Eintrag 87

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche…

„Eins, zwei, drei im Sauseschritt eilt die Zeit – wir eilen mit.“ So dichtete einst Wilhelm Busch – und, kaum zu glauben aber wahr, der Oligoamory-bLog ist nun schon vier Jahre alt geworden!

Für mich als Vater des Geburtstagskinds eine mit Stolz erfüllende Gelegenheit, noch einmal über einen der verschlungeneren Pfade durch die Landschaften ethischer Mehrfachbeziehungen zu schreiben.

Einer dieser schmalen Pfade, den sich fast alle Beteiligte regelmäßig entlangbewegen müssen, führt nämlich durch ein tückisches frostiges Tal, welches ich geradezu als „Zwiespalt“ bezeichnen würde, und zwar zwischen der Abwägung persönlicher Freiheit auf der einen Seite und unserer Sehnsucht nach verlässlicher Verbundenheit auf der anderen.
Mehrfachbeziehungsmodelle wirken auf den ersten Blick ja auch häufig vor allem deswegen so attraktiv, weil sie uns zu versprechen scheinen, daß in ihnen für uns als Teilnehmende mehr von Ersterem (also der persönlichen Freiheit) bei gleichzeitigem erhöhtem Zweiteren (unserem Verlangen nach [mehr] Verbundenheit) zu erlangen ist – auf jeden Fall wenigstens stärker, als dies in (nur) einer monogamen Verbindungen herbeizuführen wäre.

Sehr viele Personen, die ich kennengelernt habe, und die sich mit Ideen oder gar der Umsetzung von Mehrfachbeziehungen beschäftigen, haben sehr regelmäßig schon an irgendeiner anderer Stelle in ihrem Leben Kontakt zu – hm, ich nenne es mal: „alternativem Potential“.
Das muss nichts Gewaltiges sein. Aber oftmals sind es kleine bis hin zu etwas größeren Entscheidungen gegen das, was in der überwiegenden Normal-Gesellschaft gewöhnlich oder vorwiegend gebräuchlich ist. Und dies kann alles mögliche sein: Das Babytragetuch, der Kauf von Bio-Lebensmitteln, Engagement in einer karitativen Organisation oder einem politischen Gremium, alternative Spiritualität, Identifikation mit einer Subkultur (Teilnahme an besonderen Festivals diverser Musikgenres, Mittelaltermärkte oder auch BDSM-Partys), Beteiligung an Gemeinschaftswohnformen oder Tauschringen, bis hin zum Gestalten aktueller Kunst und Kultur.
Vielfach haben sich Menschen also hier schon in bestimmten Bereichen ihres Lebens „frei gedacht“ von einem „so tun es alle“.

Grundsätzlich ist dies für mich eine äußerst erfreuliche Entwicklung, die für mich auch zur Geschichte von Mehrfachbeziehung im 20. Jahrhundert, so wie ich sie z.B. in meinem vierteiligen historischen Rückblick [Teile 1 | 2 | 3 | 4 ] dargestellt habe, paßt.
Allerdings haben sich erst während der Lebenszeit unserer eigenen Eltern (oder wenn ihr Generation Y, Z oder Alpha angehört: unserer Großeltern) viele patriarchalische Institutionen aufzulösen begonnen [z.B. lockerte in Deutschland die Ärzteschaft erst Ende 1970 ihre restriktive Haltung gegenüber der „Pille“, welche endlich ein Meilenstein zur reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen auch hierzulande wurde; erst 1976 (!) sogar trat das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft, demzufolge es danach keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung in der Ehe mehr gab und Frauen nun auch ohne Erlaubnis des Mannes Erwerbstätigkeit aufnehmen durften].
Dadurch hat das Streben nach (mehr) Freiheit insbesondere unter solchen noch sehr lang etablierten Obrigkeitsstrukturen z. T. zu einem Effekt des gelegentlichen Überschießens geführt, den ich manchmal etwas besorgt betrachte – denn: „gewohnt“ in Freiheit zu agieren sind wir alle, Frauen, Männer und Diverse, genau genommen noch nicht.

Was ich damit sagen will ist, daß wir „Freiheit“ dadurch unter bestimmten Umständen in unseren Beziehungen gelegentlich wie eine Art uns zustehendes „Abwehrrecht“ gegen jegliche wahrgenommene Bevormundung, gegen jedwede gefühlt ungerechtfertigte Haftbarmachung – aber darum leider bisweilen auch zu leichtfertig gegen manche echte Verantwortlichkeit ins Feld führen.

Verwunderlich ist das eigentlich alles gar nicht. Denn was unsere Liebe angeht, da wollen wir doch „ganz wir selbst“ sein, dort spüren wir, das diese maßgeblicher Teil von dem ist, was ich hier auf dem bLog so oft unser „Kernselbst“ nenne.
Womit wir zu der anderen Seite des tückischen Tals, des Zwiespalts, kommen – unserer Sehnsucht nach verlässlicher Verbundenheit. Denn in unserem Kernselbst würden wir keine Liebe benötigen, wenn wir als „soziale Tiere“ nicht diese Bezogenheit, diese Hinwendung zu anderen menschlichen Wesen ebenfalls in uns trügen.

Die Formulierung „Sehnsucht nach Verbundenheit“ habe ich übrigens mit einigem Bedacht gewählt, da ich glaube, daß wir in diesem Verlangen einerseits recht idealisiert über uns urteilen und andererseits, wie Wikipedia sagt, gleichzeitig gelegentlich mit dem ängstlichen Gefühl verbunden sind, „den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können“.
Was „im Fall der Fälle“ bedeutet, daß wir durch unsere Sehnsucht nach Verbundenheit recht schnell in ein dramatisches Agieren geraten können, welches – um ein Bild zu wählen – einer Person, die auf einer gefrorenen Wasserfläche im Eis einbricht, nicht unähnlich ist.

Wie und warum kommen wir überhaupt auf’s Eis?
Fast immer ist es unser Idealismus: Wir schaffen das schon! Wir können doch wohl einen solide zugefrorenen See überqueren. Uns wird dabei schon nichts zustoßen, sind wir doch Kenner von Wetter, Eisbeschaffenheit und ganz speziell von diesem See!
Auf die Beziehungsebene übertragen möchte ich hiermit ausdrücken, daß wir meistens mit einem idealisierten Bild von uns selbst losziehen. Einer Selbstbeschreibung, bei der wir vielleicht sagen würden: „Ich sehe mich als einen Menschen, der (auch in Mehrfachbeziehung!) verbindlich und loyal handeln wird. Dazu habe ich ein Set Orientierungspunkte in mir, die mir wichtig sind und innerhalb derer ich mich daher bewegen werde.“
So kann doch wenig schiefgehen, denken wir – und es geht hinaus auf den See.

Manchmal haben wir in diesem Augenblick schon unser Selbstbild sowohl hinsichtlich unserer Verbindlichkeit als auch unserer Orientierungspunkte verlassen. In Eintrag 9 schrieb ich über den „Emotionalvertrag“ der hinter jeder intimeren zwischenmenschlichen Beziehung steht. Und entweder, dieser „Vertrag“ läßt zu, daß eine Beziehung von allen daran Beteiligten als „offen“ (für weitere Verbindungen) aufgefaßt wird – oder wir haben es ausgelassen uns dieser allseitigen Gleichbewertung zu versichern, weil…, ja, weil uns unsere persönliche Freiheit gerade wichtiger war. Bzw. weil wir unserer persönlichen Freiheit in diesem Moment einen höheren Stellenwert eingeräumt haben als der Verbundenheit zu einer/einem bereits vorhandenen Partner*in.
Wodurch sich in diesem Fall sofort ein tiefer, unheilvoller Riß auf dem See bilden wird, sobald wir unseren Fuß bloß daraufsetzen. Denn egal, was von dort geschieht, ethisch im Sinne von transparent, von gleichberechtigt oder gleichwürdig wird es ab jetzt von hier aus schon nicht mehr weitergehen.
Unsere Sehnsucht nach mehr Verbundenheit hat uns vorgegaukelt, daß wir diesen See schon überqueren könnten – die Voranstellung unserer persönliche Freiheit hat dabei aber sämtliche unserer eigenen Sicherheitsventile (die ich oben Orientierungspunkte nannte) platzen lassen; ja klar, können wir jetzt noch den See betreten – aber auf dem nun eingeschlagenen Kurs werden wir eben nicht mehr verbindlich oder loyal sein, diesen Teil unseres eigentlich für uns in Anspruch genommenen Selbstbildes haben wir in dem Prozess fallen lassen.
Natürlich kommt es da auch ein bißchen auf unsere persönliche Resilienz und unser Ego an (also auf unsere Dickhäutigkeit, würde der Volksmund sagen) – aber solch eine Abscheidung eines Teils von dem, was wir bis vor kurzem noch als Teil unserer Identität beansprucht hatten, wird an kaum jemandem mittelfristig spurlos vorüber gehen. Vom zwickendem Gewissen, eventuell Katzenjammer, bis hin zu echter Reue und massivem Scham (vor allem vor uns selbst) können die Folgen reichen, speziell in dem wahrscheinlichen Fall, daß wir es nicht über den See schaffen werden (sprich: das es mit der weiteren/zusätzlichen Beziehung [auch/trotzdem] nicht gelingt).

Ich habe mich jetzt in meinen Beschreibungen gerade schon ein wenig hinreißen lassen hinsichtlich des Umstands, daß sogar die Öffnung einer Beziehung nicht klar vereinbart ist.
Wie steht es um den See, wenn das aber so ist – also vereinbart?
Nun, dann begeben wir uns dementsprechend mit dem Selbstbild „Ich sehe mich als eine Person, die verbindlich und loyal hinsichtlich all ihrer Verbindungen handeln wird.“ auf den See, sprich in eine weitere Beziehung hinein.

Mensch! Die MÖGLICHKEITEN die wir nun auf diesem See haben!
Diese schwindelerregende Perspektive, der Sauerstoffschock, der ungeahnte Schwung den diese neue Erfahrung bietet…
Eis sieht auf der Oberfläche ja auch zu cool aus, glatt, verlockend und glänzend – und sehr leicht vergessen wir, daß darunter auch Gefahr droht…
Sehr schnell ist es geschehen, daß exakt in diesem zu Kopfe steigenden Moment unser persönliches Freiheitsstreben unsere eben noch wacker dirigierte und selbst durch das Beziehungsmodell abgesicherte Sehnsucht nach (mehr) Verbundenheit sabotiert – und aussticht.
Dazu gesellt sich ein Phänomen, welches speziell in Mehrfachbeziehungskreisen als „NRE“ („New Relationship Energy“, zu Deutsch in etwa: „Neubeziehungs-Energie“) bekannt und gelegentlich gefürchtet ist. Die englische Wikipedia konkretisiert: »Neubeziehungs-Energie (oder NRE) bezieht sich auf einen Gemütszustand, der zu Beginn sexueller und romantischer Beziehungen auftritt und typischerweise mit erhöhten emotionalen und sexuellen Gefühlen und Erregung einhergeht.«
„Neubeziehungs-Energie“ kann für die hinzukommende Beziehung also prinzipiell auch etwas Gutes bedeuten – aber leider ist sie manchmal bereits das Kennzeichen brechenden Eises.

Was genau hat uns daher auf den See geführt?
Wenn unsere „Sehnsucht nach (mehr) Verbundenheit“ einen erhöhten Bedürftigkeitsanteil enthält (und das ist, weil wir eben noch keine „gewohnten Freiheitsanwender*innen“ sind, gar nicht so unwahrscheinlich), dann besteht die Gefahr, daß in dem Moment, wo sich für uns die schiere Möglichkeit einer weiteren intimen/romantischen Beziehung abzeichnet, wie in meinem ersten Beispiel wir unsere Sicherheitsventile sprengen. Wir „wollen“ so dringend aufgrund unserer inneren Bedürfnislage (bzw. eben irgendeiner dortigen „Unterdeckung“) eine weitere Beziehung – und würden dafür blind – und durch reichlich NRE-Hormonen zusätzlich enthemmt – auch hier einen Teil unseres eigentlich von uns in Anspruch genommenen Selbstbildes fallen lassen, nur um uns irgendwie bloß diese Beziehung sicherzustellen.
Das Eis bricht.

Es geschieht etwas, was viele Bestandspartner*innen in Mehrfachbeziehungen, auch noch in „ethischen“ wie der Polyamorie, zu regelmäßig erleben: Die geliebte Person scheint nicht nur plötzlich überwiegende Teile von Gefühlen, Zeit und substantiellen Ressourcen der neuen Beziehungsperson zuzuwenden, nein, Einwendungen, Kummer, Hinweise auf bestehende Verbindlichkeiten und Verpflichtungen werden mit dem (ausgesprochenen – oder auch impliziten) Hinweis auf die persönliche Freiheit weggewischt, relativiert, vielleicht verlacht oder mit Hinweis auf fehlende Mitfreude, besitzergreifendes Verhalten und monoamore Kleinlichkeit sogar als „unberechtigt“ verurteilt.
Daß Bestandspartner*innen an diesem Punkt ihre gerade im Eis einbrechenden Lieblingsmenschen buchstäblich „nicht wiedererkennen“ ist hier absolut verständlich: Denn bis vor kurzer Zeit hat sich der Lieblingsmensch ja noch zu Werten und Idealen seines „Kernselbst“ bekannt (und danach verhalten) die jetzt plötzlich nicht mehr festzustellen sind.

Sind wir die Person, die solcherart ins Eis eingebrochen ist, dann wird es schwer uns „zu retten“. Da wir gerade den für uns selbst noch sicher geglaubten Boden unter den Füßen verloren haben, merken wir, daß wir „ins Schwimmen“ geraten…
Die neue Beziehung, die aber noch gar nicht wirklich etabliert ist, wollen wir um jeden Preis behalten, die bereits vorhandene(n) nicht lassen, denn die haben uns bis eben noch den Halt des festen Ufers geboten – uns so zerschlagen wir im Namen der persönlichen Freiheit (weil wir ungestüm versuchen Herr*in der weggleitenden Lage zu bleiben) immer mehr von dem Eis um uns herum, so daß sowohl die Gefahr besteht, daß wir wirklich untergehen – als auch das Risiko wächst, daß wir von außen nicht mehr erreichbar sind und das letzte an „Substanz“, was uns mal mit dem Ufer verbunden hatte, auch noch zerstören.

Sehr regelmäßig wird in poly- und oligoamoren Kreisen immer noch der persönlichen Freiheit und der unbedingten „Offenheit“ des Liebens ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt, in einer Weise, wie man sie vermutlich dem höchsten und alle anderen Karten schlagenden Trumpf in einem Kartenspiel beimessen würde. U.a. in meinem Eintrag 28 (Freiheit der Liebe) und Eintrag 67 (offen Lieben) beschreibe ich, warum diese Herangehensweise aus meiner Sicht nicht dazu beiträgt, auf Augenhöhe beruhende, vertrauensvolle und wertschätzende (Mehrfach)Beziehungen zu etablieren.

Sich Bahn brechende persönliche Freiheit ist in menschlichen Nahbeziehungen wie ein scharfer Granatsplitter, mit dem Potential viel Schaden anzurichten bis hin zur Zerstörung der betroffenen Beziehungen. In Eintrag 42 argumentiere ich, daß in unseren vertrauten Beziehungen unser persönliches Freiheitsstreben daher in persönliche Verantwortlichkeitsübernahme eingebettet sein muß.
Für unsere Bestandspartner*innen sind solche „Selbstentäußerungsereignisse“ (wenn wir uns im fiebrigen Bemühen um eine andere Beziehung von eigentlich wichtigen Teilen unseres Selbst entäußern) wie oben beschrieben, beängstigende und häufig auch verletzende Vorgänge.
Wir können als fehlbare – und gelegentlich bedürftige – Menschen vermutlich nie völlig verhindern, daß sich solches ereignet.
Was wir aber tun können ist, daß wir aus eigenem Antrieb zu unserem Kernselbst zurückfinden, Verantwortlichkeit für unser Handeln übernehmen und uns damit für die Menschen die uns kennen – und nicht zuletzt auch für unser eigenes Identitätsgefühl! – dem wieder Profil geben, was uns wichtig ist und uns ausmachen soll.
Unsere Sehnsucht nach Verbundenheit – so unerfüllt oder schon erfüllt sie in diesem Moment gerade ist – wird es uns danken. Denn am Ende des Tages zählt in unseren Herzen nicht, welche Teile von uns wir um den Kampf für die persönliche Freiheit geopfert haben, das hält uns weder warm noch zufrieden.
Am Ende des Tages wollen wir zu unseren Liebsten zurückkehren, wollen uns an ihrem Wiedererkennen mitfreuen, wenn sie uns wahrnehmen.
Und wir wollen beim Blick in den Spiegel ganz ungeteilte Freude an uns selbst haben, daß wir idealistisch, etwas verrückt und sicherlich auch mit ein paar nicht immer ganz berechenbaren Eigenheiten unterwegs sind. Daß wir aber nach allem trotzdem einen beruhigenden Sinnzusammenhang, eine echte Souveränität verleihende Schlüssigkeit zwischen unserem idealen Selbst, welches wir gerne wären, und unserem tatsächlich wahrgenommenen Selbst, welches wir hier und jetzt gerade sind, erkennen können¹.
So bestätigend wie beruhigend.

…oder wie Johann Wolfgang von Goethe in seinem „Osterspaziergang“ (aus dem Drama Faust ), dessen erste Zeile mir als Überschrift dieses Eintrags diente, es am Ende des gleichen Gedichts beschrieb:

»Zufrieden jauchzet groß und klein.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!«


¹ psychologisches Konzept der sg. Kohärenz nach Carl Rogers

Danke an Vincent Foret auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 86

Liebst Du mich (noch)?

Du sagst, du liebst den Regen,
aber du öffnest deinen Regenschirm
wenn es regnet.

Du sagst, du liebst die Sonne,
aber du suchst dir einen schattigen Fleck
wenn sie scheint.

Du sagst, du liebst den Wind,
aber du schließt die Fenster
wenn er weht.

Deshalb habe ich Angst,
als du sagtest
dass du mich auch liebst.

(anonym. türkisches Gedicht, „Korkuyorum“ [dt.:“Ich habe Angst“])

Wenn die Frage „Liebst Du mich (noch)?“ gestellt wird, sagt die Psychologin und Paartherapeutin Ursula Nuber, dann stehen dahinter eigentlich tiefere Fragen wie z.B. „Warum liebst Du mich?“, „Was liebst Du an mir?“ oder auch „Warum bist Du mit mir zusammen?“.
Für liebende Menschen – für uns und unsere Partner*innen also – ist es darum wichtig, wenn wir darauf eine gute Antwort, nein, nicht nur „hören“, sondern mit unserem ganzen Dasein erleben und empfinden dürfen.
Denn Antworten wie die Folgenden hat vermutlich jede*r schon einmal in der Hektik des Alltags zurückbekommen: „Na klar…!“, „Natürlich, sonst wäre ich ja jetzt nicht hier…“ oder sogar „Warum fragst Du, das weißt Du doch!“.
Solcherlei rasche „Beschwichtigungen“, die ja oft ohne viel Nachdenken erwidert werden, können heikel sein, denn wenn die fragende Person sich ihrer Sache tief im Inneren wirklich ganz sicher wäre, hätte sie höchstwahrscheinlich doch nicht gefragt…
Dies sieht auch Ursula Nuber so, die lange Jahre Chefredakteurin der Zeitschrift „Psychologie Heute“ war und sich als Praktikerin in ihren Büchern darüber hinaus mit Bindungsstilen in Partnerschaften und den Dynamiken in Langzeitbeziehungen auseinandersetzt.¹
Ihre wichtigsten Erkenntnisse kann ich hier auf diesem bLog für ethische Mehrfachbeziehungen sämtlich unterstreichen, da ihre Erscheinungen mir in den letzten Jahren auf meiner Reise durch die Sphären der Poly- und Oligoamory regelmäßig begegnet sind.
Zusätzlich habe ich allerdings festgestellt, daß Mehrfachbeziehungen offensichtlich die Fähigkeit haben, in Partnerschaftsdingen nicht nur wie ein Brennglas, sondern auch in gewisser Weise wie ein Zeitraffer zu wirken, so daß bestimmte Umstände in romantischen Mehrpersonenkonstellationen gelegentlich deutlicher – aber vor allem schneller – zu Tage treten, als es bei herkömmlichen Paarbeziehungen der Fall ist.

Interessanterweise ist eine der Stellgrößen, die zu der „Brennglaseigenschaft“ beitragen, gerade das Vorhandensein von mehreren Beziehungsbeteiligten, da diese Vielfalt in gewisser Weise für uns als Menschen – wie in meinem Eintrag 83 der Psychotherapeut Dr. Dietmar Hanisch sagt – ein „Stressor“ ist. Gleichzeitig wissen wir dank der modernen Stressforschung, daß „Stress an sich“ erst einmal keine Aussage darüber erlaubt, ob wir dies als anregend und positiv im Sinne von sg. „Eustress“ erleben – oder eben als überfordernd und belastend, so wie das Wort „Stress“ überwiegend im Alltagsgebrauch verwendet wird: als negativer „Distress“.
Die Stressforschung gibt damit zugleich eine Antwort auf die Frage, wie es sein kann, daß manche Menschen unter dem gleichen Stress über sich hinauswachsen und sogar zu altruistischen Akten für die Gemeinschaft fähig sind, während andere zu den berüchtigten „Hamstern“ und Eigenbrötlern werden, die nur noch das eigene Wohl und Überleben im Sinn haben.

