Eintrag 103

Kopf und Fuß – oder: Der Blinde und der Lahme

Neulich hat mich eine Bekannte gefragt, wie denn meine bLog-Einträge normalerweise zustande kämen. Und ich sagte „Ganz verschieden – es kann manchmal sogar nur ein Wort sein, das mir im Gedächtnis bleibt, – und daraus entsteht ein vollständiger Eintrag.“
So ist es z.B. heute mit dem Wort „Abhängigkeitssymbiose“, welches ich vor einiger Zeit in einem gänzlich anderen Kontext als dem Universum der Mehrfachbeziehungen aufgeschnappt hatte.
Dieses Wort hat mich nämlich erst einmal irritiert, weil es für mich wirkte, als ob es aus zwei sehr unterschiedlichen Häften bestand, die gar nicht zueinander zu passen – ja, einander geradewegs zu widersprechen – schienen.
Und dann, als ich das Ganze einmal in meinem Kopf und dann in meinem Herzen herumbewegt hatte, habe ich gelächelt, denn mit einem Mal empfand ich den Begriff fast als ein bißchen hübsch in seiner Symbolik – und in diese Fall insbesondere für das Universum der Mehrfachbeziehungen.

„Abhängigkeit“, so sagt Wiktionary, steht für einen „Zustand, auf jemand oder etwas angewiesen zu sein“. Und damit hat das arme Wörtchen „Abhängigkeit“ auch meist sogleich seinen Charme weitestgehend eingebüßt. Denn uns in „Abhängigkeit“ zu befinden, auf jemanden oder etwas angewiesen zu sein, das klingt irgendwie klebrig, verhaftet, unselbständig und gebunden. Wodurch „Abhängigkeit“ nämlich unmittelbar in Verdacht gerät, das Antonym (= das Gegensatzwort) bzw. in gewisser Weise sogar der Antagonist (=Gegenspieler) unserer allseits beliebten und ersehnten „Freiheit“ zu sein.

Und dann ist da noch das Wort „Symbiose“. Hier definiert Wiktionary: „(das) Zusammenleben von Organismen verschiedener Arten zu gegenseitigem Vorteil“ bzw. „das Zusammenwirken von mehreren Faktoren, die sich vielfach gegenseitig begünstigen“. Womit Symbiose also wohl etwas Gutes und für die daran Beteiligten Lohnenswertes ist.

Damit wird aber zugleich klar, daß die in unserem urspünglichen Wortpaar zunächst als negativ wahrgenommene Abhängigkeit und die so vielversprechende Symbiose gar nicht wirklich gegensätzlich sind. Denn um von den Vorteilen einer Symbiose zu profitieren, müssten sich die Mitwirkenden wohl auf dieses „Aufeinander Angewiesensein“ einlassen, damit überhaupt eine solche zustandekäme…
Denn dies ist ja gerade das innewohnende Erfolgsgeheimnis jedweder Symbiose: Damit sie funktioniert – und „funktionieren“ heißt in diesem Fall: alle Beteiligten erfahren (Zu)Gewinn – müssen jene Beteiligte, wie ich im letzten Eintrag schrieb, „aus eigener Veranlassung nehmen UND geben“.

Dieser heutige Eintrag soll ein klein wenig ein „Erinnermich“ für ethische Mehrfachbeziehungen sein. Denn die Gefahr, daß wir in unseren Beziehungen zu stark bilanzieren – und das obendrein von einem zu selbstbezogenen Standpunkt – scheint mir nach wie vor sehr hoch.
Vor allem in einer Welt, wo wir regelmäßig u.a. mit Memen in sozialen Medien zugepfaster werden, die da mit Kalligraphiebuchstaben vor irgendeinem romantischem Fotohintergrund „Wahre Liebe gibt frei!“ postulieren.
Und nun komme ich und schreibe statt dessen viel lieber „Wahre Liebe… …ist symbiotisch!“ – und kann quasi hören, wie sich bei diesem Satz einigen Leser*innen knisternd die Haarspitzen aufstellen.

