Nun würdest Du aber herausfinden, daß die Teppiche nur deshalb so fein geknüpft sind, weil sie von Kindern hergestellt werden, die eben sehr kleine Finger haben. Und weil es Kinder sind, bezahlt der Hersteller diese schlecht und gibt Dir das als niedrige Einkaufspreise weiter…“
„Ich verstehe.“
„Obwohl die Teppiche also faktisch exzellent und auch noch preisgünstig wären, wäre es für Dich vermutlich sofort nicht mehr beliebig, wie dieses Ergebnis zustande kommt.
Du würdest nun aber vielleicht im Interesse Deiner lieben Kunden und möglicherweise auch dem der ausgenutzten Kinder von Deiner Freiheit, nämlich Deiner Willens- und Wahlfreiheit Gebrauch machen – und nicht Teil dieses An- und Verkaufs werden.“
„Sehr wahrscheinlich!“
„Damit zeigst Du, daß Du Deine Freiheit sowohl nachhaltig wie auch verbindlich einsetzt.“
„Das mit der Nachhaltigkeit leuchtet mir ein, die Verbindlichkeit bleibt mir noch etwas nebulös…“
„Also Oligotropos: Den unlauteren Hersteller hast Du aussortiert…“ „Ja…“
„Nun möchtest Du aber, um ähnlichen, zweifelhaften Angeboten nicht länger ausgeliefert zu sein, nicht mehr nur passiver Teilnehmer im Teppichgeschäft bleiben. Du möchtest darum aktiv teilhaben und gestalten, einige Umstände selbst in die Hand nehmen.“
„Jetzt dämmert’s mir…!“
„Ja, z.B. gründest Du eine Qualitätsoffensive, die für bessere Bedingungen und fairen Handel wirbt. Du setzt Dich für die Handwerker*innen vor Ort ein und kämpfst mit ihnen für die Anerkennung kleiner Manufakturen…“
„Und dann bin ich verbindlich?“
„Wenn Du es ernst meinst und in Deinem Handeln konsequent bist, dann ja. Erinnerst Du Dich, daß auf dem Stein der Oligoamoren auch der Begriff ‚Integrität‘ verzeichnet war, was ja ‚Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem‘ bedeutet?“
„Habe ich nicht vergessen.“
„Das ist gut, denn es ist ja klar, daß so ein Prozess nicht immer ein Sonntagsspaziergang sein kann. Es wird Herausforderungen geben, Schwierigkeiten, auch Rückschläge…!“
„Ich ahne, worauf das hinausläuft…“
„Genau, damit sind wir nämlich schon auf der Beziehungsebene:
Wer es mit der eigenen Freiheit genau wie mit der Freiheit der anderen in Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit ernst meint, der kann seine Beziehungen nicht wie einen Aktienfonds verwalten. Heißt: Die eigenen Anteile freigeben und ausklinken, wenn es mal kriselt oder der Kurs schwankt – und sich dann nach neuen grüneren Weiden umsehen.
Womit übrigens auch wieder die Berechenbarkeit mit an Bord ist, die wir schon mal beim Vertrauen erwähnten: Integrität und Berechenbarkeit gehen in Beziehungen Hand in Hand…“
„Ausgefuchstes System, ich hab‘ so was geahnt…“, so murmele ich zu mir selbst, denn ich sitze ja noch immer am Strand und keine Seele ist weit und breit zu sehen. Nur zu der Flöte im fernen Wald hat sich unterdessen das ab und an herüberschallende Tam-Tam einer Handtrommel gesellt.
„Das wird schon alles so sein…“, gähne ich – „…aber so’n bisschen abhängig ist man dann ja doch: Vom Kurs der eigenen Aktien, wie auch vom Wohl und Wehe seiner Lieblingsmenschen in den Beziehungen…“ Mit diesem Gedanken döse ich in der Nachmittagssonne ein.
Die Geräusche von Flöte und Trommel scheinen sich aber in meine Träume zu mischen und bald sehe ich die beiden Musiker*innen auf ihrer Waldlichtung im Geiste quasi vor mir:
Sie lachen und spielen sich die Töne zu, improvisieren und wechseln dabei immer wieder die Rollen…
Da begreife ich, daß die Oligoamoren mir mit ihrem seltsamen Teppichbeispiel noch mehr sagen wollten:
In dem, was ich selber wähle, dort wo ich gestalterisch eingreife und aktiv Teil habe, bin ich nicht abhängig. Insbesondere nicht bei Dingen, die mir am Herzen liegen, die ich mit Leidenschaft aufgenommen habe und betreibe.
Und das alles, obwohl es manchmal Mißtöne geben kann und eventuell sogar mal jemand anders gerade die Melodie führt… Verbunden und doch frei…
Ich wache schlagartig auf. Der Cuja-Cuja-Nektar ist umgekippt und längst im Sand versickert. Die Musik ist auch verklungen. Oligoamory, Du seltsames Eiland..
Ich klappe meinen Campingstuhl zusammen und kehre beschwingt zu unserer Habitatsphäre zurück, die bislang das Zentrum unseres kleinen Lagers bildet. Im Eingang davon steht meine Gefährtin – gerade spricht sie aufgebracht in ein Funkgerät. Vielleicht mit jemandem von der Presse, auf jeden Fall aber mit jemandem vom Festland. Sie gestikuliert dabei und sagt:
„Warum ist Verbindlichkeit vereinnahmend? Wo ist das Problem?
Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich mich mit jemanden unterhalte und über diesen Menschen etwas wissen möchte, wenn der anfängt: ‚Hmm ja…, irgendwie bin ich irgendwas, irgendwo zwischen naja und nicht ganz…‘
Was hat das ’sich-selbst-Kennen‘ und dann in Kommunikation ’sich-selbst-Erklären‘, damit das Gegenüber eine Chance hat zu wissen – anstatt zu spekulieren – wo ich stehe, mit Vereinnahmung zu tun?
Heißt ja nicht, daß Menschen sich dann nicht mehr entwickeln oder verändern dürfen.
Habt ihr Angst, die Leute könnten sich auf eure Aussagen verlassen und ihr könntet es dann im Fall der Fälle nicht mehr so hinbiegen, wie es Euch gerade paßt?“
Ich grinse und denke: „Deutlicher hätten es auch die Oligoamoren selber nicht sagen können…“
“Du bist frei darin, eine Wahl zu treffen – aber Du bist nicht darin frei, die Konsequenzen Deiner Wahl zu verändern.” ¹
Ein Paradoxon?
Nach meinem Verständnis nicht: Es ist die angemessene Selbstzuschreibung, daß unsere Handlungen (oder nicht-Handlungen) jedesmal Weichenstellungen sind, die darum immer Auswirkungen auf den gesamten so gewählten Kurs haben werden.
¹Dieses in verschiedenen Versionen im Internet kursierende Zitat stammt ursprünglich von dem ehemaligen US-Landwirtschaftsminister Ezra Taft Benson (1899-1994).
Dank geht an Toa Heftiba auf unsplash.com für das Bild, sowie an meine Nesting-Partnerin Kerstin für ihr wunderbares Forumszitat.