In ihrem Buch „Sag mal, liebst du mich eigentlich noch?“¹ läßt die Autorin Ursula Nuber den schweizerischen Psychotherapeuten und Paarforscher Guy Bodenmann zu Wort kommen, der erklärt: »Unter [Di]Stress vernachlässigt man die Pflege der Liebe. Man nimmt sich zu wenig Zeit füreinander, wird unachtsam, verliert Positivität, ignoriert eigene Bedürfnisse und die der anderen. [Di]Stress macht egozentrisch, intolerant und dominant.«

Frau Nuber ergänzt jedoch, daß es eben in Beziehungsdingen hier nicht vorrangig um den „von außen“ generierten Stress geht, der die Beteiligten unter Druck setzt, sondern um den in der Beziehung „hausgemachten“, der wesentlich zersetzender sein kann – und letztendlich über Auflösung oder Bestand der Beziehung entscheidet.

Die beiden wesentlichsten Aspekte, die hierbei eine Rolle spielen, und die auch bei Frau Nuber allenthalben zu finden sind, lauten aus meiner Sicht:

1. Wertschätzung

Die wahrscheinlich häufigste Klage, die ich in zahlreichen persönlichen Gesprächen – aber auch immer wiederkehrend in den sozialen Netzwerken – hinsichtlich ungünstig verlaufender Mehrfachbeziehungen gehört habe, läßt sich auf die Wurzel „mangelnde Wertschätzung“ reduzieren. Das ist keine Kleinigkeit, sondern das Beziehungsgift Nr. 1 schlechthin, lautet mein Lieblingszitat auf diesem bLog doch:
»Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«²

Neben dem oben genannten, erst einmal „neutralen Stressors“ der Mehrpersonenkonstellation könnte es in Mehrfachbeziehungen möglicherweise ein Problem sein, daß wir die Verliebtheit bzw. Liebe darin als etwas zu selbstverständlich sehen, weil sie ja gerade von mehreren Seiten scheinbar so reichlich eingebracht wird. Dadurch ist die Verführung hoch, die „Erhaltung“ dieses gemeinsamen Schatzes vielleicht ebenfalls zu sehr als Selbstverständlichkeit anzusehen – und dadurch zu vernachlässigen.
Als Kennzeichen solcher Vernachlässigung identifiziert Psychologin Nuber fünf Punkte, die vermutlich jede*r, der*die*das jemals in Beziehung war, nachvollziehen kann:
Erstens die rasch nachlassende Wertschätzung für das oben zitierte „Kernselbst“ der anderen Beteiligten. Einander das Ego zu stärken und eben nicht als Selbstverständlichkeit – oder, wie der Schauspieler Anthony Hopkins es einmal formulierte, als bloße „Lebensdreingabe“ – behandelt zu werden ist eine der wichtigsten Säulen einer jeden Beziehung.
Zweitens nennt Frau Nuber die „fehlenden Gesten der Liebe“, womit sie keine Galadinner oder Traumurlaube meint, sondern die schlichten Zeichen der Verbundenheit; speziell die kleinen Rituale, die im Alltag Zusammenhalt symbolisieren.
Drittens bezeichnet sie mit „fehlendem Verständnis“ die Unwilligkeit zum Perspektivwechsel hin zu den berühmten „Mokassin der Anderen“, in deren Schuhe man sich gelegentlich stellen sollte. Gerade hier sei ein wichtiges Werkzeug verborgen, nicht nur Empathie zu üben (was nicht allen von uns leicht fällt), sondern vor allem erst einmal gerade nicht eigener Selbstbezogenheit zum Opfer zu fallen (!).
Als Viertes zählt sie „fehlenden Respekt“ auf, womit sie die unter Erstens erwähnte fehlende Wertschätzung dahingehend erweitert, daß innerhalb einer Beziehung oft sehr schnell Respektsgrenzen fallen gelassen werden, die man locker befreundeten oder gar fremden Personen gegenüber nie überschreiten würden, sowohl verbal z.B. als auch im Verhalten.
Dies mündet beim Punkt Fünftens in dem Ausdruck „zu viele Verletzungen“ die sich oft schon nach kurzer Zeit auf diese Weise zugefügt werden.

Auf diese Weise verflüchtigen sich in einer Beziehung möglicherweise bereits nach kurzer Zeit für die Beteiligten die ursprünglichen Gefühle von Geborgenheit, Vertrauen und Freundschaft, welche nun einem sich verdichtenden „psychischen Smog“ weichen (ein Konzept des australischen Psychotherapeuten Russ Harris). Dieses Phänomen beschreibt einen Zustand, in dem ich bereits etliche in Turbulenzen geratene Polyküle (auch meine eigenen!) erlebt habe: Ein verunsichertes und verzweifeltes Suchen nach echtem Kontakt, bei dem sich die Beteiligten aber in einem dichten Nebel aus Gedankenkarussellen, starren Haltungen und Verletzungsbefürchtung bewegen und so stattdessen immer öfter zusätzlich erneut schmerzhaft aufeinanderstoßen.
Infolge sinkt das Selbstwertgefühl zusätzlich, die Atmosphäre wandelt sich von einem Ort der Nähe zu einem Ort des Mißtrauens und die Isolation der Beteiligten schreitet fort.

Spätestens jetzt wird klar, wie die Frage „Liebst Du mich (noch)?“ ein Indikator dafür ist, daß beteiligte Personen mit sich hadern, ob sie in der Beziehung noch gesehen werden, ob sie noch wichtig sind – bzw. sogar ob sie noch „richtig“ sind.

Der Schlüssel an dieser Stelle ist, ob es den Beteiligten in einer (Mehrfach)Beziehung gelingt, für sich eine positive und stärkende Antwort auf die Frage zu finden, was denn ihre Identifikation mit der Gesamtbeziehung ausmacht:
Gemäß den drei Autoren meines zu Beginn dieses Abschnitts eingebrachten Zitats, Cohen, Underwood und Gottlieb², bedeuten Nähe und Intimität – also „sich als geliebt zu empfinden“, daß man Respekt erfährt, daß es eine Atmosphäre der Offenheit gibt, in der wir Resonanz erfahren für unsere Sorgen, Wünsche, Freuden und Ängste, wo wir umfassend „gehört“ werden.
Die Psychologin Ursula Nuber nennt auch hier fünf Punkte:
Erstens die diesem Abschnitt als Überschrift dienende Wertschätzung, in dem Sinne, daß es durchaus in jeder Beziehung wichtig ist und wichtig bleibt, warum jemand geliebt wird – und das diese Frage ebenso wenig banal wie jede ihrer möglichen Antworten ist. Ausschlaggebend ist, daß die Frage gestellt werden darf – noch mehr aber, daß sie immer mal wieder auch ohne ausgesprochen zu werden eine individuelle – eben auf das Kernselbst der anderen – zielende Antwort erfährt.
Zweitens, daß es dazu eben Aufmerksamkeit benötigt, die wirkliches und echtes Interesse signalisiert, wozu die berühmte wahrhafte und aktive Kommunikation von miteinander Sprechen und Zuhören stattfinden muß. Wir müssen erkennen wollen, wie es unseren Lieblingsmenschen geht – und wir möchten das für uns selbst doch auch, um uns als wahrgenommen zu empfinden.
Drittens, wie oben auch Cohen, Underwood und Gottlieb beschreiben, müssen wir uns gegenseitig in unseren Stärken unterstützen. Das mag wie ein schwaches Werkzeug klingen – ist es aber nicht, da genau dies unser Erleben garantiert, wenn wir unterstützt werden, daß wir so registrieren definitiv mehr als „nur eine Lebensdreingabe“ für den Spaß der anderen zu sein.
Viertens: Quasi als Erweiterung von Drittens nennt Frau Nuber „Solidarität“. Womit präzise die meiner Meinung nach wichtigsten (Mehrfach)Beziehungsqualitäten Verbindlichkeit, Berechenbarkeit und „sich sicher sein können“ gemeint sind. Dieser bLog würde ohne diese Werte keinen Sinn ergeben.
Fünftens und Letztens: Empathie, mit der Frau Nuber aber vor allem „emotionale Nähe“ bezeichnet und die sie mit dem Satz „Hier, bei Dir / bei Euch bin ich richtig.“ in Worte fasst.

2. Veränderung zulassen

Nächsten Monat wir das Oligoamory-Projekt fünf Jahre alt, Euer Oligotropos ist neulich 50 Jahre alt geworden…
Auf der Startseite dieses bLogs schrieb ich einst einige Zeilen über die Wahl des Oligoamory-Symbols aus Herz und Doppelspirale – aber über die Auswirkungen dieser Doppelspirale habe ich in meinen Einträgen bisher noch längst nicht so viel gesagt wie über die Auswirkungen des allgegenwärtigen Herzens. Die Doppelspirale die ich ja als Kennzeichen für Zeit und Endlichkeit gewählt habe, steht damit auch für Veränderung, der wir gemäß Ursula Nuber in unseren Beziehungen oft einen zu untergeordneten Stellen wert einräumen – falls überhaupt.
In einem Gespräch mit dem Journalisten Ben Kendal, der unter anderem der Einbecker Morgenpost sein Interview³ zur Verfügung stellte, erläutert die Psychologin, warum wir daher viel zu häufig noch mit einem wenig förderlichen, romantisch verbrämten, statischen Bild der anderen beteiligten Personen an unsere Beziehungen herangehen.
Dies kann nämlich einerseits dazu führen, daß wir bestimmte Charakterzüge einer Person, die wir zu Beginn einer Beziehung schätzen, irgendwann als nervtötende oder entwicklungshemmende Eigenheiten ablehnen. Berühmte Beispiele sind ja der „stille Fels in der Brandung“, der eines Tages als maulfauler Kommunikationsverweigerer wahrgenommen wird. Ebenso wie das Gegenstück des lebhaften „Social Animals“, dessen animierender Aktionismus und Extroversion mit der Zeit zu einem Zerrbild aus Unruhestifterin und Nervensäge zerrinnt.
Andererseits, und da benennt Frau Nuber doch eine – vielleicht von uns manchmal verdrängte – unumstößliche Tatsache: Menschen verändern sich ihr Leben lang – und sie verändern sich auch in ihren Beziehungen, womit sich demgemäß dann ebenfalls diese Beziehungen verändern.
Die Psychologin rät daher, danach zu streben sich in seinen Unterschiedlichkeiten anzunehmen und eben nicht mit „Rettungsphantasien“ oder „Bestandsforderungen“ darauf zu reagieren. Es sei wichtig, dahingehend die Erwartungen an die Beziehung zu überprüfen, denn Beziehungen müssten „sich bewegen dürfen“, um bestehen zu können.
Wörtlich sagt sie: »Nur weil wir jetzt glücklich sind, heißt das nicht, dass das immer so bleiben wird. Sie müssen damit rechnen, dass es Herausforderungen geben wird. […] Jeder Mensch muss sich darauf einstellen, dass sich Partnerinnen und Partner in einer Art und Weise entwickeln können, mit der er nie gerechnet hätte. […] Gleichzeitig zieht man in einer solchen Situation oft Bilanz: Möchte ich mit diesem Mann oder dieser Frau noch weitere Jahre leben?«
Auf den Untersuchungen der US-amerikanischen Psychologin Judith Wallerstein aufbauend, die in ihren Studien Langzeitbeziehungen erforschte, erklärt Ursula Nuber, daß „glückliche Beziehungen“ in der Lage sind, ihre Situation realistisch einzuschätzen, zwar von den „guten Zeiten“ zu schwärmen – aber auch „schlechte Zeiten“ zur Sprache zu bringen. Gerade diesen Beziehungen gelänge es, auch in schwierigen Zeiten festzuhalten und daran zu glauben, daß darin eine Entwicklungschance läge. „Glückliche Beziehungen“ würden ihr Beisammensein nie als „vollendetes Kunstwerk“ oder als selbstverständlich hinnehmen; Liebe sei ständig im Wandel und kein statisches Gebilde.
Frau Nuber resümiert, daß der Sinn einer Liebe also nicht das ist, was gesellschaftlich allgemein als „glücklich“ angepriesen wird, sondern vielmehr die gemeinsame Entwicklung der Beziehungsbeteiligten. Sei es den Beteiligten bewußt, daß der Sinn eines gemeinsamen Lebens darin läge, miteinander (auch manchmal unter Schmerzen) zu wachsen, könnten sie dadurch gestärkt jeder möglichen weiteren Hürde gegenübertreten.
Würde eine solche (Langzeit)Beziehung irgendwann einmal auf ihre Krisen zurückschauen, würden die Beteiligten nicht mehr wissen wollen „Sind wir noch glücklich?“, sondern „Ja!“ auf die Frage antworten, die da hieße „Hat unsere Beziehung noch einen Sinn?“. Denn dies sei die Frage, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sinnvolle Anhaltspunkte fürs gemeinsame Weitermachen liefern würde.

Wenn die Sonne scheint.
Wenn der Wind weht.
Und solange die Liebe währt.



¹ Ursula Nuber: „Der Bindungseffekt – Wie frühe Erfahrungen unser Bindungsglück beinflussen und was wir damit umgehen können“, Piper 2020 und „Sag mal liebst du mich eigentlich noch?“, Piper 2022

² S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“– A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000
Erstmals bei mir Eintrag 14, aber auch Eintrag 46 (zur Selbsterkenntnis), Eintrag 62 (über Beziehungsfähigkeit) und Eintrag 71 (über Polyamorie).

³ aus Einbecker Morgenpost Kompakt, Mittwoch 8. Februar 2023 –„Vor allem zählt Wertschätzung“; von Ben Kendal

Danke an Rebecca Scholz auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 85

Kleine Selbsterforschung

Auf welchen Schultern stehst Du?
In wessen Spuren gehst Du?
Mit welchen Augen siehst Du?
In welchen Büchern liest Du?

Mit welchem Segen lebst Du?
An welchen Plänen webst Du?
An welchen Orten weilst Du?
Und wessen Leben teilst Du?*

In meiner letzten Neujahrsansprache im Januar 2022 habe ich uns alle vergangenes Jahr aufgefordert, in unseren Beziehungen bewußte und proaktive Entscheidungen zu treffen. Als ich soeben meinen Stromtarif mithilfe einer sehr freundlichen Servicemitarbeiterin anpasste, mußte ich lächelnd an diesen damaligen Aufruf denken, da ich ja im Falle meines Energieverbrauchs auch schlicht die brieflich angekündigte Preiserhöhung aus Bequemlichkeit hätte übernehmen können – mit dem exemplarischen Nebeneffekt, sich das restliche Jahr mit den kleinen Stimmchen im Kopf herumzuschlagen, daß ich mich doch rechtzeitig um eine Verbesserung meiner Konditionen hätte kümmern sollen…
Beziehungen sind da nicht anders: Entweder wir suchen regelmäßig die Punkte auf, bei denen wir glauben, daß dort noch etwas zu Gunsten der Beteiligten zu erreichen ist – oder wir verharren im behäbigen Eimer unseres Status quos, vorderhand bequem, aber um den Preis der erwähnten nagenden Stimmen und eines unwillkürlich fortgesetzten (und vermutlich weiter ansteigenden) Unbehagens.
Überhaupt drehten sich meine Einträge des Jahres 2022 sehr stark darum, wie präsent wir unsere Beziehungen zu führen in der Lage wären. Im Februar setzte ich mich z.B. dafür ein, uns selbst und unsere Beziehungen als vollumfängliche Verbundenheit zu betrachten, um zu verstehen, wie wir selbst mit unserem Wohl und Wehe, sowie mit unseren Entscheidungen dahingehend, darin bestehen. Dafür lieferte ich im März ein persönliches Beispiel, wie schnell eine aus eigener Befindlichkeit etwas selbstvergessen angestoßene Dominokette buchstäblich auf einen selbst zurückfallen kann. Im April beleuchtete ich genau jene Befindlichkeiten näher, die uns aus unserer biographischen Vergangenheit heraus manchmal sehr verführen, bestimmte Wahlen immer wieder in einer ähnlich ungünstigen Weise zu treffen, solange es uns nicht gelingt uns diesen mit Mut und Wohlwollen zuzuwenden. Wie man es hingegen mit Schwung falsch macht, dafür lieferte ich eine nicht nur ironisch gemeinte Achterbahnfahrt der Gefühle im Mai. Folgerichtig widmete ich den Juni-Eintrag dem „Nicht-Gelingen“, einhergehend mit der Ermutigung, darob nicht seinem inneren Hauptamtsleiter für Zweckpessimismus zum Opfer zu fallen. Dafür griff ich auch in meinem Lieblingsartikel des Jahres 2022 im Juli noch einmal die sieben wichtigsten Hauptaspekte der Oligoamory auf, betonend, daß „in-Beziehung-Sein“ immer eine ganz besondere Hingabe von eigentlich schon spiritueller Natur in sich trägt. Wie dieses „untereinander-Verbundensein“ in der Praxis aussehen würde, dem widmete ich die Einträge von August und September, nochmals unsere wechselnden Rollen in einem Gesamtbeziehungsgeflecht darstellend. Im Oktoberartikel schlug ich anschließend den Bogen zu Spiritualität und Queerness zurück; im November insbesondere auf die Herausforderungen eines polyamoren „Coming-Outs“ hinweisend – und warum wir leider manchmal „zurück in den Besenschrank“ streben. Daher ging ich im gerade zurückliegenden Dezember-Eintrag speziell auf die besondere Sorgfaltspflege hinsichtlich der „kleinsten Beziehungseinheit“ ein – nämlich dem Du und Ich.

Nachdem hiermit der traditionelle, oligoamore Jahresrückblick erfolgt ist, möchte ich statt einer zusätzlichen Neujahrsansprache lieber die britische Dichterin Sean R.J. Wilmot mit ihrer „Sanften Erinnerung für 2023“ zu Wort kommen lassen, in der sie sagt:

»Es erfordert Mut, alte Gewohnheiten zu durchbrechen, sich der Stimme in seinem Kopf zuzuwenden und zu sagen: „Ich werde nicht zulassen, dass du so mit mir sprichst.“
Denn es erfordert Courage, sich hinzusetzen und ein Gespräch mit seinen Irrtümern zu führen.
Wachstum ist unangenehm; es ist langsam und selten stetig, aber ich verspreche dir, dass nichts, was in voller Blüte steht, dir jemals sagen wird, dass es die Mühe nicht wert war.
Nimm dir einen Augenblick, um wahrzunehmen, wie weit du schon gekommen bist. Schau dir all die Brücken an, die du überquert hast, alles, was du bereits getan hast. Da gab es Zeiten, in denen du dachtest, die Welt würde untergehen, und dennoch hast du durchgehalten, um es zu überstehen.
Und ich weiß, dass du dir oft für die kleinen Dinge keine Anerkennung schenkst, aber auch in diesen Dingen liegt Stärke. Versuche dich daran zu erinnern, dass „für immer“ lediglich eine Summe aus vielen „gerade jetzt“ ist.
Du wirst niemals alles herausgefunden haben. Deinem Leben ist es also erlaubt, wie ein Kunstwerk aus der Renaissancezeit und zugleich wie ein Projekt in Bearbeitung auszusehen. Warte daher nicht erst bis der Tag perfekt ist, um aufzublicken und den Sonnenaufgang anzuschauen.«

Alte Gewohnheit läßt uns also nicht nur an unserem Stromtarif festhalten…
Unsere „Gewohnheit“ (Wiktionary: »Handlung, die zur Routine wurde und immer wieder, oft unbewusst, wiederholt wird.«) müssen wir folglich immer wieder herausfordern – und sie dafür zunächst einmal einigermaßen identifizieren. Der evangelische Theologe und Autor Klaus Nagorni hat in seiner „Kleinen Selbsterforschung“ – was auch der Titel des Gedichts ist, mit dem ich diesen Eintrag begonnen habe – dazu Fragen genutzt. Und es ist gut, wenn wir uns selbst Fragen stellen, denn diese haben die Chance, uns an den Rand unserer Komfortzone heranzuführen – und gewähren uns von dort eventuell einen (halbwegs) ungefährlichen Blick auf das, was jenseits liegt…

Für mich lautet eine der wichtigsten Fragen im Mehrfachbeziehungsuniversum immer wieder: „Warum möchte ich Mehrfachbeziehungen führen?“
Und die Frage die dahintersteckt lautet ja genau genommen: „Was für Bedürfnisse gibt es denn, bei denen ich glaube, daß ich sie mir durch das Führen mehrfacher (und paralleler) romantischer Liebesbeziehungen besser erfüllen könnte?
Für jemanden wie mich sind das höchst wichtige und spannende Fragen. Denn der Aufwand logistischer wie persönlicher Natur wird mit „mehr Beziehung“ in jedem Fall steigen – bzw. wie der US-amerikanische Psychater Scott Peck es freundlicher formulierte: „…es wird dadurch nicht weniger Probleme geben – aber dafür mehr Leben!“.
Ein genauer Blick auf unsere Bedürfnislage lohnt demgemäß auf jeden Fall.
Die „Fremdbedürfniserfüllung“ – die innerhalb polyamorer Kreise so häufig benannt wird [→„Ich bin polyamor, weil ich ja nicht mehr nur einem Menschen den Druck auferlegen will, für alle meine Bedürfnisse da zu sein, so wie in der Monogamie. Bloß ein Mensch allein könnte die auch niiiiiie erfüllen…“] – habe ich auf diesem bLog bereits mehrfach abgelehnt (vor allem Eintrag 58). Ob wir nämlich mit Charlie kitesurfen, mit Juri zum Tantrawochenende fahren oder mit Lou eine Vernissage besuchen: Niemals erfüllt eine*r dieser Partner*innen eines unserer Bedürfnisse – weder das nach dem Adrenalinkick, nicht das nach Erotik, noch das nach Ästhetik. Denn regelmäßig wird Marshall Rosenberg, der Vater der „Gewaltfreien Kommunikation“, der sich selbst in die Nachfolge des Bedürfnisforschers Abraham Maslow stellte, diesbezüglich falsch zitiert. Er verwendete nämlich zu keinem Zeitpunkt das Wort „erfüllen“ – sondern sagte stets „beitragen“. Was Charlie, Juri und Lou also maximal können ist „beitragen“. Und das bedeutet im Rückschluss: „erfüllen“ müssen wir Menschen, jede*r für sich, uns unsere Bedürfnisse schon selbst (!).