Gut, daß „Abhängigkeit“ in Beziehungsdingen für mich nicht grundsätzlich eine schlimme Sache ist, dürften regelmäßigere Konsument*innen meines bLogs spätestens seit meiner „Abhängigkeitserklärung“ in Eintrag 24 wissen. Dort schrieb ich – gewissermaßen als Fazit – daß »„Wechselseitige Abhängigkeit “ per se nach oligoamoren Maßstäben erst einmal kein behandlungsbedürftiger Makel sei, den es zu tilgen gelte, und sie in ihrer bewußten Form weder toxisch noch pathologisch sei.
Solch eine gut eingestellte – noch besser gut eingespielte – wechselseitige Aufeinanderbezogenheit stelle vielmehr ein engagiertes, dynamisches und offenes Binnenverhältnis dar, welches von regelmäßigen, gemeinschaftlichen Verhandlungen und (Nach)Justierungen profitiere.«


Für mich ist es aber trotzdem auch noch etwas mehr als das. Denn in der Oligo- und Polyamorie dreht sich nach meinem Empfinden am Ende des Tages alles um nichts weniger als wahrhaftige, romantische Liebe zwischen den so verbundenen Leutchen. Und wie ich wiederum in Eintrag 34 beschrieb, ist aufgrund meiner bisherigen Lebenserfahrung »der Kern des „romantischen Narrativs“ das freiwillig für die Gemeinschaft erbrachte Selbstopfer«.

Speziell letzterer Satz kommt beim Lesen immer erst einmal so unglaublich dramatisch daher, warum ich auch im zugehörige Eintrag damals gleich dieser Dynamik die (Hoch)Spannung nehme.
Symbiose, wenn sie romantisch (und nicht nur einen Zweckbeziehung) sein soll, benötigt aber darum ebenfalls genau dieses Selbstopfer.
Und vermutlich ist es daher auch geradewegs so ein unbehagliches Zwicken, was wir beim Begriff „Selbstopfer“ irgendwie empfinden, weil es dazu eben ohne die oben erwähnte „Abhängigkeit“ und damit einer Teil-Abgabe unserer vollen „Un-Abhängigkeit“, unserer größtmöglichen Freiheit, nicht geht.

Das ist auch ein Grund, warum ich Eintrag 102, in welchem ich exakt diese Freiheit feiere, die es uns überhaupt erst erlaubt, hinsichtlich unserem Wunsch nach Teilhabe und Verantwortungsübernahme Wahlen zu treffen, diesem Eintrag hier vorangestellt habe.
Denn es muß doch ein Ausdruck unseres nach Entfaltung suchenden Wesenskerns sein, wenn wir in uns den Wunsch finden, an einer „Symbiose“ (ich wiederhole: „das Zusammenleben von Organismen verschiedener Arten zu gegenseitigem Vorteil“) teilhaben zu wollen und damit zugleich bereitwillig die Verantwortung für den eigenen Beitrag am Gedeih dieses Gebildes mit zu übernehmen.