Das ist der Grund, warum ich der Selbsterkenntnis in der Oligoamory so einen hohen Stellenwert einräume (siehe Eintrag 46). Und damit ist es auch in unseren Beziehungen von größter Wichtigkeit, sehr sorgsam diese Verantwortlichkeit für unsere Bedürfnisse zu verstehen und zu übernehmen. Denn wie der erwähnte Marshall Rosenberg es einmal ausdrückte: »Wir verfügen nicht über einen magischen Gedankenlese-Rubin in unserer Stirn; niemand von uns kann vorausahnen, was der andere genau braucht; dies muss darum jedes Mal kommuniziert werden.«
Natürlich entzaubern diese Worte in einer gewissen unromantischen Weise die Hoffnung darauf, daß unsere Gegenüber schon erkennen, was uns fehlt (und also beschaffen), noch bevor wir es selbst richtig erfasst oder gar ausgesprochen hätten. Und auch darauf, daß es „Seelengefährten“ gibt, die uns so gut – oder noch besser – „lesen“ können, als wir es selbst vermögen. Gleichzeitig – und für ein gesundes Beziehungsleben ist diese Botschaft wesentlich bedeutsamer – erlaubt diese Erkenntnis auch, daß jedes vorauseilende Agieren in der vermeintlichen Bedürfnissphäre der anderen Beziehungsteilnehmer aufhören darf; und oftmals hat dies ja auch eine übereifrige, ja fast schon übergriffige und manchmal gar kontrollierende Wurzel in sich: „Bleib sitzen, Schatz, ich weiß schon, was Du brauchst…!“.

Uns also selbst zu fragen, was wir wollen, warum wir es wollen – und ob es gut für uns ist – sind wichtige Fragen.
Mittlerweile tief im Januar-Eintrag 2023 wird es darum an dieser Stelle höchste Zeit für ein persönliches Beispiel:

Von meinen eigenen Erfahrungen auf dem Dating-Planeten habe ich in den letzten vier Jahren verschiedentlich auf diesem bLog geschrieben. Im letzten Jahr ist durch eines meiner Dating-Abenteuer eine Verbindung entstanden, jedoch zeigte sich beim ersten Treffen keinerlei romantische Komponente. Da weder die andere Person noch ich wirklich als „Vieldater“ gelten können, haben wir uns beide ein bißchen darüber geärgert; „geärgert“ im Sinne von „etwas enttäuscht“.
Indessen: Es zeigte sich bei diesem ersten Treffen trotzdem, daß wir einander als Menschen sehr interessant, anregend und auch bereichernd fanden. Und wir beschlossen, wiewohl wir ja „eigentlich“ ein „klassisches Date“ mit der Hoffnung auf Stiftung eines romantischen Kontextes angegangen waren, daß wir uns auf den Versuch einer alternativ daraus hervorgehenden „Erwachsenenfreundschaft“ einlassen wollten. Liebe Leser*innen – soweit gute Neuigkeiten: Mittlerweile haben wir uns schon mehrfach wiedergesehen, schreiben uns Nachrichten, telefonieren ab und an.
Nun zu meinen Bedürfnissen.
Bedürfnisse, die sind eine heikle Sache, sie wirklich ganz genau zu (er)kennen. Mit ihnen ist es ein wenig wie mit dem Blick in die Speisekammer vor dem allabendlichen Fernseh-Tagesausklang auf dem Sofa. Da hat man so ein diffus unbefriedigtes Gefühl, daß noch irgendetwas fehlt, man noch irgendetwas zur (Er)Füllung braucht…, man schweift über die Regale und tief im eigenen Inneren erkennt man eigentlich: Das, was ich wirklich brauche, ist hier gar nicht drin. Tja. Darum wird man dann an dieser Stelle auch oft von seinem schwächeren Selbst gekapert, greift sich trotzdem eine Tüte Chips (oder Ähnliches) und zieht sich in die Fernsehsasse auf dem erwähnten Sofa zurück. Übersprungshandlung. Ersatzhandlung. Ein temporäres, nicht ganz passendes Pflästerchen für ein in Wirklichkeit ganz anders geformtes Loch.
Was hat das jetzt mit meiner neuen Freundschaft zu tun? Will ich mit diesem Beispiel sagen, daß die also (nur) ein Pflaster für mein Polyamory-Defizit ist? Nein, die Lage ist komplexer.
Tatsächlich spürte ich in mir – einige Wochen nach dem Auftakt unserer Freundschaft – eine merkwürdige Regung. Nämlich, daß in mir ein Bedenken umging, daß ich die Freundschaft als „nicht genug“ empfand. In der Tat war es in vier Jahren Dating das erste Mal, daß aus einem Date bei mir eine Freundschaft hervorgegangen war. Auch in der Vergangenheit hatte ich mich mit einigen anderen Datingpartner*innen bei vorherigen Erst-Treffen durchaus gut verstanden. Doch ohne aufkommende romantische Komponente war es damals eben immer dann dabei geblieben.
Und nun ertappte ich mich bei Gedanken, in denen ich meiner neuen Freundschaft einen „geringeren Stellenwert“ beiordnete als eben so einer „richtigen“ oligoamoren Liebesbeziehung. Und spannenderweise traten dabei auch meine beiden altbekannten „inneren Rollen“ auf den Plan, von denen ich bereits in Eintrag 21 berichtet hatte: So bemerkte ich, daß mein „Weißer Ritter“ zu überlegen begann, welche „Gefallen“ er meiner neuen Freund*in erweisen könnte und wie er in ihrem Leben „helfen“ wollte (glücklicherweise war meine neue Freundschaft eine sehr patente Person, die für derlei Ansinnen nur wenig Ansatzpunkte bot). Mein „Vampirlord“ hingegen rasselte laut mit seinen Ketten und forderte mich gierig dazu auf, dringlich der Natur der Beziehung eine romantische oder wenigstens erotische Komponente hinzuzufügen, auf daß auch er Nahrung finden würde.
Die heftige Aufwallung dieser beiden inneren Gestalten, die beide in meiner Vergangenheit geeignet waren mich bei Beziehungsanbahnung gelegentlich zu „überfahren“, ließ mich aufhorchen. Beide Anteile drängten auf eine „vollständige“ weitere Beziehung polyamorer Natur – wenigstens in einer Weise, wie ich Mehrfachbeziehungen schon einige Male angegangen war.
Was hatten die beiden dahingehend an einer „bloßen Freundschaft“ auszusetzen?
Um ihre Motivation zu ergründen, musste ich nun wirklich auf meine Bedürfnisebene hinunter, wo eine faszinierende Erkenntnis auf mich wartete:
Ich stellte nämlich fest, daß es einen Teil in mir gab, der der Überzeugung war, daß nur der Rahmen einer romantischen (polyamoren) Liebesbeziehung ausreichend sei, um wirklich (!) sicherzustellen, daß ich als Mensch in einer Beziehung tatsächlich gemeint, geschätzt, geliebt und anerkannt wäre.
Sämtliche anderen Beziehungsformen würden dies hingegen nicht gewähren können.
Und warum polyamor? Nun, weil das „innere Loch“ in mir offensichtlich dergestalt war, daß ich nach mehr „echter/garantierter“ Zuwendung als von nur einer Person strebte. Und da ein monogames Standardmodell ja nur eine „echte“ Beziehung im Rahmen meines Anspruchsmodells bieten würde, sollte es also die Polyamory sein, mit deren Hilfe ich mir einige meiner tiefsten sozialen Bedürfnisse erfüllen wollte.
Soziale Bedürfnisse, die da (alphabetisch) u.a. Akzeptanz, Anerkennung, Annahme, Aufmerksamkeit, Bedeutsamkeit, Beständigkeit, Freundschaft, Fürsorge, Geborgenheit, Gegenseitigkeit, Gemeinschaft, Harmonie, Intimität, Kontakt, Loyalität, Nähe, Unterstützung, Verbindung, Verbundenheit, Verlässlichkeit, Vertrauen, Vertrautheit, Wertschätzung und Zugehörigkeit heißen – und die bei mir wohl (auch biographisch bedingt) in einem Zustand immer wieder zu verspürender Unterdeckung sind.

Was das für mich, Oligotropos, heißt? Das werde ich Euch, meine werte Leserschaft, hoffentlich hier auf dem bLog immer weiter wissen lassen – dann dahingehend stehe ich ja damit gerade erst am Anfang eines Erkenntnisprozesses.
Was es aber auf alle Fälle jetzt schon bedeutet ist, daß ich in Kenntnis dieser Zusammenhänge noch mehr darauf achten werde, meinen Wunsch nach Mehrfachbeziehungen nicht zu instrumentieren.
Weder auf die eingangs erwähnte „bedürfnisverschiebende“ Art, indem ich vorhandene Partner*innen dafür einsetzen würde, möglichst viele „Flicken“ für die von mir identifizierten Bedürfnisdefizite abzugeben.
Noch aber vor allem in Bezug auf meine Grundherangehensweise an (Mehrfach)Beziehungen: In dem ich nun sorgfältiger berücksichtige, welche „Natur“, welchen dringlichen Inhalt einer Beziehung ich aus welchen inneren Ermangelungen herzustellen versucht bin.

Und ich finde durchaus nicht, daß dieser „Fund“ in mir gegen Mehrfachbeziehungen, Poly- oder Oligoamory spricht, weil ich vielleicht aus den „falschen Gründen“ auf dieses Modell verfallen bin.
Ohne meine Bewegung in Mehrfachbeziehungsräumen wäre ich in meiner Selbstanerkenntnis höchstwahrscheinlich niemals dazu gekommen, mich von dieser Seite so gründlich kennenzulernen.

Wichtig bleibt es vielmehr für alle von uns, wach zu bleiben und uns Fragen zu stellen, so wie Herr Nagorni es ganz am Anfang dieses Textes tut. Und uns beherzt der Antworten anzunehmen, denen wir bei unseren kleinen Selbsterforschungen begegnen werden – ganz unperfekt, und ohne dabei auf den Blick auf den Sonnenaufgang zu verzichten.
Ich wünsche uns dabei Geduld, Hingabe und Zuversicht: für unsere vielfältigen Beziehungen, unsere fantastischen Liebsten und für ein gutes neues Jahr.



* Danke an Klaus Nagorni für die freundliche und höchstpersönlich Erlaubnis der Wiedergabe seines Gedichts „Kleine Selbsterforschung“ auf diesem bLog (sämtliche Rechte beim Autor) und ebenfalls Dank an Marlon Trottmann auf Pexels.com für das Foto!

Eintrag 84

Dyadische Keimzellhypothese

In den weltweiten Schöpfungsmythen – insbesondere was die Schöpfung der Menschen angeht – kommt die Polyamorie irgendwie schlecht weg.
Das ist übrigens nicht nur bei dem nach eigenem Bekunden¹ „eifersüchtigen“ Gott der Israeliten der Fall – bei dem alle Religionsangehörigen vermutlich froh sein können, daß dieser überhaupt mehr als bloß ein Wesen und nur ein Geschlecht erschaffen hat, wo doch der vorderasiatische Jahwe/Jehova schon beinahe als Archetyp mono-theistischen und mono-normativen Schöpfens gilt…
Nein, von den Steppen Asiens bis zu den Küsten Papua-Neuguineas, von den Regenwäldern Südamerikas bis zu den eisigen Weiten der Nordpolaregion: Fast überall auf der Welt hat die Geschichte der Menschheit mythologisch mit zunächst einmal lediglich zwei Individuen begonnen, die da sex- und gendermäßig recht überwiegend als Frau und Mann benannt wurden.
Ok, manchmal war einer dieser beiden Partner*innen eine Göttin, die sich einen Mann „fertigte“, um dann nach dessen Beihilfe die Menschheit zu gebären oder ein müßiger Gott, der eine Frau erschuf um der Langeweile der Ewigkeit zu entgehen und mit ihr zum Stammvater der Menschheit avancierte.
Die wenigen Ausnahmen, in der es von Anfang an um „mehr als zwei“ ging – oder wo am Anfang gleich ein betriebsames Getümmel herrschte – muß man schon suchen, götterseidank gibt es aber auch diese:²

Richtig in die Vollen gingen beispielsweise die Götter der Maya, die wohl von vornherein gleich auf eine Vielzahl an Menschen zielten und nach desaströsen Versuchen unter der Verwendung von zunächst Lehm (vom Regen weggespült) und dann Holz (brüchig und illoyal) schließlich mit Maisbrei einen so gigantischen Erfolg erzielten, daß die Götter selbst alsbald vor dem schieren fruchtbaren Gewimmel ihrer Schöpfung Angst verspürten.

Deutlich differenzierter geht es da schon im hawaiianischen Schöpfungsgesang „Kumulipo“ zu. Dort führt die Göttin Laʻilaʻi eine Art proto-polyamore „offene Beziehung“ mit zwei Partnern, aus deren Verbindung drei (selbstverständlich göttliche) Nachkommen hervorgehen, die dann in bester Regenbogenmanier für sich beschließen, da sie geboren wurden, während ihre Mutter mit zwei Männern zusammen war, sich zu „Poʻolua“ (= „die, deren Ursprung im Dunkeln liegt“) zu erklären und die Abstammung von beiden Vätern zu beanspruchen

Wunderbar polyamor geradezu empfinde ich allerdings vor allem die Anfangsgeschichte der Kiowa-Apachen, die von ihrem Schöpfer Kuterastan erzählen, wie er erwachte und sich die Augen rieb. Als er über sich in die Dunkelheit blickte, füllte sich diese mit Licht und erhellte die Dunkelheit darunter. Als er nach Osten blickte, färbte sich das Licht mit dem Gelb der Morgendämmerung, und als er nach Westen blickte, wurde das Licht von den Bernsteintönen der Abenddämmerung durchdrungen. Als er um sich blickte, erschienen Wolken in verschiedenen Farben. Dann rieb sich Kuterastan erneut die Augen und das Gesicht, und als er sich den Schweiß von den Händen wischte, erschien eine weitere Wolke, auf der ein kleines Mädchen namens Stenatliha saß. Stenatlihas Name bedeutet übersetzt die Frau ohne Eltern. Kuterastan und Stenatliha fragten sich, woher die andere Wolke kam und wo die Erde und der Himmel waren. Nachdem sie einige Zeit nachgedacht hatten, rieb sich Kuterastan erneut die Augen und das Gesicht, dann die Hände, und aus dem Schweiß, der beim Öffnen der Hände floss, erschien zuerst Chuganaai, die Sonne, und dann Hadintin Skhin, der Pollenjunge. Nachdem die vier lange Zeit schweigend auf einer einzigen Wolke saßen, brach Kuterastan schließlich das Schweigen und sagte: „Was sollen wir tun?“ – woraufhin überliefert ist: Und gemeinsam begannen alle miteinander mit der Schöpfung…

Angesichts der erdrückenden Übermacht ausschließlich dyadischer (dyadisch = „aus zwei Einheiten bestehend“ / „den Austausch von zweien betreffend“) Schöpfungsmythen hingegen, bleiben dies dennoch eher bunte Randerscheinungen in einer Beziehungswelt, die offensichtlich ganz überwiegend zu Anfang vor allem für ein Zusammentreffen von erst einmal (nur) zwei Wesen angelegt war.
Wenn wir dahingehend mal den rein reproduktiven Aspekt – der in frühen Kulturen sicher eine wesentliche Rolle spielte (und der in der Mythologie so meist eine „höhere“ Rechtfertigung erhielt) – weglassen, bleibt dann trotzdem noch Weisheit übrig, die nicht nur für uns in der heutigen Zeit noch aktuell ist, sondern auch ein Anrecht hat, gleichwohl auf einem bLog über Mehrfachbeziehungen zu erscheinen?

Klar – rhetorische Frage – ich meine nämlich durchaus, daß dem so ist.
Und tatsächlich wird dies auch innerhalb unserer polyamoren Lebensweise oftmals (an)erkannt.
In einem intensiven Austausch mit der bereits auf dieser Plattform hier zitierten bLoggerin Sacriba (die ihrerseits ebenfalls polyamor lebt) antwortete mir diese einmal auf meine eigene Aussage
»Ich stehe […] auf dem Standpunkt, daß „Verlieben“ bzw. „die erste Zeit“ durchaus Phasen von 1:1-Zeit benötigt. Für mich bildet da dieses 1:1 die „Minikeimzelle“ [einer Beziehung] – und in der „Kennenlernphase“ glaube ich, braucht’s das Aug-in-Aug-Miteinander auf diese Weise auch erst einmal…« Folgendes:

»Da stimme ich dir völlig zu, und möchte sogar noch ergänzen: Ich denke, dass immer wiederkehrende Zu-zweit-Zeiten / 1:1-Zeiten unerlässlich nicht nur für den Anfang, sondern auch für das Aufrechterhalten einer schönen, liebevollen Paarbeziehung sind. Als größtmögliche zwischenmenschliche Nähe ist die romantische Ebene sehr offen, und daher auch sehr verletzlich. Das gilt natürlich umso mehr für den Anfang. Je mehr Einflüsse von „Außen“ hinzu kommen, desto eher machen die betreffenden Menschen zu, und können sich auf dieser Ebene gar nicht mehr begegnen. Aus diesem Grund „erlöschen“ so viele monogame Paarbeziehungen, sobald Kinder hinzukommen: Neben der Erwerbsarbeit und Eltern-Sein mit den Kindern bleibt einfach nicht mehr genug Zeit und Energie für romantische Nähe, und nach einigen Jahren ist davon nichts mehr da.
Interessanterweise passiert bei vielen Menschen, die eine Mehrfachbeziehung tatsächlich ausprobieren, ein ähnliches Phänomen: Alle stecken erst mal ihre Zeit und Energie in den Aufbau des neuen gemeinsamen Systems. Und JA, das ist auch sinnvoll, denn das Zu-Dritt, Zu-Viert, wie auch immer, ist eine neue Struktur, welche Zeit und Aufmerksamkeit benötigt, gerade in der „Mehrfachbeziehungsbildungsphase“. ABER: Die Paarbeziehungen verschwinden durch dieses neue System nicht. Im Gegenteil, ein Polykül ist sogar als ein „Netzwerk aus zusammenhängenden romantischen Verbindungen“ definiert. Die Paarbeziehungen bleiben als Subsysteme weiterhin bestehen, und damit auch die Voraussetzungen, damit diese überwiegend schön sind und energiegebend wirken, wie eben eine Zu-Zweit-Zeit / 1:1-Zeit.«


Auch in dem Facebook-Forum Polyamorie & Polyfidelity – Die Kunst, mehrfach zu lieben (deutschsprachig) ergab sich erst diesen Monat unter einer Interviewanfrage mit dem Thema „Alltag in polyamoren Beziehungen“ dieser kurze Dialog:
Gruppenmitglied A: »Finde es so wichtig das Außenstehende ein wenig Einblick bekommen um vielleicht zu verstehen das es gar nicht so anders ist als Monogamie.«
Gruppenmitglied B: »Zu dieser Aussage fällt mir ein Aspekt ein. Im Grunde ist ja schon einiges anders als in der Monogamie, aber natürlich nicht alles und eins fällt mir da direkt ein: Auch Poly-Beziehungen sind 2er Beziehungen. Man hat zu allen Partnern eine individuelle Bindung (wie zu seinem einen Partner in einer monogamen Beziehung) und man braucht auch mit jedem Partner Zweisamkeit. Das finde ich das Schöne an der Polyamorie. Dass die Liebe einfach fließen kann, man nichts unterdrücken muss UND dass es trotzdem separate Lieben sind.«

Gerade die Aussagen der beiden Forumsmitglieder, die spontan und geradlinig ihre Gedanken ausgedrückt haben, freuen mich, weil ich ja hier selbst auf meinem bLog bereits in Eintrag 29 und auch wiederholend in Eintrag 72 geschrieben hatte, daß eigentlich die ganze Essenz meines Schreibens hier in dem schlichten Satz »Führt gute Beziehungen!« zusammengefasst sein könnte.
Die Mitglieder A und B oben erläutern mit ihren Aussagen gewissermaßen dieses „Konzentrat“ zweifach: Zum einen, in dem ausgedrückt wird, daß polyamore Beziehungen vom Grundsatz her ganz und gar klassische, romantische menschliche Beziehungen sind, wie alle anderen romantischen menschlichen Beziehungen auch. Zum anderen, daß die Grundstruktur von Mehrfachbeziehungen – die für themenfremde Personen ja gerade in ihrer „verstrickten Gemengelage“ so verrucht wirken – auf einen Nenner gebracht aus individuellen Einzelbeziehungen bestehen.

Ich möchte hier niemandem zu nahe treten, wenn sich z.B. nun eine Dreierbeziehung getroffen fühlen würde, die das Glück erlebt hätte, daß sich dort alle Personen mehr oder weniger zur gleichen Zeit ineinander verliebt haben. Ich würde tatsächlich auch zu solch einer Gruppe sagen, daß es lohnenswert ist, über die „Untereinanderbeziehungen“ der verschiedenen Mitglieder eines solchen „Dreiers“ einmal so nachzudenken, wie es oben die bLoggerin Sacriba getan hat.