Wir haben es in Beziehungen also im ersten Moment stets mit einer freiwilligen Selbstbeschränkung zu tun – ein überaus romantisches Motiv übrigens. Z.B. so aufopferungsvoll-romantisch wie es einige Herren mit gesteiften Kragen im Jahr 1863 betrieben, als sie sich gegenüber einem wilden Gerangel um einen Lederball auferlegten, diesen künftig nur noch fair und gentlemenlike mit Kopf und Fuß zu bewegen – und auf diese Weise zu Gründern des modernen Fußballs avancierten…
Kurz vor dem Finale der derzeit stattfindenen EM finde ich hier Fußball übrigens eine durchaus treffende Metapher. Denn was wollten diese Leute damals erreichen, als sie sich selbst freiwillig beschränkten – und ein „weniger“ in Kauf nahmen?
Sie wollten einen „Mehrwert“ für alle erzeugen – weil sie der Meinung waren, daß mit roher Kraft und ganzem Körpereinsatz irgendwann irgendjemand so oder so in der Lage sei, einen Ball ins Tor zu bringen (was früher oder später nicht mehr sehr interessant gewesen wäre, es sei den für Leute, die den aufgepumptesten und rücksichtslosesten Protagonisten hätten bei ihrem Werk zuschauen wollen…).
Aus ihrer Selbstbeschränkung ging nun jedoch ein dynamisches, spannendes und integratives Spiel hervor, bei dem bis in die heutige Zeit Menschen aller Ethnien und Gender mit ihren vielfältigen Begabungen in Ausdauer, Geschick, Agilität, Mut, Findigkeit und Glück international um Aufmerksamkeit und Preise wettstreiten.

Die Vorteile von Wechselseitigkeit und Aufeinanderbezogenheit wie in einer Symbiose fallen uns also nach einer Weile also vielleicht doch noch ein – selbst wenn uns dabei aufgeht, daß wir dazu logischeweise eben (freiwillig!) einen Teil unserer persönlichen Freiheit dorthinein auflösen müssen, wenn wir wirklich mitwirken und profitieren wollen.
In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei ja auch meist um das „Schönwettergesicht“ der Liebe, über die ich im vorherigen Eintrag schrieb: »Hand aufs Herz: Wenn es in den von uns eingegangenen Beziehungen nicht etwas gäbe, was wir – wie oben erwähnt – „genießen“ wollten, wären wir doch vermutlich nicht darin…«
Das ist dann wieder wie beim Fußball: Klar, mit den heutigen Regeln (denen ich zugestimmt und mich selbstbeschränkt habe) kann ich den Typen in Ballbesitz da vorne jetzt nicht niederschlagen, um an das Leder zu gelangen. Ich muß mich heranpirschen und das Ding vom Fuß dribbeln, wonach ich es mit einem Paß zu den Mitspieler*innen oder (hoffentlich) zum Tor schießen kann. Aber: Am Ende des Tages bin ich dann eben nicht ein dumpfer Schläger, der vielleicht sogar für den eigenen Erfolg Fremdschaden in Kauf genommen hat – ich bin ein*e begehrte*r Ballkünstler*in in einem erfolgreichen Team.
Und weil es gerade nicht nach den Stärksten oder Durchsetzungsfähigsten auf dem Platz geht – denn so funktionieren Symbiosen nicht – bin ich es vielleicht ohnehin nächstes Mal, die den Ball zum Schuß auf das Tor zugespielt bekommt – weil ich eben am günstigsten dazu in Position bin.

Ok – in meinen Beziehungen kann ich durch Beitragen profitieren. Und durch romantische Selbstzurücknahme Mehrwert erfahren, den ich sonst alleine nie hätte erleben oder erzeugen können.
Aber wie ist das mit dieser konkludent (= Handlung, die auf eine bestimmte Willenserklärung schließen lässt, ohne dass diese Erklärung in der Handlung ausdrücklich erfolgt ist [also z.B. die Einwilligung in eine Liebesbeziehung]) eingegangenen Verantwortung für den Gedeih und die Aufrechterhaltung eines solchen Zusammenlebens und -liebens?
Warum schrieb ich im vorigen Eintrag »Wenn wir es mit unserem Wunsch nach Anteilhaben an einer (Liebes)Beziehung jedoch ernst meinen, dann ist auch die Verantwortung im gleichen Augenblick mit eingezogen – die Selbstverantwortung und auch die Verantwortung für das Wohlergehen, den „Gesundheitszustand“ der Beziehung.«?
Selbst der Wikipedia-Eintrag zur „Symbiose“ zeigt doch unterschiedliche Grade der wechselseitigen Abhängigkeit auf und schlägt sogar vor „Die Arten ziehen zwar einen Vorteil aus dem Zusammenleben, sind aber ohne einander gleichwohl lebensfähig.“ Wäre das nicht auch eine Möglichkeit, menschliche, romantische Nahbeziehungen mit mehreren Beteiligten zu handhaben?