Denn wenn ich „Führt gute Beziehungen!“ sage, dann meine ich das ein wenig wie der irische Autor, Kritiker und Aktivist George Bernard Shaw, der einmal schrieb »Liebe ist die Fähigkeit, den Menschen, die uns wichtig sind, die Freiheit zu lassen, die sie benötigen um so sein zu können, wie sie sein wollen. Unabhängig davon, ob wir uns damit identifizieren können oder nicht.«
Diese Fähigkeit, wenn wir mit dem entsprechenden Menschen eine romantische Liebesbeziehung teilen wollen, bezieht sich meiner Meinung nach nämlich immer auf ein Individuum. Ein Individuum von dem wir andersherum ja (hoffentlich) die selbe Fähigkeit zu unseren Gunsten entgegengebracht bekommen.
Mr. Shaw hat in prägnanter Kurzform formuliert, was längst auch wissenschaftlich erkannt wurde – und was ich bereits verschiedentlich auf diesem bLog zitiert habe; hier noch einmal, weil es so wichtig ist:
»Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«³

Also ist dieser „Prozess“ kein Selbstläufer und er ist obendrein – wie die bLoggerin Sacriba ganz richtig beobachtet hat – „sehr verletzlich“. Denn wir Menschen wählen aus natürlichem Selbstschutz sehr viel eher eine 1:1-Situation, um zunächst einmal lediglich angesichts einer Person unsere Schilde zu senken und Teile unserer Alltagsrüstung auf Vorvertrauensbasis abzulegen. Solch einen Prozess würden die allermeisten von uns ganz sicher erst in einem zweiten Schritt vor einer Gruppe wagen. Diese „Subsysteme“ also – um einen Begriff von Sacriba aufzugreifen, sind dadurch gewissermaßen die Maschinenräume gelingender Mehrfachbeziehungsführung. Sind diese gesund, d.h. jeweils auf Augenhöhe, aufrichtig, engagiert, vertrauensvoll, und wertschätzend, kann jene Energie erzeugt werden, die dann in einem eventuellen „Gesamtsystem“ zu kreisen beginnen könnte.

Möglicherweise war dieser Zusammenhang den Erzähler*innen der menschlichen Schöpfungsmythen latent – oder auch ganz wissentlich – klar: Abgesehen von der berühmten „guten Beziehung zu uns selbst“ sind wir in unseren menschlichen Verbindungen eben nicht „multitaskingfähig“. Dadurch kommt der Begegnung mit unserem jeweiligen direkten Gegenüber jedes Mal besondere Bedeutung zu – unsere ganze Aufmerksamkeit ist gefragt, Bewußtheit und die oben erwähnte „Aufeinanderbezogenheit“. Egal, ob in den Mythen die Menschenwesen aus Staub, Blut, Kieseln oder Schweiß entstanden – sehr rasch steht jedesmal fest, daß ein „Ich“ vor allem erst einmal ein „Du“ braucht, um sich selbst begreifen aber auch spiegeln zu können.
Mit jedem unserer Lieblingsmenschen jeweils eine eigenständige, vollständige und ganz und gar individuelle Beziehung zu führen ist also von erheblicher Bedeutung für ein gelingendes Partnerschaftsnetzwerk, welches auch zu Mehreren gelingen soll.
Die allererste Grundlage dafür, die Keimzelle, beginnt zwischen zwei Leuten.
Vielleicht war es genau das, was uns die Götter schon zu Anbeginn der Menschheit mit auf den Weg geben wollten.


¹ Die Bibel, Altes Testament – 2. Mose 20, 5: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ / 2. Mose 34, 14: „Denn Jahwe trägt den Namen «der Eifersüchtige»; ein eifersüchtiger Gott ist er.“

² Alle Beispiele entstammen der leider nur auf der englischen Wikipedia verfügbaren Sammlung List of creation myths und ihren dortigen Weiterleitungen zur Maya-Schöpfung, dem Kumulipo und zu Kuterastan.

³ S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“– A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000
Erstmals bei mir Eintrag 14, aber auch Eintrag 46 (zur Selbsterkenntnis), Eintrag 62 (über Beziehungsfähigkeit) und Eintrag 71 (über Polyamorie).

Danke an Morrisio Indra Hutama auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 83 #Coming-out

Auf…, zu…, auf…, zu…

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Im letzten Monat schrieb die junge schweizerische PoC-Kolumnistin Noa Dibbasey über ihre Generation Z und deren Verhältnis zu polyamoren Ambitionen: »„Wir sind jetzt offen“, sagen sie und versuchen sich im Mehrgleisigfahren. Durchleben ein Wechselbad der Gefühle. Besprechen dieses mit ihrem Partner. Ganz oft. „Das grenzt fast an ein 40 Prozent Pensum.“ Und dann: „Ab heute wieder geschlossen!“ Nicht bei allen, aber bei vielen. Die meisten kehren nach dem Probiererli zum Status quo zurück.« ¹

Humorvoll und treffend beobachtet, würde ich sagen – zugleich aber ergänzen, daß sich dieses Vorgehen genau genommen in allen Altersstufen potentieller Mehrfachbeziehungsanwärter*innen wahrnehmen läßt. Manchen Menschen, die sich selbst als polyamor beschreiben, passiert dies unter Umständen sogar ein paarmal im Leben. Und so gnädig Noa Dibbasey am Ende ihrer Kolumne über ihre Leidensgefährt*innen urteilt, daß sich ungeachtet dessen auf jeden Fall in Beziehungskommunikation geübt wurde, eine Haltung von Offenheit und Transparenz bewiesen werden konnte… – …frage ich mich, warum unsere Lebensweise denn so einem regelmäßigen An/Aus-Faktor unterworfen ist.

Genuin „queer“ ist so ein „raus aus dem Besenschrank!“ und dann ein „…wieder hinein in den Besenschrank…“ ja nun gerade nicht. In meinem Eintrag 65 ordne ich poly- und oligoamore Lebensentwürfe dem queeren Spektrum zu. Kennzeichnend für die allermeisten Menschen des queeren LGBTQ+-Spektrums ist indessen, daß sie fast alle irgendwann im Leben einmal diesen unumkehrbaren Moment des „Coming-outs“ erlebt haben, einer Situation, die einerseits das erstmalige öffentliche Bekenntnis der eigenen queeren Identität darstellt – und damit andererseits zugleich eine Art „Point of no Return“ der eigenen Biographie und des Wahrgenommenwerdens durch die Außenwelt ausmacht.

Wir „Mehrfachbeziehungsfähigen“ (womit ich all diejenigen meine, die in sich ein Fühlen und Streben hin zu einem [Liebes]Leben in ethischen Mehrfachbeziehungen manifestiert haben) scheinen es dahingehend aber offensichtlich phasenweise etwas anders zu halten, etwas opportun möglicherweise – und darum vielleicht auch nicht immer so uneigennützig oder uns selbst treu, wie wir es vielleicht sein könnten.
Da ist z.B. genau die oben von Frau Dibbasey beschriebene, erstmalig aufwachsende Beziehungsexperimentierphase unserer Jugend. Und urplötzlich finden „wir Poly/Oligoamoren“ uns dort erstmalig in überraschenden Dreier- oder Viererkonstellationen wieder, weil es da irgendeinen Teil in uns gibt, der nicht den Vorgaben einer noch überwiegend monogam veranlagten Umwelt folgen will: Daß, wenn ein weiterer Mensch zu einer Beziehungskonstellation hinzukommt, ein anderer gehen muß, um die noch überwiegend gesellschaftlich gutgeheißene Grundzahl von „2“ nicht zu überschreiten.

Mit Noa Dibbaseys Worten, die „Rückkehr vom Probiererli zum Status quo“ erfolgt danach meist sehr häufig, wenn es aus der „wilden Jugend“ hinein in die „Gründerzeit“ hinsichtlich Job, Karriere und Familienplanung geht. Wie ein etwas peinliches Manga-Poster mit bislang verehrten Superheld*innen verschwinden auch die Gedanken an wirklich lebbare Mehrfachbeziehungen erst einmal wieder im Schrank – zu einer Zeit im Leben, in der wir sehr stark mit der mononormativen, „gläsernen Decke“ konfrontiert werden: Institutionen und Gegebenheiten der Normalgesellschaft, die sämtlich lediglich auf die „Zweierkiste“ zugeschnitten sind, vom Antrag auf eine Sozialwohnung über die Berechtigten beim Kindergeld hin zur Absicherungsform Ehe – mit jeweils anhängigen Anträgen und Formularen, die ausschließlich zwei Personen legitimieren.
Es ist ja nicht nur dieser faktische Mißstand, der eine alternative Lebensplanung zu mehreren Partner*innen erschwert – und der eventuell mit etwas Geschick und Wagemut organisatorisch anders anzupacken wäre. Es ist vielmehr der Druck, der so auf mögliche Mehrfachbeziehungen ausgeübt wird – und unweigerlich dort zu innerem Sprengstoff geraten muß – wer sich denn vor dem Gesetz nun mit der dritten oder vierten Geige zu bescheiden hätte – und wessen Verbindung als die „Hauptpartnerschaft“ geadelt werden solle…
Für die erwähnten „Dritten“ und „Vierten“ ist solch eine obrigkeitsverordnete „Nichteinbindung“ kaum attraktiv – und daher ist dies ein kritischer Moment, den viele Mehrfachbeziehungen auch nicht überleben. Die in einzelne Atome zerschlagenen Teile eines ehemaligen Polyküls schauen nun meist zu, wie sie sich allein oder bestenfalls zu zweit durchschlagen – und das ausgerechnet in dieser erwähnten „Gründerzeit“, wo weitere helfende Hände, zusätzliche Einkommen oder ideenreiche Köpfe für die eigenen soziale Gruppe von größtem Wert wären. Von dem legendären „ganzen Dorf“, daß es bräuchte, um Kinder zu erziehen, ganz zu schweigen – und so erleben und erlernen sogar unsere Nachkommen zunächst wieder, daß Liebe und Partnerschaft wohl etwas ist, was (nur) zwischen zwei Menschen existieren soll…

Ist der Berufsweg halbwegs eingetütet, sind erst die Kinder produziert, die eben heute zu oft auch noch als Nachweis einer glücklichen Beziehung gelten, springt irgendwann die Tür zum polyamoren Besenschrank doch wieder mit Macht auf: Vorbei die wackelige Gründerzeit, und nun gibt es endlich unter Mühen und Schweiß hartverdiente Ressourcen, die auch die Freiheit erlauben, das eigene Denken und Fühlen endlich wieder ein Stück weit aus dem alltäglichen Routinetrott herauszubekommen. Da muss doch wieder mehr drin sein als Haus, Auto, Kinder, Hund und der*dem Partnerschaftssexanbieter*in, mit der*dem man sich all dies aufgebaut hat…
Vielleicht planen wir es, oft „passiert es“ uns – und tatsächlich stellen wir eines Tages erneut fest, daß wir Gefühle für mehr als einen weiteren Menschen empfinden.
Bis zur Midlifecrisis versuchen wir ab da meist, sozusagen mit „halbgeöffneter“ Tür durchzukommen. Oftmals haben wir Eltern, die mit Mehrfachbeziehungsmodellen noch bestenfalls Rainer Langhans oder die Mormonen verbinden, Vereinskumpel und Shoppingfreund*innen, die uns einreden, daß, wenn ein neuer Mensch zur Beziehung hinzukommt, dies ganz sicher nur ein Brückenkopf für das alsbaldige Sichdavonmachen mit diesem Neuzugang ist – und Arbeitskollegen und Nachbarn, die die wechselnden Kennzeichen vor unserer Tür entweder als Beweis unserer regen Aktivität in Swingerkreisen und/oder als Offenbarungseid unserer bröselnden Ehe ansehen würden.
Zuviel „Offenheit“ kommt also nicht in Frage, unser „Ruf“ unsere „soziale Stellung“ unsere Karriere, ja unsere ganze Reputation stehen auf dem Spiel.

„Nicht ganz offen“, was unsere Beziehungen angeht, bedeutet allerdings auch, daß wir nicht ganz offen mit unseren Partner*innen sind – und daher auch genau genommen nicht zu uns selbst. Wen wundert es also, wenn diese Zeit, da wir unser Coming-Out-Status mit der Wandlungsfähigkeit eines Chamäleons je nach sozialem Kontext wechseln, uns in ein Treibeisfeld aus hervorbrechenden Befindlichkeiten wie z.B. kleinen Narzissmen und situativen Schwindeleien einerseits sowie aus Zurückgesetztheit, Neid, Eifersucht, Verlassenheitsfurcht und anderen ungeklärten Ängsten andererseits geraten läßt.
Selten zuvor oder danach erleben wir uns jemals wieder auf so einem tückischen Spinnennetz in einem nervösen Balanceakt zwischen Selbst- und Fremderwartungen.

Der deutsche Facharzt für innere Medizin und Psychotherapeut Dr. Dietmar Hanisch schreibt dazu: »Die Beziehungen zu unseren Mitmenschen sind in der Tat ambivalent: Sie können unsere wichtigsten Schutzspender sein, aber auch extreme Stressoren. Für uns Menschen ist soziales Eingebundensein absolut überlebensnotwendig. Unser Drang nach sozialer Anerkennung ist deshalb außerordentlich stark. Und dieser entfaltet sich in unseren Gehirnen, die ohnehin stark zur Reflexion neigen. […]
Hinzu kommt, dass unser Denken eine Tendenz zur Idealisierung, Übertreibung, und Verabsolutierung hat: Wir wollen von allen geliebt werden, wollen, dass alle unsere Erwartungen erfüllen. Ist das nicht so, macht uns das unweigerlich Stress.«
²

Wenn wir wenigstens, wie Noa Dibbasey in ihrem eingangs erwähnten Artikel folgert, konstruktive Mehrfachbeziehungserfahrungen aus unseren ersten Gehversuchen hätten mitnehmen können! Das ist aber meist nicht der Fall und so müssen wir in der „Zweiten Runde“ immer noch für uns viele Dinge ordnen, die unabgeschlossen geblieben sind.
Ein Dauerbrenner dabei ist sehr oft, wie wir ein gesundes Verhältnis zwischen Autonomie und empfundener Fremdbestimmung finden können, wo, wie ich schon in Eintrag 70 schrieb, wir aus unseren Konventionen heraus überwiegend gewohnt sind, hier in „Gewinnen“ und „Verlieren“ zu klassifizieren. Wer darf die Ansagen in einer Beziehung machen? Ich bin doch kein Kind mehr!
Autonomie und Selbstwirksamkeit entwickeln ist gut – darf sich dabei aber nicht zu einem selbstverzweckten Gegenpol zur Verbindlichkeit entwickeln.
Daher graut mir, Oligotropos, oft vor jenen, die „offen Lieben“ (Eintrag 67) im Sinne von „freier Liebe“, die sie so auffassen, daß sie diese Liebe jeweils nur nach persönlich bemessener Verfügbarkeit zuteilen, wenn es gerade paßt bzw. günstig erscheint.
Ich sag‘ es nur ungern – aber der wichtige polyamore Grundwert der „Verbindlichkeit“ und der Selbstverpflichtung beweist sich stets gerade in den berüchtigten „schlechten Zeiten“, wenn es wirklich darauf ankommt, auch einmal über die eigene Komfortzone hinaus eine Weile den sprichwörtlichen „extra Meter“ mehr mit seinen Lieblingsmenschen mitzugehen.

Die Redakteurin Janina Oehlbrecht identifiziert in ihrem Artikel für die Zeitschrift Brigitte zu Beginn diesen Monats Selbstvertrauen, Aufmerksamkeit für die Beteiligten, Kommunikation (wer hätt’s gedacht?) und das Entwickeln von vertrauten Routinen als grundlegend für gelingende, langfristige Beziehungen. Sie ergänzt Respekt, Reife und ein fortgeschrittenes Verständnis füreinander.³
Genau diese letzteren drei halte ich persönlich für kampfentscheidend, exakt weil sie nicht schnell oder über Abkürzungen zu bekommen sind.

Gelingende, langfristige (Mehrfach)Beziehungen sind in diesem Sinne zwar natürlich auch ein Geschenk (nämlich von unseren Lieblingsmenschen an uns) – aber unser Beitrag darin ist erheblich und wir können sie uns durchaus in gewisser Weise „erarbeiten“. Für viele freie Geister aus der Welt der freien Liebe ist diese „Beziehungs-Arbeit“ ein rotes Tuch, da dies so wenig leicht, so nach Bemühung und Inanspruchnahme klingen würde.
Wer mir durch bislang 83 Einträge zum Thema Oligoamory gefolgt ist, weiß, daß für mich diese „Arbeit“ vor allem in eine Entdeckungsreise unseres ureigenen Selbst besteht, die es allemal wert ist, erfahren zu werden.

Oben nenne ich als Meilenstein unseres „zweiten Coming-Outs“ die vielbeschriebene Midlife-Crisis. Der Begriffbegründer, der kanadischen Psychoanalytiker Elliott Jaques, identifizierte als Auslöser die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. Ich würde vielleicht etwas sanfter mit einer Sportmetapher sagen: Die Erkenntnis, daß das Leben eindeutig in die „zweite Halbzeit“ geht.
Tja.
Die Kinder (weitestgehend) aus dem Haus? Karriereziele einigermaßen etabliert? Materiell halbwegs abgesichert?
Und wie steht es um unser Beziehungsleben? Drei, vier Beziehungskisten gebaut und doch allein? Um jeden Preis in einer mittelmäßigen Partnerschaft mit Mitteklassewagen ausgeharrt um den Mittelwert des gemeinsamen Vermögens nicht zu gefährden?
Und polyamor? Von den „befreundeten Paaren“ ist niemand übriggeblieben, die Versuche, zusätzliche Partner*innen mit ins Leben zu integrieren alle ohne Erfolg? Ausgetobt auf neotantrischen Wochenenden und sexpositiven Partys – und doch sind nach und nach auch die letzten Bedürfniserfüller*innen verschwunden, weil sie sich plötzlich um irgendein pflegebedürftiges Elternteil oder den eigenen onkologischen Befund kümmern mussten…
Manchmal hat sich unsere Tür schon wieder – scheinbar von selbst – geschlossen: Alles versucht, gerungen, gestritten, versöhnt, das Beste gegeben, und doch ist nichts Haltbares zustande gekommen (Eintrag 78).

Ab unseren 50er Jahren beginnen wir uns dann eventuell allmählich der Vorstellung einer Plus-WG näher zu fühlen als der Hippie-Kommune – und die Vorstellung „Allein im Alter“ greift recht real und mit kalter Hand nach uns.
Eventuell Zeit, den polyamoren Besenschrank wieder zu öffnen…

…oder ist es nicht vielmehr das oben erwähnte „ganze Dorf“, daß wir so nun doch noch zu erreichen suchen? Das mit den helfenden Händen und ideenreichen Köpfen?
Aber dann vielleicht doch eines, in dem wir uns endlich um unserer selbst willen geliebt, geschätzt und angenommen fühlen wollten.

Müssen wir wirklich darauf so lange warten, immer eine Hand an der Schranktür?
Zum Ende meines heutigen Eintrags darum schnell noch einmal etwas queere Ermutigung:

In dem von mir in meinem letzten Eintrag rezensierten Buch des queeren Autors Sah D’Simone vergleicht dieser sein Coming-Out mit dem Entdecken seiner „spirituellen Superkraft“, mit der er zu einer lebenswerten und diversen Welt nicht nur beiträgt, sondern wegen der er auch genau von dieser Welt gebraucht wird und deshalb unveräußerlich mit ihr verbunden ist.
Die Affirmation, mit der er seinen Schritt umgesetzt hat lautet „Weil ich es wert bin!“.
Er schreibt dazu:
»Ich verließ mein Versteck, und die Art, wie ich meine Individualität feiere, war nicht jedermanns Sache. Ich musste lernen, dass das in Ordnung ist. Ich bin nicht jedermanns Sache. Das Risiko hat sich mehr als gelohnt. Ich habe mich, meine Leute und meine Aufgabe im Leben gefunden. Vielleicht wirst auch Du, wenn Du Dein metaphorisches Versteck verlässt, nicht jedermanns Sache sein. Aber du musst darauf vertrauen, dass du deine Zugehörigkeit finden wirst, deine Bestimmung, deine Fülle und Heilung.«

Für uns in der Oligo- und Polyamory hat in meinen Augen der US-amerikanische Geistliche und Schriftsteller Thomas Merton 1959 in seinem Buch „Kein Mensch ist eine Insel“ diese Zugehörigkeit, Bestimmung, Fülle und Heilung mit folgenden Worten am besten ausgedrückt:

»Die Liebe ist unser wahres Schicksal.
Wir finden den Sinn des Lebens nicht allein, wir finden ihn miteinander.«


¹ Kolumne „Meine Generation“ über offene Beziehungen Der Dreier und s’Weggli vom 20.10.2022 auf Blick (online)

² im Interview in Geo Wissen Gesundheit Nr. 17: (Juni 2022) „Was die Seele stark macht“

³ Beitrag 4 Gewohnheiten von Menschen in glücklichen Langzeitbeziehungen auf brigitte.de (online)

Danke an das Kurt Löwenstein Education Center auf flickr.com für das Foto!

Eintrag 82

Der Regenbogen in Dir
(beinahe eine Art Rezension)

Manchmal geschieht es, daß das Universum außergewöhnliche Impulse gebiert, die von solcherart Natur sind, daß sich darin auf wunderbare und erstaunliche Weise Ideen und Inspiration zu einem sinnstiftenden Gesamtgebilde zusammenfinden, die bis kurz zuvor noch an unterschiedlichen Orten – zwar für sich klug und nichtsdestoweniger faszinierend – eher getrennt voneinander existierten.
Ein solches Kleinod war für mich die Lektüre des Buches „Sensationell Spirituell“ (Droemer Knauer 2022) des queerPoCbuddhistischen Autors Sah D’Simone, der durch sein facettenreiches Leben ähnlich wie die von mir in meiner „Geschichte der Polyamorie“ [Teile 1 | 2 | 3 | 4 ] exemplarisch genannten Persönlichkeiten Rudyard Kipling, Robert A. Heinlein und Morning Glory Zell-Ravenheart ebenfalls zu einer „menschlichen Brücke“ zwischen verschiedenen Erfahrungswelten geworden ist.
Insbesondere für meine Oligoamory habe ich in den Gedanken und Vorschlägen Sah D’Simones daher einige spannende „alte Bekannte“ wiederentdeckt, die für mich so erfrischend wie einmal mehr bedenkenswert aus der spirituellen Perspektive des Autors für mich in einen nachvollziehbaren Kontext gestellt wurden.
Speziell das Stichwort „spirituell“ habe ich selbst gerade erst wieder in Eintrag 79 betont, aber auch den Buddhismus (z.B. Eintrag 74), die Ganzheit (Eintrag 57), unser Queer-Sein (Eintrag 65), immer wieder die Abwägung zwischen Verbindlichkeit und Freiheit (u.a. Einträge 7+8), die Hindernisse in uns selbst (z.B. Einträge 21, 26 oder 35), daher auch das Scheitern und Wiederversuchen (Einträge 22 / 77 / 78), sowie die Bedeutung unseres Strebens nach Selbsterkenntnis (Eintrag 46).