Ich glaube, daß sich solche Gedanken vor allem immer dann einschleichen, wenn wir realisieren, daß weder die Liebe noch wir ganz persönlich stets immer nur auf der Seite des oben erwähnten „Schönwettergesichts“ des Beitragens und Genießens zu agieren in der Lage sind.
Dazu sagte der buddhistische Shaolin-Meister Shi Heng Yi neulich in seiner Reihe „positivegedanken“ auf Instagramm etwas sehr Anrührendes, was sogar an Teile des christlichen Eheversprechens erinnerte:

»Und Loyalität bedeutet aber, daß man weiß, dass es Momente geben wird, wo wir uns eventuell uneinig sind.
Aber genau weil ich eben weiß, dass das eventuell eine schwierige Zeit für eine Person werden wird, weil jetzt sehr viel Kritik und sehr viel Schmach – oder egal was – kommen wird, genau deswegen braucht aber diese Person jetzt die Unterstützung.
Wenn jeder immer nur positiv, gut, optimistisch redet, dann findet sich [leicht] eine Schar von Menschen, mit der man sich darum umgibt.
Aber es gibt eben einen Kern [an Menschen], der ist nicht nur in guten Zeiten da, der ist vor allem in den Zeiten da, wo andere weglaufen. Und so einen Kern sollte jeder Mensch haben – und das ist manchmal nicht mehr als eine Handvoll.
Aber was ist das Schöne daran? Dass dir das eben eine Stabilität gibt. Weil du weißt, egal was da kommt: Ich hab‘ einen Job, ich hab‘ keinen – die sind da. Ich habe eine Freundin, ich habe keine Freundin – die sind da.«


Meister Shi Heng Yi sagt also, daß der wichtige Begriff der Loyalität kein „Schönwetterstandard“ ist, sondern einer, dessen Wert sich gerade erst dann ermißt, wenn er in Konflikten miteinander Stand hält – und (trotzdem) erwiesen wird.
Und „Loyalität“, welche schon als Grundwert der Oligoamory in Eintrag 3 aufgeführt wird, verfügt auf der deutschsprachigen Wikipedia über die folgende großartige Definition »die auf gemeinsamen moralischen Maximen basierende oder von einem Vernunftinteresse geleitete innere Verbundenheit und deren Ausdruck im Verhalten gegenüber einer Person, Gruppe oder Gemeinschaft. Loyalität bedeutet, im Interesse eines gemeinsamen höheren Zieles, die Werte des Anderen zu teilen und zu vertreten bzw. diese auch dann zu vertreten, wenn man sie nicht vollumfänglich teilt, solange dies der Bewahrung des gemeinsam vertretenen höheren Zieles dient. Loyalität zeigt sich sowohl im Verhalten gegenüber demjenigen, dem man loyal verbunden ist, als auch Dritten gegenüber.«

Hier ist beides enthalten: Die romantische, freiwille Selbstbeschränkung („…diese auch dann zu vertreten, wenn man sie nicht vollumfänglich teilt…“) und die Verantwortung für das größere Ganze, welches es zu erhalten und zu fördern gilt („ der Bewahrung des gemeinsam vertretenen höheren Zieles…“), die von unserem Wunsch und unserer freien Wahl der „inneren Verbundenheit“ umwunden sind.

Unterm Strich ist nämlich auch die zunächst mit etwas Stirnrunzen betrachtete „(Abhängigkeits)Symbiose“ keine Schönwetterveranstaltung. Denn erst einmal verbunden, schwingt doch auch hier die Tür von Wohl und Wehe von allen Beteiligten in jedwede Richtung.
„Siehste, und deswegen, würde ich so eine Symbiose von Anfang an vermeiden…!“
Ja? Das wäre genau die falsche Lehre aus dem zuvor Gesagtem gezogen. Denn exakt die Symbiose ermöglicht es, Mißstände oder Mißtöne aufgrund der verbundenen Ressourcen ganz anders aufzufangen, als es uns als bloßes Individuum je gelingen könnte.

Eine Fußballmannschaft wird heutzutage normalerweise in einer Weise zusammengestellt, in der sich Talente möglichst zu Höchstleistungen ergänzen sollen.
Doch schon vor Jahrhunderten im Mittelalter – einer Zeit, in der sich die Menschen ihrer Unvollkommenheiten und Abhängigkeiten vermutlich noch wesentlich elementarer bewußt waren als wir heute – entstand die Doppelgestalt „des Blinden und des Lahmen“, der in der Neuzeit die deutsche Folk-Rock-Band Ougenweide auf ihrem Album All die weil ich mag(1974) mit der Vertonung eines Textes von Christian Fürchtegott Gellert¹ noch einmal ein akkustisches Denkmal gesetzt hat: In dem Lied treffen ein lahmer Krüppel und ein Blinder aufeinander, nach kurzer Verhandlung trägt der Blinde den Lahmen, der im Gegenzug dem Blinden den richtigen Weg weist. Das Lied kulminiert mit den Zeilen:

Vereint wirkt also dieses Paar
Was einzeln keinem möglich war.

Du hast das nicht, was andre haben
Und andern mangeln deine Gaben.
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.

Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die Natur für mich erwählte,
So würd‘ er nur für sich allein
Und nicht für mich bekümmert sein

Beschwer‘ die Götter nicht mit Klagen!
Der Vorteil, den sie dir versagen
Und jenem schenken, wird gemein:
Wir dürfen nur gesellig sein!

„Geselligkeit“, wie sie die Mittelalterlichen (und auch noch Herr Gellert im 18. Jahrhundert) sie einst nannte , hat heute einen leicht anderen Namen: Wir sagen mittlerweile „Gemeinschaft“. „Abhängigkeitssymbiose?“ Vielleicht darum auch eher ein Wort, was lieber der Vergangenheit angehören sollte. Wir könnten „Solidarität“ dazu sagen. Oder in einer romatischen Beziehung aus mehreren Beteilgten schlicht: Liebe.



¹ Der deutsche Dichter und Moralphilosoph Christian Fürchtegott Gellert sah sich selbst übrigens in Kontinuität mit den Ideen des von mir verehrten englischen Philosophen, Schriftsteller, Politiker, Kunstkritiker und Literaturtheoretiker Anthony Ashley Cooper, den ich in Eintrag 64 zu Wort kommen lasse.

Danke an Mary Taylor auf Pexels für das Foto!

Eintrag 102

Ich habe die Wahl!

Am gerade zurückliegenden Juniwochenende war Europawahl. Und egal wie jede*r von uns den Ausgang dieser Wahl nun beurteilen mag, so spielten doch in jedem Fall drei Themen eine wichtige Rolle, die auch die Dynamik unserer ethischen Mehrfachbeziehungen wie ein Wurzelgeflecht durchziehen.
Dabei handelt es sich um die Werte Freiheit, Teilhabe (Partizipation) und Verantwortung.
Fluch und Chance dieser drei Werte ist jedoch, daß es sich bei ihnen um riesengroße Begrifflichkeiten von enormer Tragweite handelt, die indessen keine glasklar umrissene, äußere Definitionsgrenze haben – und deren Beschreibungen dementsprechend in den allermeisten Online-Enzyklopädien gleich mehrere Bildschirmseiten füllen.