Den Ansatz und die „Themenvereinigung“ durch Sah D’Simone gefällt mir daher gerade deshalb so sehr, weil es ihm auf eine gute Weise gelingt dazu aufzufordern, unsere menschlichen Schwächen zu verstehen und anzunehmen, er dadurch außerordentlich tröstlich den Weg unserer vielen kleinen (nicht immer zielführenden) Schritte als dennoch folgerichtig feiert – und er zugleich mit unglaublicher Lebensfreude Initiative und „Raus-aus-dem-Besenschrank“-Mentalität versprüht.

Hinsichtlich polyamorer (klar: und oligoamorer) Mehrfachbeziehungsführung ist mir das am stärksten aufgefallen, wenn ich die immer wieder auftauchende Frage „Warum gelingt es (mir) nicht?“ in das Regenbogenleuchten seines Buches halte. [Noch einmal zur Klarstellung: „Sensationell Spirituell“ ist gar KEIN Polyamorie-Buch sondern am ehesten spirituelle Selbsthilfe-Literatur; wer sich allerdings mit ethischer Mehrfachbeziehungsführung beschäftigt und dahingehend keine Vorbehalte gegen Weisheit aus queer-spiritueller Perspektive hat, entdeckt trotzdem eine Fundgrube.]

Im engsten Sinne würde ich die Aussage von Sah D’Simones folgendermaßen zusammenfassen:
Du kannst dann für Dich ein gelingendes Leben führen, wenn es Du es schaffst mit Dir selbst im Frieden zu leben.
Wenn ich das auf die Beziehungsebene hebe, könnte die Aussage also lauten:
Du kannst Dich dann in gelingenden Beziehungen erleben, wenn Du es schaffst mit Dir selbst im Frieden zu leben.
So Simpel, hm?
Oder so kompliziert.
In seinem Buch verdeutlicht Sah D’Simone noch einmal auf sehr berührende Weise, daß wir nämlich meistens mit uns selbst eher nur selten im Frieden sind – und wir folglich diesen Un-Frieden in allem was wir daraus tun und damit natürlich auch in unserem Umfeld wiedererleben.
Erfreulicherweise räumt er im nahezu gleichen Atemzug mit vielen der wohlbekannten „Heilungsrezepte“ auf – wie z.B. dem wohlbekannten Aufruf, dann doch am eigenen „Einssein“ zu arbeiten. Über sich beschreibt er dazu:
»So schön diese Wahrheit auch ist, sie lässt sich nicht besonders gut auf die moderne Welt übertragen. Tatsächlich gibt es jede Menge Unterschiede unter uns. Ich glaube, dass jede*r Eine*r ist. Trotz aller Lippenbekenntnisse, die über das ‚Einssein‘ abgegeben werden, behandelt die Gesellschaft viele ihrer Mitglieder nicht so, als ob wir alle eins wären. Vielen sagt sie tagtäglich: Du bist anders, du bist schlecht, du bist verkehrt, du bist unwürdig. In so einer ungerechten Welt zu leben und blind an das Einssein zu glauben, ist im besten Fall eine Lüge, und im schlimmsten Fall verleugnet es die alltägliche Wirklichkeit unserer Welt. Ja okay, eine einzige Liebe. Aber ich war depressiv wie sonst was, Bitch! Kriegt mich euer Einssein aus dem Bett raus? Einssein ist nicht auf meiner Seite, wenn ich als einziger nicht-weißer, queerer Körper einen Raum betrete, wenn mir, bevor ich überhaupt den Mund aufmache, nonverbale Vorstellungen und Vorurteile über mich – die eine echte Wirkung auf meine Realität haben – entgegenkommen.«

In Eintrag 65 beschreibe ich, Oligotropos, unsere Lebensweise ethischer Non-Monogamie als queer. Wenn wir „Mehrfachbeziehungsführer*innen“ also in irgendeinem Kontext interagieren, dann liegt die oben beschriebene Erfahrung also gar nicht so fern. Gerade auch dann nicht, wenn wir und um Beziehungsaufbau oder -pflege bemühen.
Denn was versuchen wir da? Wir versuchen mit anderen in Gemeinschaft zu gehen – vergessen aber dabei schnell, daß es sich bei unseren Gegenübern um ähnlich vielschichtige 20-, 30-, 40- oder 50-jährige handelt, wie wir es selbst sind – bereits angefüllt mit eigenen Lebenserfahrungen, einer spezifischen komplexen Geschichte (die wir ja für uns auch in Anspruch nehmen), um voll- und eigenständige Lebewesen also, die das gleiche Maß an sorgfältiger oder wenigstens respektvoller Herangehensweise an sich selbst erhoffen, wie wir das auch für uns wünschen.

Gemäß Sah D’Simone treffen wir aber eben überwiegend eher selten vollendet friedvoll (mit uns selbst wohlgemerkt!) aufeinander. Sorgsamkeit und Respekt zu erweisen wie auch selber zu erhalten ist also weit mehr Glückssache als etwas, was uns selbstverständlich am Herzen liegt. Hier möchte der Autor ansetzen und die Leser*innen zu Freiheit im Denken, Fühlen und Handeln anregen. Nicht zu einer im Außen proklamierten Freiheit: „So frei bin ich, ich tue (nur), was gut für mich ist…“, sondern zu einer echten Befreiung in unserem Inneren:
»Der Schlüssel zur Freiheit? Gewahrsein. Besonders heute, wo wir kaum noch abschalten, leben wir ohne jedes Gewahrsein von unserem eigentlichen Selbst. Das führt dazu, dass wir völlig unverhältnismäßig aufs Leben reagieren, dass wir in verschiedenster Hinsicht aus dem Gleichgewicht geraten. Gefangen in einem pausenlosen Kreislauf aus Fühlen-Denken-Reagieren, haben wir überhaupt keinen Raum, irgendwie angemessen mit dem Leben (unseren Gefühlen, Beziehungen, uns selbst) umzugehen.«
Wenn ich diese Sätze lese und an meine Beziehungen, insbesondere aber auch an zurückliegende gescheiterte Beziehungsanbahnungsversuche denke, dann beschleicht mich der Eindruck, hier (er)kennt mich jemand recht genau.

Sah‘ D’Simone ist für sich zu der Einsicht gelangt, daß, wenn wir uns in so einem Zustand befinden, wir zu allermeist schon gar nicht mehr eigentlich „wir selbst“ sind.
„Selbsterkenntnis“ muß also her, wie ich es auch auf diesem bLog regelmäßig bewerbe. In Sah D’Simones Worten:
»Wenn dein Leben nicht genau mit dem zusammenpasst, was Du als dein Ich kennst und wovon du in deinem tiefsten Inneren weißt, dass es dein Potential ist, dann bist du damit nicht allein. Das Lebn ist hart! Mensch sein ist hart! Mit anderen Menschen zusammen sein ist hart! Manchmal ist es ein einziger Hindernislauf. Und ein emotionales Desaster – dieser ganze Herzschmerz und die verzweifelten Anläufe, mit unserer Innenwelt klarzukommen, während wir uns draußen in der Welt exponieren. Kein Wunder, dass wir uns verlieren oder vom Weg abkommen. Kein Wunder, dass wir uns beibringen, uns zu verstecken. Kein Wunder, dass wir echten Kontakt vermeiden. Die Welt da draußen kann ganz schön unheimlich sein!«

Das, was wir als unheimlich wahrnehmen, beschreibt Sah D’Simone anhand eines Bildes von unserem „inneren Garten“, in dem ständig von außen eingebrachte Samenkörner von Unsicherheit, Zweifel, Scham und Schuld zu keimen und aufzuwachsen versuchen. Während unser Herz unseren Garten erkennt, wie er gedacht ist, schaut unser Verstand lediglich auf das, was darin wächst – und das ist – solange wir noch keine guten „inneren Gärtner“ geworden sind – überwiegend besorgniserregend und führt zu immer mehr „Unkraut“, was wir so auch noch selbst vermehren.
Um zu verdeutlichen, was unser „Herz“ erkennt, der Verstand aber bloß „sieht“, erklärt der Autor, daß es einen Unterschied zwischen „Verlangen“ und „Bedürfnis“ gibt, den wir im Alltag meistens völlig unbewußt verwischen:
»Der Verstand ist vom Verlangen gesteuert. Er will permanent irgendetwas haben, will ständig konsumieren, um sich besser zu fühlen. Er kann die Veränderlichkeit der Dinge nicht akzeptieren. Er ist unsicher und sehnt sich nach Bestätigung, Aufmerksamkeit und Ablenkung. […] Das Herz andererseits hat Bedürfnisse, die dem Verlangen entgegenstehen. Während das Verlangen uns kurzfristige Vergnügungen oder Befriedigungen verschafft, sind Bedürfnisse Dinge, ohne die wir nicht leben können, vor allem, weil mit jedem gestillten Bedürfnis der Weg zu einem glücklicheren inneren Garten geebnet wird.«

Aus seiner eigenen Queerness hat der Autor dazu aber eine aktive Herangehensweise abgeleitet:
»Bei ‚Sensationell Spirituell‘ geht es genau darum, dass du deine Einzigartigkeit, dein authentisches Selbst würdigst. Spirituelle Lehrer werden dir sagen, dass wir alle eins sind. Betrittst du aber einen Raum und unterscheidest dich sichtbar von allen anderen dort, und die Welt draußen fühlt sich unsicher und abweisend an gegenüber deinem Anderssein, dann kann sich Einssein sehr real falsch anfühlen. Das war jedenfalls absolut meine Erfahrung. Gewöhnlich meinen wir mit ’sich unterscheiden‘ ‚anders sein‘, auch wenn wir es positiv ausdrücken. Du kannst nur dann ‚anders sein‘, wenn du aus dem Mainstream-Blickwinkel betrachtet wirst (weiß, cis, heteronomativ). Selbst wenn Einssein also eine nette Idee sein mag, ist die Welt, in der wir heute leben, noch nicht bereit dafür. Wenn du das Gefühl hast, du musst erst mal Wände einreißen, bevor du ein Mindestmaß an Sicherheit oder Zugehörigkeit spüren kannst, dann fühlt sich die Idee von EINS-sein falsch an. […] Ich rufe stattdessen dazu auf, ein Fest des Anderssein zu feiern: Feiere deine einzigartige Magie, denn du bist auf die Welt gekommen, um sie mit uns zu teilen. Deine Magie wird dich befreien.«

Für dieses buchstäbliche „Coming-out“ ermutigt Sah D’Simone dazu, sich noch einmal ausdrücklich mit der eigenen Ich-Geschichte auseinanderzusetzen, genau zu schauen, was vom Wesen her „zum eigenen Garten“ gehört – und was sich nach und nach von außen darin eingefunden hat, was mittlerweile vielleicht überwuchert, wozu wir eigentlich berufen sind.
Ähnlich dem von mir gelegentlich auf diesem bLog zitierten Neurowissenschaftler Gerald Hüther verweist er auf die anhaltende Plastizität unseres Geistes als Ansatzpunkt, stets Veränderung von Überzeugungen und Gewohnheiten herbeiführen zu können.
Da er aber auch die Kraft unseres inneren Kritikers kennt (der ja oftmals auch in der Verkleidung des „inneren Schweinehunds“ daherkommt), empfiehlt er, mit diesem Persönlichkeitsanteil in eine Art regelmäßigen Dialog zu treten.

Als Buddhist hat Sah D’Simone auch dem Prinzip der Vergebung gegenüber wenig Scheu – ich weiß aber daß dies für mich, Oligotropos, regelmäßig eine Hürde darstellt, wenn ich mich meiner Vergangenheit und zurückliegender Ich-Geschichte zuwende. D’Simone gelingt es für meine Begriffe hier sehr gut herauszuarbeiten, daß es ihm hier nicht um eine Geste gegenüber einstmaligen Täter*innen geht, sondern vielmehr um eine Haltung, die ganz und gar im Sinne unseres eigenen authentischen Selbst ist und der Wiederherstellung unseres ursprünglichen „Gartens“ dient:
»Die Auswirkungen von Traumata kennen wir alle und Vergebung ist das Gegengift. Ich weiß, das klingt einfach. Tatsächlich können wir eine tiefe Verbindung zu unserem Herzen und unserer Essenz erkennen, wenn wir denen zu vergeben lernen, die uns und die wir verletzt haben, und uns selber vergeben können, wie wir in Momenten der Verwirrtheit mit uns umgegangen sind. Wir sind biologisch darauf ausgerichtet, enge fortdauernde Beziehungen zu suchen. Wie können wir also diesem Grundbedürfnis nachgehen, wenn wir in unseren traumatischen Erinnerungen festhängen, die als Endlosschleife in unserem Verstand ablaufen?«
Spoiler: „Trigger“ betrachtet D’Simone übrigens ganz ähnlich – was ich für einen hübschen Gedanken halte, denn was mich triggert, hat ja auch irgendwo eine Wurzel in mir…

Seine größte Stunde hat das Buch meiner Meinung nach dann bei der Gestaltung und Freilegung der jeweiligen „wahrhaftigen“ Ich-Geschichte, die zu uns gehört – in Tateinheit mit der Entdeckung unserer jeweiligen spirituellen „Superpower“.
Wie bereits oben angedeutet, als der Autor von der „eigenen Magie“ spricht, dringt er in einen Bereich vor, den schon der gewaltfreie Kommunizierer Marshall Rosenberg vor einem Vierteljahrhundert aufgegriffen hatte. D’Simone will aber darauf hinaus, daß wir nicht nur „Held in unserem eigenen Film“ sind, sondern tatsächlich aufgrund unserer Einzigartigkeit über in uns gelegte Talente bzw. „Superkräfte“ verfügen, mit denen wir zu einer besseren Welt beitragen können. Hierbei betont er indirekt, daß auf diese Weise eine Beschäftigung mit dem eigenen Selbst durchaus kein bloßer „Selbstzweck“ ist, sondern in der Tat im Zusammenhang mit einem gedeihlichen Einwirken auf ein größeres Ganzes in Einklang steht [ganz ähnlich den Überlegungen des britischen Philosophen Anthony Ashley Cooper, den ich in „Bedeutsame Beziehungen – Teil 3“Eintrag 64 zitiere].

Seine eigene Komfortzone zu verlassen, den eigenen Besenschrank zu verlassen und auf die Suche nach der eigenen bunten Großartigkeit zu gehen, sind damit für den Autor Sah D’Simone keine bloßen queeren Prämissen, sondern überhaupt der Zugang zu gelingendem (Beziehungs)Leben insgesamt.
Indem wir uns darum bemühen, unsere Ängste und Ermangelungen nach und nach zu entlarven, zu verstehen wie sehr wir sie uns in unserem Denken selber zu eigen gemacht haben (sie also quasi in unserem persönlichen Herzensgarten mit dem Verstand gepflegt und gehätschelt haben), gibt es die Chance, diesen „Unkrautsamen“ nach und nach ihre Dominanz wieder zu entziehen. Auf diese Weise kann sich auch der Frieden wieder in unserem Herzensgarten ausbreiten.
Zum Ende seines Buches spricht D’Simone seinen Leser*innen darum zu:
»Egal, wo du bist, mein Schatz: Du bist zugehörig. Wenn der Ort, an dem du dich befindest, nicht dem entspricht, wo du gern sein würdest, dann frag dich, was es hier zu lernen gibt und mach einen Plan für die Zukunft, ohne dich in den Selbstzweifeln deines Verstandes zu verlieren. Wende dich an dein Herz und hör auf die Stimme, die an dich glaubt. […]
Wenn du lernst, dass dein Herz der Ort ist, an dem du schon immer zugehörig warst, und dass du dort ein echtes Zuhause findest, ändert sich alles. Wenn du verstehst, dass hier keine Gefahren lauern und du dich langsam in deinem Körper heimisch fühlst, dann erkennst du auch, dass du hier auf der Erde zugehörig bist; wir sind in dieser menschlichen Erfahrung zugehörig und tief miteinander verbunden.«


Um „Zugehörigkeit“ dreht es sich auch in der Oligoamory seit Eintrag 5. Am Ende von Eintrag 55 schrieb ich ergänzend:
»Eine der großen Herausforderungen von ethischen Mehrfachbeziehungen ist für mich persönlich, unterschiedliche Beziehungen zu führen ohne die anderen Beteiligten dabei zu kompartmentalisieren [in Einzelaspekte aufzuspalten].
Dafür benötigen alle Beteiligte genau diese Neugier und diesen Mut, sich mit ihrer „inneren Unterschiedlichkeit“, also ihren Kontrasten, ihrer Heterogenität, ihren Unregelmäßigkeiten, ihrem Anderssein und ihren Spannungsfeldern kennenlernen zu wollen und zu akzeptieren, so daß genau aus dieser Vielfalt ebenfalls die Zutaten hervorgehen, die aus solch einer Mehrfachbeziehung „mehr als die Summe ihrer Teile“ macht.
Womit eine Mehrfachbeziehung quasi irgendwann ein lebendiges Abbild dieses „Chores unserer eigenen vielfältigen inneren Stimmen“ werden könnte, die jede und jeden von uns zu „uns“ macht…
«

Sah D’Simone: Danke, daß Du mir noch einmal gezeigt hast, warum das so wichtig ist.



Danke an Jason Leung auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 81

Dreh- und Angelpunkt [Scharniere und Flügel – Teil 2]

…wenn man nun gar Scharnier zwischen vier Partner*innen wäre…

In meinem Eintrag letzten Monat habe ich über die wechselhafte Dynamik der vermeintlichen „Mittelposition“ in einer Mehrfachbeziehung geschrieben.
Es ist daher für mich als bLogger interessant zu verfolgen, daß manche Gedankengänge zu Themenschwerpunkten, welche unsere Lebensweise betreffen, dann oftmals überraschenderweise an verschiedenen Orten nahezu zur gleichen Zeit an den Tag treten.
Vielleicht sollte es mich indessen auch nicht zu sehr überraschen, denn manche Fragen drängen bei dem Versuch, eine Lösung für sie zu finden, in ähnliche Bereiche – wenn die Zeit dafür gekommen ist.
So macht seit kurzer Zeit der aus dem US-Amerikanischen Raum übernommene Begriff „Hinge-Blindness“ in den Reihen progressiver Mehrfachbeziehungs-Führer*innen die Runde. „Hinge-Blindness“ oder „Hinge-Blindheit“ bezeichnet konsequent übersetzt die „Blindheit der Angel“ – mithin also eine Blindheit, welche die Person betreffen soll, die sich in einer Mehrfach-Beziehung auf einer Scharnier- bzw. Angelposition befindet (siehe letzter Eintrag: häufig also z.B. die „Mitte“ einer aus drei Personen bestehenden V-Konstellation).

Eingedenk meines letzten Eintrags habe ich zu diesem schönen neuen Symptom selbstverständlich Einiges zu sagen.
Zuvorderst beispielsweise, daß es sich bei so einem Begriff genau eben um die Spezifizierung eines neuen „Symptoms“ handelt. Und Symptome werden normalerweise zugeordnet, um Verursacher*innen herauszustellen. Und da in unserer Kultur „Verursacher*in“ quasi mit „Ursache“/„Auslöser“ synonymisiert wird, ist von dort der Schritt winzig, solche eine Begriffszuschreibung zum verorten von „Schuld“ zu benutzen.
Für Menschen, die unter den vermeintlichen Auswirkungen von „Hinge-Blindheit“ zu leiden haben ist dies ein verständlicher wie auch naheliegender Reflex: Ich leide – und in Folge möchte ich Verantwortlichkeit für dieses Leid benennen (UND diese Verantwortlichkeit liegt ja wohl NICHT BEI MIR! ).
Womit ich schon bei meinem zweiten Kritikpunkt bin: Der Teflonreflex „Jemand anders hat Schuld!“ führt normalerweise selten zur Lösung des Problems, sondern ganz überwiegend tiefer in einen Konflikt – insbesondere in Gruppen, in denen der Personenkreis übersichtlich ist und sich alle Beteiligten kennen (wie z.B. in einer Beziehung…).

Schauen wir uns die sg. „Hinge-Blindheit“ bzw. die ihr nachgesagten Effekte einmal an:
Da ist also eine Person, die sich auf der „Scharnier“-(Mittel-)Position“ zwischen zwei oder mehr Partner*innen befindet. Hauptkriterium der „Hinge-Blindheit“ soll sein, daß die Scharnier-Person aufgrund ihrer eigenen intensiven Gefühle zu den jeweiligen Seiten-(Flügel-)Partner*innen nicht realisiert, daß wiederum diese Seiten/Flügel-Partner*innen zu-, mit- oder untereinander durchaus nicht mit der selben Intensität fühlen bzw. verbunden sind wie es ihrer jeweiligen Bindung an die „Scharnier-Person“ entspricht. Als Folge würde dieser „blinde Fleck“ zu einer Quelle für Mißverständnisse, konflikthafte Reibung, Beschämung, ja sogar mißbräuchlichem Verhalten durch die Scharnier-Person geraten…

Hm.
Das klingt für mich immer noch irgendwie nach „Wenn zwei sich streiten, zeige man auf eine*n Dritte*n“…
Oder es hat für mich stark den Anschein von „Von der Mitte geht Schaden aus – die Mitte soll es daher richten…“. Und beides hat für mich eher einen Geschmack davon, daß „die Mitte“ entweder ein ewig undankbarer „heißer Stuhl“ ist, bei dem die*derjenige zu bemitleiden wäre, die*der sich dort zu halten hätte – oder von einer schon fast untertänig-passiven Bevollmächtigung jener „Mitte“, weil durch deren Führungstalent (oder Mangel davon) jedes Wohl und Wehe der Gesamtbeziehung bedingt wäre.

Insgesamt empfinde ich persönlich diese Interpretation von Stress in einer Mehrfachbeziehung als Versagen der Mitte aufgrund deren zugeschriebener, subjektiven Voreingenommenheit als extrem Oligoamory-fernes Gedankengut. Ja, ich empfinde es auch weitgehend als recht Polyamory-befremdlich.
Warum lassen wir nur immer wieder monogame Einflussgrößen durch die Hintertür in unsere Mehrfachbeziehungen hinein?
Wie jetzt? Hinge-Blindheit ist doch quasi daselbst ein polyamores Superphänomen, welches schon qua Begriff ausschließlich in Mehrfachbeziehungen vorkommen kann – wie soll es da eine „monogame Einflußgröße“ sein?
Schlicht, weil es – wenn wir uns so einer Art zu denken hingeben – es nach wie vor um eine rein dualistische Trennungsrealität¹ von „Richtig“ oder „Falsch“, „Recht haben“ und „im Unrecht sein“ geht. Statt eine Mehrfachbeziehung als das multifacettierte Gebilde – und die große Chance die damit einhergeht – aufzufassen, spielen wir das alte Spiel der Zweiseitigkeit weiter, bei dem es am Ende nur eine Gewinnerposition und eine Verliererposition geben darf.
So richtig vorwurfsvoll kann ich an dieser Stelle gar nicht sein. Wir alle existieren noch immer in einer weitgehend von der Monogamie geprägten Welt – und auch fast alles, was uns vorgelebt wurde und wird, orientiert sich ganz überwiegend an deren Anschauungen. Schon in Eintrag 8 („Beziehungsschach mit dem Zen-Meister“) weise ich darauf hin, daß es durchaus einer Menge Anstrengung bedarf, um vom „Einzelspielermodus“ zu einem „Gruppen-Status“ überzugehen – und das nicht zuletzt unsere Mentalität, innere Haltung und Denkweise dabei recht tüchtig die Kurve nehmen müssten, um vom „einsamen Wolf“ zum Teamplayer zu werden.

Besonders verstörend erscheint mir jedoch an dem Grundprinzip, welches hinter dem Symptom „Hinge-Blindheit“ steckt, daß darin Mehrfachbeziehungen immer noch als eine Art Collage paralleler Einzelbeziehungen der vorgeblichen „Mitte“ („Hinge“) gedacht werden. Und solange wir uns mit diese Art Energie unseren intimen Nahbeziehungen zuwenden, wird niemals zusammenwachsen, was wir uns eigentlich „zusammen“ wünschen.
Hoppla! Habe ich da jetzt so unreflektiert wie das arme blinde Scharnier gedacht?
Nein, ich glaube nicht – und ich glaube auch nicht, daß die meisten oder wenigstens viele Scharniere „blind“ sind.
Ich glaube vielmehr, daß das, was mit „Hinge-Blindheit“ benannt wird, bei den „Scharnieren“ lediglich ein gewisses Maß an sehr menschlichem, blauäugigen Wunschdenken kennzeichnet. Und zwar in einer nahezu altmodisch nostalgischen Form à la „Ich möchte, daß meine Freund*innen am besten auch alle untereinander gute Freund*innen sind…“. Ein harmonieheischender Wunsch, den viele von uns schon aus Kindheit und Schulzeit kennen – ein Wunsch nach Eintracht, Gleichgesinntheit und weitgehender Übereinstimmung – und damit natürlich auch nach Zugehörigkeit und Eingebettetsein.
Das hat aber „damals“ schon nicht wirklich funktioniert – und auch heute können wir es nicht „machen“ – da mögen wir noch so sehr bevollmächtigtes Scharnier sein, vernarrt in unsere Flügelleute („Wings“) und von diesen verehrt.
Genau genommen hat sich nämlich auch nichts verändert: Wenn damals Alex und Ulli sich nicht gegenseitig ausstehen konnten, dann konnte man es ebenso vergessen, sie zusammen zu unserem 13. Geburtstag einzuladen, wie heute Robin und Toni zu unserem 38., wenn die sich nicht grün sind. Damals hätten Versprechungen und Bestechungen nichts gebracht und heute…
…Ach ja: Heute wären doch Robin und Toni beide unsere Wing-Partner*innen mit uns in einer Mehrfachbeziehung!

Und wenn wir da jetzt blind in der Mitte wären, dann möge mir die delikate Frage gestattet sein, wie es gelungen wäre, mit diesen zwei Menschen, die sich ganz offensichtlich so stark ablehnen, daß sie es nicht einmal zusammen ein paar Stunden auf einer Feierlichkeit aushalten, in Liebe und Leidenschaft verpartnert zu sein…?
Haben wir vielleicht doch Pokémon-Poly² gespielt und mehr auf ein diversifiziertes Liebsten-Portfolio zu unserer individuellen Bedürfnisbefriedigung abgezielt – und dadurch eher ein Parallelbeziehungkonstrukt anstatt einer Gesamtbeziehung errichtet?
Dann wird es jetzt schwer, denn dafür, daß sich Robin und Toni nun bei aller Parallelität doch noch „gut finden“ mögen, können wir genau genommen von der Mitte aus rein gar nichts tun. Will heißen: Das blinde Scharnier kann da nichts machen, denn deren wechselseitige Sym- oder Antipathie ist in allererster Linie eine Sache zwischen Robin und Toni.

„Blind“ würde ich, Oligotropos, das Scharnier übrigens in dem Fall nicht wegen seinen zweckoptimistischen Harmonieerwartungen nennen.
Sehr wohl aber „blind“ hinsichtlich der Wahl des Beziehungs-Grundmodells, welches sich nun bestenfalls als „offene-Beziehungen-Netzwerk“ denn als Polyamory darstellt.
Denn selbst Polyamory – so sagt der erste Satz der deutschen Wikipedia im entsprechenden Artikel„…bezeichnet eine Form des Liebeslebens, bei der eine Person mehrere Partner liebt und zu jedem einzelnen eine Liebesbeziehung pflegt, wobei diese Tatsache allen Beteiligten bekannt ist und einvernehmlich gelebt wird.“.
Oho: Einvernehmlich! „Einvernehmlich“ – da wiederum hilft uns Wiktionary aus – heißt übertragen soviel wie „Einigkeit“ oder auch „Übereinstimmung“ und bedeutet „die gleiche Einstellung von Personen zu etwas“. In unserem Fall also auf die gemeinschaftliche Beziehung bezogen, in der ja allen Beteiligten diese Tatsache (also Anteil an einer Mehrfachbeziehung zu haben) bekannt wäre (siehe oben!).

Dies zugrunde gelegt, stellt sich für mich die Frage danach, wer oder was „blind“ ist, in neuem Licht. Zu fragen wäre für mich nämlich, wie es denn um den Status jener „Einvernehmlichkeit“ bestellt ist.
Liegt es eventuell tatsächlich an der „Mitte“, die jedoch durch intransparentes Agieren im eigenen Sinne ihre „Flügelleute“ mit einem hohen Grad an Intransparenz ihrerseits geblendet hat? So daß diese Flügelleute gar nicht in der Lage waren ein informiertes Einverständnis bei vollständiger Kenntnis der Gesamtbeziehungslage zu geben? Leider ist das gar nicht so selten, daß andere existierende oder aufblühende Beziehungen als „ziemlich beste Freunde“, „sehr gute Bekannte“ oder „Ach, das ist so’n on/off-Ding…“ deklariert werden; eitle Nebelkerzen, die nur zu leicht vermitteln, daß es „eigentlich“ gar keine anderen, vollwertigen Flügelpartnerschaften (außer der, wo man gerade jetzt Zeit verbringt) gibt […und nochmals herzlich willkommen im mononormativen Denken!].
Oder war die Mitte doch blind – aber durchaus anders, als es die „Hinge-Blindheit“ klassifizieren will. Nämlich indem genau auf das so wichtige „Einvernehmen“ der Polyamorie nicht sorgfältig geachtet wurde. Die berühmteste (Nicht-)Einvernehmens-Formulierung der Welt ist ja bekanntermaßen „Mach doch was Du willst…!“ (Variante: „Ist Deine Entscheidung…“). Ein eh schon blauäugig zweckoptimistisches Scharnier könnte diese etwas vage gehaltene Ach-rutsch-mir-doch-den-Buckel-runter-Ausdrucksweise womöglich mit etwas überschießender Selbstüberzeugtheit zu tatsächlich erteiltem Einverständnis ummünzen. Und von da an im eigenen Kopf beruhigt sein: „Reinen Tisch? Klar! Hab‘ ich gemacht!“.
In beiden Varianten kommen übrigens sowohl „Angel/Scharnier/Mitte“ als auch „Flügel/Seite“ nicht besonders gut weg. Und das liegt leider an unserer menschlichen Schwäche, in unserem eigenen Sinne Aussagen anderer Personen derart zu interpretieren, daß sich doch (hoffentlich) weitere Nachfragen erübrigen und wir darob den „Stand der Dinge“ für zufriedenstellend geregelt halten.
Was uns allen immer exakt in den Situationen um die Ohren fliegt, in denen uns dann plötzlich der Boden mit Sätzen wie „Ich habe nie gesagt, daß…“ unter den Füßen weggezogen wird… Jaja. Aber wie es WIRKLICH GEMEINT war im ursprünglichen Moment, DAS ist leider auch nie gesagt worden, sondern wurde immer bloß mit viel Ungefähr, einem minimalen Hauch schlechten Gewissen und viel „Wird-schon-schiefgehen-Mentalität“ hochgradig interpretationsfähig insinuiert.

Womit für mich nun auch der letzte Glanz vom Symptom „Hinge-Blindheit“ abgeblättert ist, indem es nun so gar kein Mehrfachbeziehungs-Schlagwort mehr ist, sondern im Kern lediglich ein etwas schales, wohlbekanntes Alltagsphänomen zu Tage tritt, worin wir Menschen uns, wenn es um Verbindlichkeit geht, doch sehr oft nur zu gerne um die anhängige Konkretheit herumdrücken wollen.

Fazit:
Charakteristische „Hinge-Blindheit“ gibt es meines Erachtens nicht. Es gibt nur jene weitverbreitete menschliche Blindheit, durch die, wenn einem bestimmte Konsequenzen eigenen Handelns zu schwer auszuhalten dünken, man zu einer scheinbar leichter zu ertragende Variante der Wirklichkeit übergeht, welche man erst sich selbst und kurze Zeit später allen, die davon betroffen sein könnten, als Tatsache einzureden versucht.
Dazu braucht es weder Mehrfachbeziehungen noch gar Polyamorie als Setting – es handelt sich dabei ganz und gar um ein Phänomen des eigenen Selbstverständnisses.
In meinem vorhergegangenen Eintrag habe ich darüber hinaus dargelegt, warum die Zuordnung der Positionen von „Mitte“ („Hinge“) und „Seite“ („Wing“) keineswegs so klar sind, wie sie oberflächlich betrachtet erscheinen können. Auch daraus geht für mich bereits hervor, daß bei dem Verdacht auf „Blindheit“ in einem Mehrfachbeziehungs-Netzwerk sehr genau ergründet werden müsste, a) worin dieser blinde Fleck bestünde und b) wer bzw. wie viele Personen eigentlich davon betroffen wären.
Als „Schuldzuschiebung“ empfinde ich den gesamten Begriffskomplex so überflüssig wie fehl am Platz, da ja bekanntlich, wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, vier Finger unversehens zurück auf einen selbst verweisen…

Ungeachtet dessen habe ich in diesem Eintrag heute drei der grundlegendsten Werte der Polyamorie wie auch der Oligoamory erwähnt. Diese sind: Einvernehmlichkeit, Transparenz und Verbindlichkeit.
Meinen Eintrag 44, in dem ich davon spreche, warum es zum Gelingen von Mehrfachbeziehungen wirklich wichtig ist, seine Freunde bzw. Partner*innen als ganze Menschen und Persönlichkeiten zu lieben, habe ich quasi auf diesen drei Werten aufgebaut, da sie die unabdingbaren Zutaten für das wichtigste Gut in allen unseren intimen Nahbeziehungen sind: Vertrauen.
Warum es „ohne“ nicht geht, erkennen wir sofort, wenn wir die drei Begriffe in ihre Antonyme (=gegensätzliche Bedeutung) drehen: Unstimmigkeit, Verschleierung (Intransparenz) und Unverbindlichkeit. Haben diese drei apokalytischen Reiter erst begonnen in unseren Beziehungen herumzustrolchen, wird sich darin niemand mehr richtig wohl fühlen. Noch mehr: Auf diese Weise wird sich niemals ein „gemeinsames Wir“ einfinden, welches genau den Unterschied zwischen dem oben erwähnten „ Parallelbeziehungkonstrukt“ und einer echten Gesamtbeziehung ausmacht.
Poly- und Oligoamory wird es immer (erst) dann, wenn wirklich alle Beteiligten komplett an Bord sind, mit ganzem Wissen, vollem Willen und ganzem Herzen.
Das ist keine Versicherung gegen angelegentliche Blindheit, wie sie uns alle mal überkommt. Aber eine der besten Absicherungen für einen solchen Fall, daß dadurch nicht gleich alle anhängig Beteiligten mit in den Abgrund gerissen werden und genug freundliche Augen und Hände da sind, ein schwieriges Stück Wegstrecke gemeinschaftlich zu meistern.



¹ Die Beschreibung „Trennungsrealität“ für unsere vorwiegend alltäglich-unbewußte Art unser Leben zu führen stammt von dem Autor Daniel Hess, dessen Gedankengänge (und Gegenvorstellung) dazu in Eintrag 26 ausführlich zu Wort kommen.

² „Pokémon-Poly“ – und was es bedeutet – wird von mir in Eintrag 2 beschrieben.

Danke an Kiraan p auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 80

Wenn Du in der Mitte der Dinge bist, gerätst Du schon mal anderen in den Weg…¹
[Scharniere und Flügel – Teil 1]

Ich könnte vielleicht sogar etwas spitzfindig reimen:
»Ist’s Polykül auch noch so klein, eine*r muß die Mitte sein…«.
Polykül?
Mitte?
Und was oder wer sind dann die „anderen“?

© Tikva Wolf auf TikvaWolf.com (Kimchi Cuddles)

Das Wort „Polykül“ ist im polyamoren Sprachgebrauch erstmals im Jahr 2007 aufgetaucht, als jemand feststellte, daß manche Mehrfachbeziehungsstrukturen – insbesondere z.B. wenn man sie zur Veranschaulichung dieser netzwerkartigen Verbindungen aufmalt – eine gewisse Ähnlichkeit mit Molekülen haben. Das Bild ist in sofern überaus passend, als daß sowohl bei Molekülen als auch bei polyamoren Beziehungen mit mehreren Lieblingsmenschen sowohl kleine, große, langkettige, kompakte oder sogar eher ringförmig gruppierte Gebilde entstehen können.
In diesem Sinne haben manche dieser Verbindungen auch keine wirkliche „Mitte“ (…wer oder was wäre die „Mitte“ von z.B. vier Personen…?) – und doch… Dazu komme ich gleich.

Das wunderbare und faszinierende an der Poly- und ebenfalls an der Oligoamory ist, daß es darin keinen „Meister-Bauplan“ für eine Beziehungskonstellation gibt. Jede beteilige Person wäre – um im Bild zu bleiben – quasi ein Atom mit beliebig vielen freien Steckplätzen für potentielle weitere Verbindungen.
Ok, in Eintrag 12 habe ich für die Oligoamory bereits etwas einschränkend beschrieben, warum ich persönlich glaube, daß dies nicht „unendlich“ oder „beliebig“ viele freie Plätze wären.

Polyküle können dadurch auf verschiedene Weise entstehen. Die einfachste (und meiner Lebenserfahrung nach häufigste) Art ist, wenn da irgendwo eine Person existiert, die eines Tages Liebe zu zwei anderen Personen zugleich empfindet – und schon ist ein erstes Mini-Polykül mit „Zentralatom“ und V-förmiger Verbindung zu zwei anderen „Atomen“ entstanden. Diese beiden „anderen Atome“ müssen dadurch nicht notwendigerweise nun auch eine Beziehung miteinander eingehen, so daß eine Art „Dreieck“ entstehen würde. Aber für gelingende Polyamorie wäre es mittelfristig günstig, wenn es dennoch eine Art „Wechselwirkung“ zwischen diesen beiden „Atomen“ gäbe, die ich gerne als „allgemeines Wohlwollen“ oder wenigstens als „gegenseitige Akzeptanz“ beschreibe.
Manchmal wiederum bilden sich Gruppenkonstellationen aber auch überraschend dadurch, daß sich mehrere Menschen auf einmal gleichzeitig „richtig gut“ finden – so können Dreier, Vierer oder noch größere Kerngruppen entstehen, in denen quasi alle Beteiligten mit allen eine Form von Bindung haben – dies ist mit zunehmender Größe einer Gruppe aber doch eher immer unwahrscheinlicher.
Gar nicht unwahrscheinlich ist aber die Möglichkeit, daß irgendwann einmal Menschen, die bereits Teil einer eigenen Mehrfachpartnerschaft sind, mit einer weiteren Person, die wiederum selbst Teil einer anderen Mehrfachpartnerschaft ist, anbandeln. Und über diese „Brückenbindung“ wachsen zwei Polyküle zu einem längerkettigen Polykül zusammen. Sollte durch diese Verbindung nun die Faszination für die übrigen Beteiligten in den bereits vorhandenen Ursprungsgruppen aufeinander überspringen, so könnte es sein, daß sich die Polyküle noch über weitere Personenverbindungen enger aneinanderschließen – der Weg zu ersten „ringartigen“ Strukturen wäre eingeschlagen…

So hübsch und verwirrend (darum malt man so etwas auch wirklich besser mal ausführlich auf die Papierserviette einer allzu neugierigen Cousine…) dies alles ist und sein kann – darauf wollte ich heute nur als Einstieg hinaus.
Denn zur Vereinfachung könnte man ja nun auch in der Welt der Mehrfachbeziehungen sagen: Für ein „Atom“ gibt es doch eigentlich nur zwei Zustände – entweder eine Person ist gerade Teil mehrerer Beziehungen und somit irgendwo „in der Mitte“ – oder sie hat gerade nur eine Beziehung zu just einem weiteren Menschen und ist damit gewissermaßen „an einer Seite“.
Dies wird unter poly- und oligoamor eingebundenen Menschen auch genauso gesehen – im angloamerikanischen Sprachraum haben sich dafür bereits eigenständige Begriffe gebildet, die ähnlich ins Deutsche übernommen wurden: Personen, die gerade nur eine Verbindung zu einem Menschen mit mehreren Beziehungen haben, werden „wingpartner“ – also Flügelpartner*in – genannt; Personen, die gerade mit mehreren anderen Menschen in Beziehung sind, werden ob ihrer Position als „hingepartner“ (=Scharnierpartner*in) oder „pivotpartner“ (=Angelpartner*in) genannt [etwa so wie bei einem Möbelscharnier oder einer Türangel, die mindestens zwei andere Teile um sich herum beweglich halten].
Um es kompliziert zu machen, können natürlich auch „Scharnierpartner*innen“ zugleich „Flügelpartner*innen“ sein, wenn nämlich deren Partner*innen sich ihrerseits wieder in Beziehung zu weiteren Personen befinden; Beziehungen also, bei denen sie selbst lediglich „der Flügel“ wären…

Und durch diese zusätzliche Verkomplizierung wären wir endlich bei meinem heutigen Thema.
Denn selbst wenn wir unsere Mehrfachbeziehungen aufmalen würden – so weitläufig oder auch klein sie seien –, eine klare Zuordnung „wer“ denn nun „Flügel“ oder „Mitte“, „wing“ oder „pivot“ wäre, gäbe es nur auf dem Papier.
Ferner könnte man mir ja geradewegs vorhalten, warum dies ausgerechnet ein „oligoamores“ Thema sein sollte, wo ich hier doch andauernd von Personenverbindungen mit buchstäblich „wenigen“ Beteiligten schreiben würde – so viele „Seiten“ oder „Mitten“ gäbe es da doch gar nicht…

Das grüne Leben indessen zeigt sich facettenreich.
Von außen – insbesondere von Menschen, die nicht polyamor leben – scheint die „Mittelposition“ überwiegend als manifestierter Traum wahrgenommen zu werden: In der Mitte, geschätzt, begehrt und gehätschelt von mehreren Seiten, im Zentrum des Interesses und schon dadurch Genießer*in zahlreicher Aufmerksamkeiten…
Im Gegensatz dazu widmet die Mehrzahl polyamorer Ratgeberbücher oft mindestens ein ganzes Kapitel dieser namhaften „Mittelposition“ – und zwar meist mit vielerlei Empfehlungen und Hinweisen, wie es zu schaffen ist, die dortigen Herausforderungen einigermaßen gut zu bestehen.