Vielleicht bleiben wir daher lieber zunächst auf dem Boden unserer Beziehungen.
Ich glaube nämlich, daß das verbindende Ankerwort der drei Begriffe „Teilhabe“ ist.
Und Freiheit wiederum benötigen wir allein schon, um uns überhaupt offen einer Identität oder Lebensweise ethischer Mehrfachbeziehungen zugehörig erklären zu können (und zwar egal, ob man dazu bereits Teil einer solchen Beziehung ist oder nicht!) – was in manchen autokratisch geführten Staaten z.B. nicht möglich bzw. erlaubt wäre.
Hierzulande werden sicherlich auch noch immer Augenbrauen gehoben – oder es fällt das stereotype „…also für mich wär‘ das ja nix…“ – dennoch sind wir in unserer Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland frei, uns mit so vielen Partner*innen zur gleichen Zeit romantisch zu verbinden, wie wir möchten.

Diese Art Freiheit sind wir mittlerweile mit einem hohen Grad an Selbstverständlichkeit für unsere individuellen Entscheidungen gewohnt – es ist fast wie atmen.
Überhaupt die Freiheit des Individuums: Gerade weil unsere hiesige Rechtsordnung dieser einen ausgesprochen hohen Stellenwert einräumt, können wir uns zudem auch mit solcherlei nonkonformen Lebensphilosophien und Partnerschaftsmodellen beschäftigen, wie es ja die Poly- und Oligoamory sind. Denn romantische (Liebes)Beziehungen zählen hierzulande zur persönlichen Privatsphäre (gemäß Wikipedia: „…der nichtöffentliche Bereich, in dem ein Mensch, unbehelligt von äußeren Einflüssen, sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wahrnimmt.“).
Dahingehend haben unsere Mehrfachbeziehungswünsche aber auch Grenzen: Stand heute dürfen wir z.B. nicht mehr als einen unserer Lieblingsmenschen heiraten und dazu mit einem staatlich legitimierten Vertrag offiziell berechtigen. Hier stößt unsere Freiheit (noch) an eine rechtliche Grenze: dort, wo unsere Privatsphäre in den öffentlichen Raum übergeht.
Der gleiche öffentliche Raum wiederum mißt unserer Meinungsfreiheit und der freien Entfaltung der Persönlichkeit jedoch einen großen Wert bei. Wenn wir auf der Straße laut verkünden, daß wir Fritzi, Luka, Renée und Robin lieben und wir uns derzeit mit allen von ihnen in einer romantischen Beziehung bei allseitigem Wissen und Billigung befinden, dann ist das ok (bis auf erwähnte hochgezogene Fremdaugenbrauen…) – und wir sind darin frei und dazu berechtigt.

Wenn wir (und auch Fritzi, Luka, Renée und Robin) nun nicht unbedingt auf eine staatliche Zeremonie mit anschließender Vertragsunterzeichnung auf dem Standesamt bestehen, um uns einander als zugehörig zu empfinden, ist also unsere Freiheit auch in der Beziehungsgestaltung sehr groß. So groß, daß ich diese Freiheit in Eintrag 28 sogar als Privileg bezeichne (fragen sie mal jemanden aus Ruanda oder Myanmar, wie es dort mit Freiheit für Mehrfachbeziehungen aussieht…).
Und weil individuelle Freiheit ein Privileg ist, besitzt Freiheit exakt auch den Schatten, der jedem Privileg zu eigen ist: „das Ding, was man hat – aber sich nicht bewußt ist, dass man es hat“. Und damit ist Freiheit unserem Atem einmal mehr ähnlich: Wir tun es ständig – sogar wenn wir schlafen – und müssen normalerweise nie auch nur einen Gedanken darauf verwenden, um es innezuhaben.
Spätestens in Beziehungen wird es mit unserer großen persönlichen Freiheit dann aber eventuell genau darum schwierig, wenn wir sie als „absolutes“ Gut ansehen, welches keinerlei Umstand mindern kann und darf.
Denn mit der Teilhabe (!) an einer Beziehung betritt unversehens auch die Verantwortung das Spielfeld.
Der deutsche Philosoph und Professor Michael Pauen schrieb dazu: „Eine verantwortliche Person wird als jemand betrachtet, die […] eine willkürliche Entscheidung treffen und auch durch eine Handlung verwirklichen kann, obwohl sie auch anders hätte handeln können. Eine freie Handlung erfolgt hiernach ohne Zwang und ist nicht zufällig. Freiheit ist in dieser Sicht die Bedingung der Möglichkeit der Selbstbestimmung des Menschen.“ ¹
Aha! Meine Freiheit hat es mir also ermöglicht, die Wahl zu treffen, ob ich an einer bestimmten Beziehung teilhaben möchte – eine Entscheidung, die ich mir selbst insofern auch hätte verweigern können…
Der deutscher Philosoph, Theologe und Pädagoge Georg Picht folgerte sogar noch weiter: „Deshalb ist Verantwortung im ersten Schritt ein Anspruch an sich selbst und für sich selbst. Die*Der Einzelne ist sowohl Gegenstand ihrer*seiner eigenen Verantwortung als auch die Autorität, vor der sie*er sich verantworten muss.“ ² Und diesen Satz finde ich richtig prima, da er ohne ein dogmatisches System, staatliche Obrigkeit oder Religion als Begründung auskommt – und somit ebenfalls auf anarchistischer oder atheistischer Basis Bestand hat.