Mehrfachbeziehungen bilden nämlich häufig das Aufeinandertreffen vieler verschiedener Bedürfnisse ab. Wo ist dieses Spannungsfeld im Konfliktfall am größten? Wahrscheinlich in der Mitte… Und sofort ist es die „Angel“ – um die sich eben noch alles wohlwollend zu drehen schien – an der nun die größten Fliehkräfte auftreten, weil unterschiedliche Wünsche und/oder Erfordernisse in verschiedenen Richtungen ziehen.
Meiner Meinung nach zeigt sich aber bereits an diesem sehr häufig auftretenden Beispiel, daß in einer Mehrpersonen-Konstellation die oben so ausführlich klassifizierte „Mitte“ überhaupt nicht festgelegt ist. Denn das Gefühl, was die Bedürfnisse der anderen Beziehungsbeteiligten angeht, „das Gewicht der Welt (nur) auf den eigenen Schultern zu spüren“, das kann einen in jeder Position erwischen – an der Seite oder im Zentrum.

Gerade wenn z.B. exakt dieses Gefühl der „negativen Mitte“ aufkommt – quasi als wäre man selbst der tiefste Punkt irgendeines Geschehens in der Beziehung, auf den nun von allen Seiten die volle Last zugerutscht kommt – ist es günstig innezuhalten und sich zu fragen, ob man denn in dieser Eigenschaft eigentlich gerade wirklich auch „die Mitte“ ist.
Man braucht nämlich nicht poly- oder oligoamor zu sein, um die „Last der Welt auf den Schultern zu spüren“. Denn vielfach stellt sich dieser Eindruck bereits ein, wenn wir uns selbst für Dinge zuständig erklären, die bei anderer Betrachtung gar nicht die unsrigen sind.
Oder in einer Beziehung: Die nicht uns (allein) betreffen.
Gerade in ethischen Mehrfachbeziehungen sehe ich hier eine gewisse Gefahr des „Übererfüllens“ mit dem man sich und den anderen einen Bärendienst erweist. Ich habe hier in zahlreichen Einträgen über Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit geschrieben, so daß es schnell so erscheinen könnte, als ob das Gesamtwohl und -wehe einer Beziehung wie ein Mühlstein um den Hals jedes und jeder einzelnen Beteiligten hängen würde. Und daß in dem Sinne das „schwache Glied“ (oder Atom…) einer Mehrfach-Verbindung im Scheiternsfall mit der eigenen Unlänglichkeit, dem sich-nicht-verbissen-genug-bemüht-Haben, für den Zusammenbruch des Ganzen einzustehen hätte.
Aber so ist Oligoamory nicht gemeint. Eine Gesamtbeziehung und ein Gesamtwohl benötigen Gesamtverantwortung. Und die tragen immer alle zusammen – egal ob gerade „Mitte“ oder „Flügel“.

Wie unklar die Zuordnung einer „definierten Mitte“ einer Beziehung ist, stellt sich sehr oft auch bei dem beliebten Beispiel der so gern geübten „Dreieckskommunikation“ dar. Dazu braucht es nicht bloß drei Leute (das können leicht auch mehr sein) – und im Volksmund wird es schlicht als „reden über…“ bezeichnet. Die Verführung zu solch mißlungener Gesprächskultur ist seit dem Zeitalter sozialer Netzwerke und Messengerdienste noch einmal immens höher geworden.
Natürlich ist es vermutlich höchst menschlich, daß auch innerhalb einer Beziehung „übereinander“ geredet wird. Und da hoffentlich unsere Beziehungspartner*innen auch unsere nächsten Vertrauten sind, denen wir uns buchstäblich mit all unseren alltäglichen Nöten „anvertrauen“ wollen, ist es auch verständlich, wenn wir sie gewissermaßen als unsere „Verbündeten“ und in gewissem Maße auch als unsere „Seelsorger*innen“ sehen. Durch die indirekte Dreieckskommunikation aber spielen wir innerhalb enger Beziehungsnetzwerke sehr schnell eine*n unsere*r Verbündeten gegen eine*n anderen aus – und das kann nicht gut gehen.
Dazu ergänzt der Polyamorie-bLog Mehrfachzucker ²:
»Den Konflikt zu einer anderen Person zu tragen wird höchstwahrscheinlich obendrein die Beziehung zwischen der dritten Person und der Person, um die es eigentlich geht schädigen. Der eigentliche Konflikt wird dabei nicht gelöst, sondern ausgelagert und oftmals sogar verstärkt. Außerdem haben auch die Partner*innen unserer Partner*innen ein Recht auf eigene Privatsphäre. Besprecht also vorher, was weiter getragen werden darf und was nicht. Dreieckskommunikation ist tückisch und führt zu zahlreichen Problemen. Verlagerung von Verantwortlichkeiten, Erschaffung neuer Konflikte und verletztes Vertrauen sind dabei nur einige wenige Beispiele. Dreieckskommunikation geschieht schnell und schleichend zugleich.«
Letzteres will heißen: Wie schnell wird schon Dritten etwas aus der Situation heraus emotional ins Mobilteil getippt, was gerade noch laut am Tisch kontrovers diskutiert wird. Wir machen so unsere übrigen Lieblingsmenschen zu „Gefangenen“, bei denen es nur noch darum geht, sie als „Zustimm-Vieh“ so schnell, wie möglich ins „eigene Lager“ zu bekommen…

Eine ähnlich unangenehme Seite-Mitte-Seite-Variante der Dreieckskommunikation ist übrigens auch das Ausspielen eigener Partner*innen oder Partner*innen von Partner*innen gegeneinander: „XYZ hat da und damit dafür gesorgt, daß ich so und so gehandelt habe…“. Auf diese Weise wird sich nämlich gerne der Verantwortlichkeit für eigene Entscheidungen entledigt, indem die Ursächlichkeit auf jemanden anders aus der Gesamtbeziehung abgewälzt wird. Man „konnte“ quasi gar nicht mehr anders handeln. Ich habe mich leider selbst schon dabei ertappt, auf solch unerträgliche Art zu argumentieren, speziell um vor mir selbst die Unüberlegtheit mancher Handlungen zu rechtfertigen. Für unsere Lieblingsmenschen muß so eine Zurechnungsverschiebung noch unerträglicher auszuhalten sein.

Einem der in meinen Augen heikelsten Phänomene haben die Autoren Franklin Veaux und Eve Rickert in ihrem Grundlagenbuch „More Than Two“ ³ folgenden Text gewidmet – er beschreibt, was geschieht, wenn „Flügel“ und „Mitten“ beginnen unnachgiebig gegeneinander aufzurechnen:
»„Das ist nicht fair!“ Bis zu einem gewissen Alter hören wir diese Aussage ständig. Ab einem gewissen Alter wird unser Blick weiter, und wir lernen, dass Fairness am besten auf einer allgemeinen und nicht auf einer persönlichen Ebene funktioniert. Wenn du gestern Abend den Abwasch gemacht hast und heute deine Schwester an der Reihe ist, die aber nicht abwäscht, weil sie gerade von einer Zahnoperation zurück ist, mag dir das aus einer rein egoistischen Perspektive unfair erscheinen… aber würdest du wirklich mit ihr tauschen wollen? Und wenn du derjenige wärst, der gerade eine Wurzelbehandlung hinter sich hat, wärst du dann nicht froh, wenn du heute Abend nicht abwaschen müsstest? Manchmal gebietet es das Mitgefühl, einen starren Lebensplan zu ändern.
Wenn wir erwachsen sind, haben wir das ziemlich gut herausgefunden. Oder wir haben einfach der Erschöpfung nachgegeben und aufgehört, uns so viele Gedanken darüber zu machen, was auf einer so detaillierten Ebene „fair“ ist. Doch in Beziehungen, vor allem in polyamoren Beziehungen, dringen die kleinen Einflüsterungen unseres fünfjährigen Ichs durch und sagen: „Das ist nicht fair!“, wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir es erwarten. Selbst wenn wir nicht über unsere Erwartungen sprechen. Selbst wenn wir wissen, dass unsere Erwartungen albern sind. Verdammt, manchmal sogar, wenn das, was passiert, nicht nur fair, sondern auch hervorragend ist. Wenn du mehrere Partner*innen unter einen Hut zu bringen versuchst, wirst du dieses Motto mit Sicherheit irgendwann hören. Die Worte mögen sich ändern, aber die Bedeutung ist vorhersehbar konstant: „Das ist nicht fair!“
Im Umgang mit Menschen müssen Fragen der „Fairness“ manchmal ganz aus dem Fenster geworfen werden. Menschen verändern sich und Bedürfnisse ändern sich, aber oft bleiben unsere Vorstellungen davon, was „fair“ ist, statisch, so tief vergraben, dass wir uns ihrer nicht einmal bewusst sind
(„Innere Autobahnen“ im Eifersuchts-Eintrag 36). Die Fairness, auf die es in Beziehungen ankommt, ist nicht Gleichmacherei. Manchmal führt ein fairer Ansatz dadurch sogar zu einer Situation, die ausgesprochen unfair ist […]: Gleichstand ist nicht dasselbe wie Fairness.
Die Art von Fairness, die wirklich zählt, ist die Art, die mit Mitgefühl beginnt. Fairness bedeutet, Dinge zu sagen wie: „Mir ist klar, dass meine Unsicherheit zu mir gehört, also werde ich sie nicht als plumpes Werkzeug gegen dich einsetzen und auch nicht von dir erwarten, dass du dein Leben danach ausrichtest. Ich kann dich jedoch bitten, mit mir im Gespräch zu bleiben, während ich mich damit befasse“.
Das ist nicht die Art von Fairness, die unser*e innere*r Fünfjährige*r versteht; er/sie/es ist viel eher darüber besorgt, dass jemand anderes etwas bekommt, was er nicht hat, oder wie er etwas zu einem niedrigeren „Preis“ bekommen könnte, als er dafür bezahlen müsste
(Neid-Eintrag 59). Letzten Endes wird unser*e geistige*r Fünfjährige*r unser Leben aber nicht verbessern, egal wie viel Spektakel er/sie/es macht.«

Indem unsere (Mehrfach)Beziehungen also gerade keine statischen Gebilde sind (dazu Scott Peck in Eintrag 8 und in Eintrag 79), werden wir uns darin regelmäßig (auch bei kleiner Personenzahl!) auf allen „Positionen“ wiederfinden: In der Mitte als „Scharnier“ bzw. „Angel“ – oder an der Seite als „Flügel“. Unsere menschliche Ambivalenz wird uns darüber hinaus immer mal wieder aus eigenem Antrieb in die Mitte drängen lassen – und auch wieder zu einer Flügelposition hin bewegen.
Mehr oder weniger gleichzeitig werden wir dadurch also auch oftmals parallel „(An)Ziehende“ und „(An)Gezogene“, „Drückende“ und „Bedrückte“ sein. Ebenso wie wir ja auch allezeit zugleich sowohl „Genießende“ als auch „Beitragende“, „Unterstützte“ und „Unterstützende“, „Liebende“ und „Geliebte“ sind.
Wichtig ist – und darin stimme ich mit F.Veaux und E. Rickert oben überein – daß wir daher kontinuierlich auf allen Positionen bereit sind, unserem Mitgefühl eine wichtige, vielleicht sogar die wichtigste Stimme zu geben.
Gelingt uns das, geraten wir einander weit weniger in den Weg, vielmehr werden unsere Beziehungen dann – um es mit dem persischen Sufi-Mystiker Rumi zu sagen – „Orte jenseits von richtig und falsch“.
Dort treffen wir uns.



¹ Übertragung des angloamerikanischen Sprichworts „If you are at the centre of things – you might get in anybody’s way…“

² Mehrfachzuckerblog: Dreieckskommunikation – Sich über Ecken im Kreis drehen

³ Das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014.

Danke an Tikva Wolf (Autorin der beliebten Kimchi Cuddles-Polyamorie-Comics) und die höchstpersönliche Erlaubnis für die Verwendung des Bildmaterials auf meinem bLog (sämtliche Rechte bei der Zeichnerin!)
und Dank an Terry Vlisidis auf Unsplash für das Molekül-Foto.

Eintrag 79

…doch der Segen kommt von oben.

Wenn die Oligoamory ein Baum wäre, dann hätte sie verschiedene „Wurzeln“.
Die Hauptwurzel ist ganz sicher die Polyamory, von der meine „Oligo-Amory“ ja gewissermaßen ein Ableger ist.
Die Polyamory, als eine Erscheinungsform der Non-Monogamie (Link leider nur Englisch! ) bietet ein Modell an, worin auf verbindliche Weise nicht-exklusive Liebesbeziehungen zu mehr als lediglich einer Person möglich sein können. Womit „Non-Monogamie“ quasi ebenfalls zu den Wurzeln der Oligoamory zählt, allein schon, weil diese überhaupt die gedankliche Freiheit einräumt, einem Streben nach mehr als einer intimen Beziehung im Leben nachzugeben.
Die Polyamory wiederum, die sich in der großen Gruppe nicht-monogamer Beziehungen mit dem Zusatz „ethische Mehrfachbeziehungen“ auszeichnet, möchte ihrerseits darauf hinwirken, daß solche Mehrfachbeziehungen verantwortlich, einvernehmlich und transparent – also mit größtmöglicher (Gleich)Berechtigung – und vor allem mit dem Wissen und der Zustimmung aller Beteiligten eingegangen werden.
Alle Werte, die in dieser Hinsicht in der Polyamory gelten, sind also in jedem Fall auch für die Oligoamory maßgeblich.

Eine weitere wichtige „Wurzel“ der Oligoamory ist der Gemeinschaftsbildungsprozess, wie er vor allem von dem US-amerikanischen Psychiater und Autor Scott Peck etabliert wurde¹ – und der für viele Zusammenlebensformen wie z.B. Ökodörfer, Wohnprojekte und Lebensgemeinschaften grundlegend geworden ist. Kern der Gemeinschaftsbildung ist ein sehr integratives und inklusives Denken, welches maßgeblich auf ein „gemeinsames Ganzes“ mit einem „Wir-Gefühl“ im Zentrum zielt. Das Beschreiben als „Prozess“ ist hier der beabsichtigte Hinweis, daß es bei dieser Form des Miteinanders nie einen „endgültigen“ oder „fertigen“ Zustand geben wird, sondern daß es sich dabei um eine Herangehensweise handelt, die von den Beteiligten immer wieder aufgesucht und aktuellen Entwicklungen gemäß weiter angepaßt und gestaltet wird.

Die Oligoamory wäre allerdings auch nicht die „Oligo“-Amory (mit dem Präfix „oligo-“, welches ja von dem altgriechischen Wörtchen ὀλίγος olígos „wenig“ stammt), wenn sie nicht auch eine Lebens- und Liebensforms nahelegen würde, die eher auf einen überschaubaren Kreis von Beteiligten hinaus möchte. Und in dieser Eigenschaft sind Wurzeln in der Oligoamory enthalten, die u.a. aus Bedürfnissen der Hochsensibilität hervorgehen, wie sie von der US-amerikanischen Psychologin Elaine Aron formuliert wurden.
Da ich als Autor dieses bLogs mich selbst als hochsensibel beschreibe, habe ich für mich herausgefunden, daß eine hohe Fürsorge hinsichtlich der Qualität (vor Quantität!) meiner Sozialbeziehungen der Beschaffenheit und der Relevanz derselben außerordentlich zu Gute kommen, insbesondere was Kohärenz, Berechenbarkeit und Innigkeit angehen.

Da ich über die Hochsensibilität persönlich sehr stark mit den vielfältigen Übergängen hinsichtlich Nuancen, Facetten und Schattierungen der Welt und meines gesamten Daseins konfrontiert bin, die sich natürlicherseits eher selten reiner Einordnung von „entweder…oder“ unterwerfen, war ich – neben der Polyamory – ebenfalls von dem Ansatz der Beziehungsanarchie fasziniert, die so ebenfalls zu einer Wurzel der Oligoamory geworden ist.
Diese Beziehungsphilosophie, die erstmals von der schwedischen Journalistin Andie Nordgren formuliert wurde, lehnt künstliche bzw. ausschließlich sozial tradierte Kategorienbildung zur Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen ab.
Ob eine andere menschliche Person für mich beste*r Freund*in, Liebste*r, Gefährt*in, Bekannte*r, Lieblingsmensch, Partner*in oder was auch immer ist – dies alles ist gemäß der Anschauung der Beziehungsanarchie allein Vereinbarungssache der an der jeweiligen Beziehung Beteiligten. Ebenso ist es lediglich Vereinbarungssache jener Beteiligten „was“ – also quasi „welche Füllung“ – den Inhalt dieses individuellen Binnenverhältnisses dann ausmacht. Sei dies platonische Freundschaft, die Widmung zu einem verbindenden Hobby oder einem anderen Engagement, Seelenverwandtschaft, Bestreiten eines gemeinsamen Alltags, eine Wochenendbeziehung, Sexualität, alles davon zusammen oder welche Mischung noch ganz anderer Merkmale auch immer – all dies bildet einen Möglichkeitenspielraum ab, der schwerlich mit einem konkreten Begriff zu fassen ist, sondern vielmehr von den Teilhabenden beschrieben werden müsste, sollten sie gefragt werden, welcher Art Natur ihre Beziehung zueinander denn hätte.
Somit ist es ebenfalls Teil der Beziehungsanarchie (Stichwort „herrschaftsfrei Lieben“), daß aufgrund der freien Verhandelbarkeit, welche ausschließlich die Beteiligten der Beziehung angeht, keine äußeren Regeln oder Grenzen angelegt werden, was z.B. „nur“ zwischen Freunden, „lediglich“ zwischen Liebsten oder „ausschließlich“ zwischen Intimpartnern möglich und/oder sozial akzeptabel sein kann.
Exakt diese Kategorienlosigkeit und Freiheit der Vereinbarung sind ebenfalls Teil der Oligoamory, die sich in diesem Aspekt gut mit dem nonkonformen und queeren Erbe der Polyamory (siehe Eintrag 50) verbinden.

Wenn ich meine Oligoamory beschreibe, fallen mir meist noch zwei weitere wesentliche Wurzeln ein:
Zum einen ist dies Romantik. Dazu beschreibe ich bereits in Eintrag 34, daß ich das sogenannte (und als Topos der fiktionalen Erzählung geradezu schon fast archetypische) „Selbstopfer“ für ein Kernmotiv der Romantik halte. Was jedoch in Mythen, Romanen und Erzählungen manchmal so dramatisch daherkommt, hat für mich in der Oligoamory eine ganz handfeste, alltägliche Erscheinungsform: Den Willen, für die anderen Beteiligten in einer Beziehung über den eigenen „Dunstkreis“ hinaus den berühmten „extra Meter“ weiter zu gehen. Sicherlich erkennen wir an dieser Stelle darin auch den Gemeinschaftsbildungsprozeß von Scott Peck, worin ohne solches uneigennütziges Denken niemals ein „gemeinsames Wir“ erreichbar wäre.
Gleichzeitig steckt für mich darin aber auch ein Teil dessen, was die humanistischen Psychologen Carl Rogers und Abraham Maslow als Teil der „Selbst-Verwirklichung“ bezeichneten. Ich nenne diesen Teil manchmal etwas humorvoll „Komfortzonenstretching“.
Insbesondere in unseren allernächsten zwischenmenschlichen Beziehungen – solchen familiärer Natur, aber eben auch gerade den „selbstgewählten“ – werden wir doch am regelmäßigsten mit dem konfrontiert, was der kanadische Psychologe (und Vater der sozial-kognitiven Lerntheorie) Albert Bandura Selbstwirksamkeitserwartung nannte. Und damit meine ich all jene Situationen, wo wir mit Umständen, Motivationen, Gefühlen und Handlungen konfrontiert werden, bei denen wir uns unwillkürlich fragen „Kann ich das schaffen?“ – und wo wir uns dem, was dann darauf folgt, stellen müssen. Der natürliche Reflex des „inneren Schweinehunds“ wäre natürlich, solcherlei Herausforderungen möglichst flott den Rücken zu kehren, aus einem „Nein, ich kann das (vielleicht) nicht.“ ein „Nein, ich will das gar nicht!“ zu machen und auf diese Weise innerhalb unserer Komfortzone zu bleiben. Womit wir uns aber prompt die Chance zu weiterer „Selbst-Verwirklichung“ selber genommen hätten…
Jedes mal jedoch, wenn unsere allernächsten Mitmenschen, Freund*innen, Liebste, Gefährt*innen, Bekannte, Lieblingsmenschen und Partner*innen es uns Wert waren, unsere Komfortzone mit der Überzeugung „Ich kann das (doch)!“ zu verlassen, sind wir selbst wieder ein Stück selbstwirksamer geworden – und damit zugleich ein kleines Stückchen mehr „eine noch bessere Version unserer selbst“.
Wenn es im romantischen Narrativ also heißt, daß da ein*e Held*in den „Weg des größtmöglichen Mutes“ beschreitet, dann ist es vor allem das, was damit gemeint ist: Um der anderen willen wachsen wir an uns selbst. Romantischer kann es in der Oligoamory nahezu nicht mehr werden…

Zum anderen bleibt mir noch Idealismus aufzuzählen, und Idealismus geht – ok, das war zu erahnen – ganz sicher auch mit Romantik Hand in Hand. Selbst die deutschsprachige Wikipedia meint, daß „im alltäglichen Sprachgebrauch Idealismus z.B. eine altruistische, selbstlose Haltung bezeichnet“. Die gleiche Wikipedia meint aber auch, daß Idealismus „hervorhebt, dass die Wirklichkeit in radikaler Weise durch Erkenntnis und Denken bestimmt ist“ (und wer wäre ich als Beziehungsphilosoph da zu widersprechen…!).
Wenn ich hinsichtlich der Oligoamory von Idealismus spreche, dann meine ich hier hauptsächlich den unübertrefflich durch den tschechischen Dramatiker, Essayisten, Menschenrechtler und Politiker Václav Havel ausgedrückten Aspekt in seinen Worten »Hoffnung ist nicht die Überzeugung dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.« [erstmals zitiert in Eintrag 61]
Denn wenn der Psychiater Scott Peck Recht hat (und aller Wahrscheinlichkeit nach hat er das), daß unsere menschlichen Nahbeziehungen niemals abgeschlossene Gebilde sondern all die Dauer ihrer Existenz hindurch offene, sich organisch entwickelnde, stets erneut aufzusuchende Prozesse sind, dann entziehen sich diese schon aufgrund dieser Natur jeder Leistungsbewertung von „gut“ oder „schlecht“. Und sollten wir als Beteiligte versuchen, uns einem solchen Diktat von Leistungskriterien in unserer Beziehungsgestaltung zu unterwerfen, dann kämen wir in unserer guten Maslowschen Selbstverwirklichung und Selbstwirksamkeit wohl kaum auf einen grünen Zweig.
Idealismus aber stellt (wie Wikipedia besagt) die Frage nach möglichem Sinn und nach Erkenntnis. Und Václav Havel spricht uns zu, daß dies durchaus sehr gut auch innerhalb von Prozessen möglich ist, selbst, wenn diese gar kein „Ende“ im klassischen Leistungssinne aufweisen. Mit Albert Bandura ermutigt er uns vielmehr, unsere Motivationen, Gefühle und Handlungen immer wieder in der Weise an unseren Werten und Überzeugungen auszurichten, so daß diese uns als eine Art Leitstern aus unserer Komfortzone herauslocken: „Ich kann das!“.
Die sozial-kognitive Lerntheorie Banduras verheißt uns also – insbesondere im Hinblick auf uns, die wir Mehrfachbeziehungen anstreben – daß unser Selbstwertgefühl wachsen wird, je mehr soziale Rollen wir uns zutrauen. Ja, noch mehr: Da „Selbstwertgefühl“ ja bedeutet „selbst etwas wert zu sein“, daß wir uns durch unsere sozialen Rollen in Beziehungen selbst regelmäßig „als wertvoll empfinden“.

Heute habe ich also noch einmal die wichtigsten Wurzeln der Oligoamory beschrieben. Und im Vorfeld dieses Artikels habe ich über diese nachgedacht und festgestellt, daß für mich doch eine weitere Komponente noch fehlt.
Ich könnte mir ja jetzt die perfekte oligoamore Beziehung vorstellen. Sie wäre im Kern polyamor, in einem fortwährenden Gemeinschaftsbildungsprozeß, sie hätte eine hohe Qualitäts- und Selbstfürsorge im Sinne der Hochsensibilität, sie wäre kategorienfrei und sowohl romantisch-altruistisch als auch selbstverwirklichend-idealistisch.
Wäre dies alles gegeben, würde auch ich sagen, daß dies durchaus eine gute (Mehrfach)Beziehung beschreiben würde – und doch…

So wie ich hier heute sitze wünsche ich Euch, daß Ihr zu diesen Zutaten noch über eine weitere verfügt, die ich heute schlicht und unspezifisch Spiritualität nennen möchte.
„Spiritualität“, sagt die deutsche Wikipedia, „ist die Suche, die Hinwendung, die unmittelbare Anschauung oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt“. Wikipedia nennt als Bestandteile der Spiritualität ferner „Sinn- und Wertefragen des Daseins“, „Erfahrungen der Ganzheit der Welt“ sowie „Verbundenheit mit der eigenen Existenz“.
Und ich glaube ohne diese letzteren drei Impulse könnten wir eine nach oligoamoren Maßstäben durchaus recht vollkommene Beziehung haben – aber unser Herz würde darin doch eventuell etwas klamm bleiben.

Vielleicht liegt es bei mir daran, daß ich eine rein verstandesbasierte Ethik als alleinige Grundlage für mich nicht als ausreichend erachte.
Vielleicht liegt es daran, daß ich für mich konstatiere, daß ich zur Zeit immerhin noch in einer Welt existiere, in der die Wissenschaft noch lange nicht auf alle Fragen eine konkludente Antwort gefunden hat, sondern in der sogar die klügsten Köpfe mit Ehrfurcht im Blick bestätigen, daß jeder just zufriedenstellend beantwortete Zusammenhang augenblicklich ein fröhliches Völkchen weiterer und tiefergehenderer Fragen im Gepäck hat…
Wahrscheinlich ist es bei mir aber vor allem so, wie es Friedrich Schiller mit seinem Lied von der Glocke erging, dessen eine Zeile mir meine Überschrift zu diesem Eintrag geliefert hat. Und dahingehend wird es vermutlich kein Wunder sein, daß die wesentlichsten Bestandteile der Oligoamory ausgerechnet von einer neopaganen Autorin (Eintrag 49) und einem christlichen Gemeinschaftscoach (u.a. Eintrag 8) stammten:
Jeden Tag beschreiten wir erneut unerschrocken den „Weg des größtmöglichen Mutes“, dehnen unverzagt das Maß unserer Selbstwirksamkeit; wir überschreiten dabei regelmäßig für die Menschen, die uns wichtig sind, die Grenzen unseres eigenen Komforts; wir fragen, wenn es darauf ankommt bzw. jemand nachts verweint an unserer Tür steht nicht, ob jemand Liebste*r, Freund*in oder „nur“ Nachbar*in ist; sensibel versuchen wir ungeachtet dessen die Qualität unserer Beziehungen zu verbessern; wir erweisen uns als Teil einer Gemeinschaft und wir wollen aufrichtig echte Liebesbeziehungen und darin nicht bloß auf eine Person beschränkt sein…

Der „Segen“ aber, gleichsam der „Sinn“ – und zwar „egal wie es ausgeht“ –, wird aber in all diesen Dingen etwas sein, was „größer ist als wir“, etwas, das „über uns hinausgeht“.
Und hier werden Mehrfachbeziehungen, ja, gelingende menschliche Beziehungen insgesamt, für mich zu etwas wirklich Wunderbarem.
Denn das, was „größer ist als wir“, „über und hinausgeht“ wird in der Spiritualität genau eben als transzendent (von lateinisch transcendere „übersteigen/überschreiten“) bezeichnet. Es ist das, was ich von der ersten Stunde der Oligoamory als die Komponente beschrieben habe, die „mehr als die Summe der Teile“ erzeugt – also aus dem Zusammenwirken aller Beteiligten hervorgeht und den Mehrwert hervorruft, von dem (hoffentlich) alle profitieren.
Dazu DASS dieser Sinn, dieser Mehrwert entstehen kann, rufen wir aber etwas in einer*einem jeden von uns ab, was jede*n von uns einzigartig macht, genau jenen unveräußerlichen Selbstwert, der jede*n von uns zu „uns“ macht und ohne den die einzigartige Komposition von Zutaten in einer Beziehung nicht funktionieren würde. Exakt dieses in den Dingen und Lebewesen Enthaltene, das sich aus ihrer individuellen und objektiven Existenz ergibt, wird wiederum in der Spiritualität als immanent (von lateinisch immanere, ,darin bleiben‘, ‚anhaften‘) bezeichnet.

Wie heißt es nochmal in Schillers „Lied von der Glocke“: »…soll das Werk den Meister loben, doch der Segen kommt von oben.«? Meinethalben hätte der große Dichter und Denker auch »…von innen« schreiben können. Denn wir brauchen demzufolge eh beides, Immanenz zur Transzendenz und Transzendenz in Immanenz; beide gehen auseinander hervor – und keine der beiden Erscheinungen kann ohne die andere bestehen (wenigstens in der Oligoamory).
Näher können wir dem, was in vielen Religionen als Göttlichkeit bezeichnet wird, in unserem Sehnen, Streben und Schaffen für uns und in unseren Beziehungen nicht kommen.
Jener Art Göttlichkeit, die schon in allen von uns wohnt und die nur darauf wartet, Schicht um Schicht immer mehr zu Tage treten zu dürfen.
Und das ergibt in jedem Fall einen Sinn.
Egal wie es ausgeht.

¹ Vor allem niedergelegt in: Scott Peck „Gemeinschaftsbildung (Original: „ A Different Drum“, 1984), 5. Auflage 2017, Eurotopia Verlag

Danke an Ashwini Chaudhary auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 78

Auszeit

Es gibt mehr für Dich
als das, was sich niemals gezeigt hat.
Mehr als das, was nie zustande kam.
Mehr als das, was sich nicht verwirklichen ließ
oder keine Möglichkeit fand, um zu funktionieren,
und es sieht wie Heilung aus
und hat die Form von Möglichkeit.
Im Stich gelassen von Familie oder Eltern,
von vergangenen Träumen und Erwartungen,
verdrossen von Beziehungen,
Romanzen, Karrieren und Vorstellungen –
stets gibt es noch einen weiteren Weg zu erforschen
und andere Pfade zum Beschreiten.
Es gibt einen Stamm, dazu bestimmt, dich willkommen zu heißen,
mit Ermutigungen, um dich zu nähren.
Es gibt Herzen, die dich halten wollen,
und Wohlwollen, das sich danach sehnt, dich zu begleiten.
Es gibt andere Wege, der Liebe zu begegnen,
wie Zugehörige, die schon um die nächste Ecke warten.
Es gibt noch immer sprießende Felder um hindurchzulaufen
und nach wie vor warme Gewässer zum Schwimmen.
Halte durch, Menschenkind,
es gibt mehr als das
was nie erschienen ist…

Diese Zeilen stammen von der kanadischen Dichterin Susan Frybort¹ und mich haben sie sehr berührt.
Denn in all den Jahren, in denen ich mich bereits mit ethischen Mehrfachbeziehungen beschäftigt habe, schien auch mir häufig all das, „was sich niemals gezeigt hat“ regelmäßig den weit größeren Anteil auszumachen im Vergleich zu dem, was zustande kam, sich verwirklichen ließ – oder gar langfristig funktionierte.
Den vermutlich allermeisten Menschen, die in sich eine Veranlagung, ein Erleben, ein Fühlen oder Streben hin zu non-monogamen Konstellationen verspüren, kennen das vermutlich ebenfalls. Die Frage des „WIE?“ scheint – egal, wo man sich auf der „Expedition Mehrfachpartnerschaften“ gerade befindet – immer größer zu bleiben als das konkrete „Das!“.
Häufig fängt das bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt an, indem sehr viele von uns, die sich zu einer Lebensweise ethischer Non-Monogamie bekennen, oft aktuell in ihrem Leben gar keine solche(n) Beziehung(en) führen.
Für Deutschland werden unterschiedliche Zahlen gehandelt, wie viele Personen überhaupt für so eine Lebensweise aufgeschlossen wären; niedrige Schätzungen sprechen z.B. von ca. 10.000 wirklich aktiven polyamoren Menschen, an anderer Stelle wird die Zahl von 0,2% der Gesamtbevölkerung genannt, die sich überhaupt ein Leben in Mehrfachkonstellation vorstellen kann (womit wir bei 84 Millionen Einwohnern irgendwo knapp oberhalb von 160.000 Leuten landesweit landen…). Allein statistisch frustrierend. An manchen Tagen fast schon entmutigend.

Dann gibt es die Menschen, die es vermeintlich „geschafft haben“ und die sich wahrhaftig in die Herausforderung „Mehrfachbeziehung“ hineingewagt haben. Menschen, die ihr Herz in die Hand genommen haben und Liebe für mehr als ein Person empfinden. Liebe, die sie in der Praxis auch mit grünem Leben erfüllen – und zeigen – wollen.
Kaum daß sich der erste romantisch-verliebte Glitzerstaub gesenkt hat, kaum daß man erstmalig kosten durfte, das nahezu Unwahrscheinliche tatsächlich verwirklicht zu haben, scheinen auch schon die überall plötzlich aufbrechenden Hindernisse und Schwierigkeiten mit einem Mal Legion…
Kann ich mich mit mehreren Partner*innen in der Öffentlichkeit zeigen? Und warum ist mir das trotz meiner Verbundenheit unangenehm? Wie kann ich vor meinen Kindern oder Eltern vernünftig und plausibel aussprechen, daß ich mehr als nur eine Person begehre, liebe und legitim ab jetzt in meinem Leben haben möchte? Wird meine Umwelt mich jetzt anders wahrnehmen und behandeln – die Nachbarn, die Kumpel im Verein, meine Freund*innen? Und jetzt, wo ich mehrere Beziehungen habe…– wie schaffe ich es darin meine Bedürfnisse auf eine gute Art und Weise auszudrücken – und gleichzeitig die der anderen zu achten? Wie schaffe ich es, nun nicht zerrieben zu werden zwischen den ganzen Erfordernissen, jenen, die mein normales Umfeld schon so an mich stellt, dem zusätzlichen Bedarf durch mehrere Partner*innen – UND meinen eigenen Ansprüchen an mich selbst? Wie ist es möglich, allen Beteiligten die ihnen angemessene Berechtigung in einer Mehrpersonengemeinschaft zuteil werden zu lassen – und ist das ad hoc überhaupt herstellbar zwischen Leuten, die sowohl was zeitliche Verfügbarkeit, räumlicher Nähe und eigene Ressourcen (mit bereits eingegangenen eigenen Verpflichtungen und Lebensentwürfen) angeht doch z.T. mit recht unterschiedlich Grundvoraussetzungen ins Rennen gehen?
Und was ist das da alles in meinem Inneren: Ist es meine gute Intuition, die mich bei meinen Entscheidungen, meinem Sprechen und meinem Handeln leitet – oder sind es alte Traumata meiner Vergangenheit, die mich auf Abwege führen wollen? Was beschwört auf einmal diese Ängste in mir hervor, woher kommen Empfindung von Neid, Zurücksetzung, Mißgunst, Eifersucht, Verlassenheit, Unverstandenheit, Ausgeschlossen-Sein und – trotz all der Fülle und Betriebsamkeit – gelegentlicher Leere und Ausgebranntheit?

Wer sich für ethische Non-Monogamie – also für Mehrfachpartnerschaften mit allseitigem Wissen, Einverständnis, Konsens, Augenhöhe und einem hohen Maß an Aufrichtigkeit entscheidet – wird solche Fragen nahezu immer in sich tragen. Ihre Antworten stellen sich aber – egal ob wir bereits mehrere Partner*innen haben oder noch nicht – nicht automatisch ein. Und es ist daher allzu menschlich, daß wir – so ähnlich wie der unwillige Prophet Jona² im Wal – erst einmal eine Weile vor ihnen fliehen oder versuchen, wenigstens vor ihnen in Deckung zu gehen: Wir sind eben nicht so aufrichtig, wie wir es gerne wären; wir versuchen, mit fehlgeleitetem Wohlwollen Kontrolle über die anderen Beteiligten auszuüben; wir sind schrecklich bedürftig und lassen uns dadurch zu entäußernden Handlungen und Selbst- wie Fremdüberfahrungen treiben…
Egal, ob wir dahingehend schon in Beziehung sind oder noch nicht – so ein Zustand fühlt sich unangenehm an, einfach „nicht richtig“.
Statt dem Himmel auf Erden erleben wir Frustration. Frustration, die ja – wie ich in meinem Depressions-Eintrag 22 schon beschrieb – ein „Erlebnis der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Benachteiligung oder Versagung ist, das sich als gefühlsmäßige Reaktion auf eine unerfüllte oder unerfüllbare Erwartung (Enttäuschung), z.B. infolge des Scheiterns eines persönlichen Plans oder der teilweise oder gänzlich ausbleibenden Befriedigung primärer und sekundärer Bedürfnisse einstellt.“ Und die Definition fährt fort: „Frustration kann einerseits zu konstruktiver Verhaltensänderung führen, löst aber häufig regressive, aggressive oder depressive Verhaltensmuster aus.“
Statt der vielgerühmten „konstruktiven Verhaltensänderung“ ziehen wir uns also weitaus eher vor den Anderen oder in uns selbst hinein zurück (Regression), reagieren auf die Anderen oder auf uns selbst gereizt, genervt oder wütend (Aggression) – oder wir werden sogar von Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Erschöpfung bzw. Burnout gelähmt (Depression).

So erscheint es uns schließlich, wie Susan Frybort es in ihrem Gedicht oben beschreibt: Nichts kommt so zustande, wie wir es uns erhofft hatten, es läßt sich einfach nicht verwirklichen – und es gibt wohl ohnehin keine Möglichkeit, das so etwas funktioniert.
Vielleicht soll es nicht sein. Höchstwahrscheinlich sind wir wohl noch nicht so weit.

Als ich einmal selbst in so einer „Grauzone“ steckte hat mir überraschenderweise jemand in einem sozialen Netzwerk dazu folgendes geschrieben, was mir ein wenig geholfen hat, meine Frustration hinsichtlich Mehrfachbeziehungen – vor allem die, die ich mit mir selbst dahingehend habe – etwas gelassener zu betrachten:

»Auf Deiner Lebensreise wird es „Dazwischenzeiten“ des Übergangs geben.
Du magst dich verloren, verwirrt, verärgert, ungesehen oder leer fühlen.
Verwechsle jedoch diese Zeiten des Übergangs nicht mit einem ewig währenden Zustand des Daseins oder gar des Gebrochenseins.
Du trennst dich von dem, was war, und schaffst Raum, um das, was sein wird, willkommen zu heißen.«


Das empfinde ich als eine sehr gute Betrachtungsweise (und sie erinnert mich in ihrer Wortwahl zusätzlich an Scott Pecks „Phase der Leere“ in seiner „Arbeit der Depression“, die ich ebenfalls in Eintrag 22 nenne). Denn für die Beziehungen, die wir zu anderen Menschen führen wollen, können wir uns ja erst einmal nur so anbieten, wie wir hier und heute sind. Da, wo wir jetzt in unserem eigenen Prozess stehen.

Und was für Hindernisse haben wir da bereits überwunden! Unter den oben erwähnten 84 Millionen Bewohnern der Bundesrepublik haben selbst viele verheiratete Paare noch Hemmungen, sich in der Öffentlichkeit zu küssen; viele Umstehende haben Hemmungen, so eine Verbundenheitsbekundung mitzuerleben (und all diese Menschen sind durchaus nicht sämtlich im Rentenalter…). In vielen Ländern der Welt ist eine freie uns selbständige Partnerwahl noch unüblich – und in manchen Regionen ist die Festschreibung moralischer Prinzipien noch so rigide, daß dort weder Männlein noch Weiblein ausreichend Mut fassen können, selbst ihre eigene Sexualität zu erkunden – und schrecklicherweise folglich von der Sexualität oder dem Gefühlsleben anderer Geschlechter gar keine Ahnung haben…
Und wir? Stehen zu 10.000 oder zu 0,2% auf den Schultern couragierter Menschen in unserem Kulturkreis und der dort gebotenen Freiheit, so daß wir uns mit Gedanken von Mehrfachpartnerschaften und Oligo- bzw. Polyamorie beschäftigen können. Welch unglaubliches Privileg – und was für eine großartige persönliche Erreichung: Denn wie weit wir für uns selbst doch in unserem Leben gekommen sind, daß wir dies tun, diese Seite an uns also entdecken durften und entdeckt haben!

Gleichzeitig wird es natürlich immer noch weiterhin kritische Stimmen im Außen und daher auch in uns selbst geben, für die das dennoch nicht „ausreichend“ ist. Das, was sich „niemals gezeigt hat“, „nie zustande kam“, vielleicht deswegen „nie erscheinen wird“, wähnt uns daher nach wie vor zu oft als überwiegend.
Wären wir doch nur freier… Wir sollten aufrichtiger sein. Wir sollten authentischer sein. Wir hätten schon weit mehr zu uns selbst finden müssen. Wir hätten dann längst unterwegs, längst „verwirklicht“ sein können. Hätten dann seit Jahren bereits sicher ein vollumfängliches Mehrfachbeziehungsparadies für uns etabliert. Wären endlich angekommen.

Der kanadische Autor und Filmemacher Jeff Brown schreibt dazu in seinem Buch „Soulshaping“³:

»Ich finde jedwede Urteile darüber, wo ein Individuum in einer bestimmten Phase seines Lebens stehen sollte, unangebracht. Es ist, als ob man versuchen würde, diese großartige und komplizierte Reise der Selbstschöpfung in etwas sehr Einfaches und Banales zu verwandeln. In Wirklichkeit kennt nur unsere Seele den Weg, für den sie hier ist und den sie zu gehen hat, was sie zu überwinden hatte und an welchen Errungenschaften sie ihren Fortschritt erkennen kann. Die Menschen urteilen, als ob sie bereits alles durchschaut hätten, aber ihre Urteile verschleiern oft nur ihre eigene Verwirrung. Sind wir Spätblüher oder rechtzeitige Entwickler? Das ist eine ganz persönliche Abwägung. Das Wesentliche ist lediglich, dass wir uns dabei weiter auf einen Ort zubewegen, der sich wie ein Zuhause anfühlt.«

Daß wir uns also überhaupt „schon“ „hier“ befinden, ist für jede*n von uns eine ganz und gar herausragende Entwicklung. Trotz unterschiedlichster Startpunkte haben wir uns an dieses außergewöhnliche Universum von Mehrfachpartnerschaften herangedacht. Ein Universum, durch welches wir uns immer wieder mit den grundsätzlichsten Fragen zu unserem Selbst konfrontieren und dazu, wer wir sind. Mit Fragen, wie wir uns in Beziehung begeben – sowohl zu uns selbst als auch zugleich zu jenen, die ebenfalls einen besonderen Platz in unserem Herzen und in unserem Dasein haben, hatten – oder erhalten sollen.
Für mich sieht das wie Heilung aus.
Und es hat die Form von Möglichkeit.

Halte durch, Menschenkind,
es gibt mehr als das
was nie erschienen ist…



¹ „Look to the Clearing: Poems to Encourage“, Enrealment Press 2021

² Die Bibel, Buch Jona, insb. Kapitel 2, 1-11

³ North Atlantic Books; Original Edition 2009

Danke an Frauke Riether auf Pixabay für das Foto!