Aus meiner Freiheit heraus entsteht also aufgrund meines Wunsches nach Teilhabe (an einer Beziehung) – und dann meiner freien Wahl einer tatsächlichen Teilhabe – Verantwortung.
Das ist für mich eine wichtige Folgerung, da in der Welt der Mehrfachbeziehungen sehr oft die Freiheit der Beteiligten sehr stark betont wird – und in dieser Weise oft, wie ich in Eintrag 87 schrieb, »„Freiheit“ dadurch unter bestimmten Umständen in unseren Beziehungen gelegentlich wie eine Art uns zustehendes „Abwehrrecht“ gegen jegliche wahrgenommene Bevormundung, gegen jedwede gefühlt ungerechtfertigte Haftbarmachung – aber darum leider bisweilen auch zu leichtfertig gegen manche echte Verantwortlichkeit ins Feld geführt wird.«

Genau darum ist es mir hier noch einmal wichtig zu zeigen, daß „Verantwortung“ uns nicht von außen aufgedrängt wird, so als ob uns von unseren Liebsten ein schwerer Mantel über die Schultern gelegt würde, sondern daß sie vielmehr eine einhergehende Kopilotin unserer eigenen, ausgeübten individuellen Freiheit ist.
Im Gegensatz zu anderen Modellen von Non-Monogamie oder Offenen Beziehungen werden aus diesem Grund in der Poly- und Oligoamory auch die Grundwerte „Verbindlichkeit“ und „Langfristigkeit“ so stark betont.
Noch einmal kurz von mir selbst erläutert: Natürlich kann ich mich auch in einer Kurzbeziehung verbindlich zeigen, indem ich mich z.B. an eine gegebene Zusage halte. Wirkliche Verbindlichkeit beruht jedoch auf einer Summe solcher Erfahrungen, die meine Lieblingsmenschen mit mir machen – und ich mit ihnen – , weil Verbindlichkeit als wahrgenommene Eigenschaft die Beobachtung von Berechenbarkeit und Verlässlichkeit benötigt – Qualitäten, die einen längeren Zeitraum erfordern, um sich voll entfalten zu können.

Teilhabe, die laut Wikipedia genauso als „Beteiligung, Teilnahme, Mitwirkung, Mitbestimmung, Mitsprache, Einbeziehung“ gelesen werden kann, bringt also automatisch Verantwortung mit sich – was eigentlich auch klar wird, wenn man diese Begriffe noch einmal liest.
Warum glauben wir aber trotzdem zu oft, daß uns diese Verantwortung von den anderen Beziehungsbeteiligten auferlegt wird?
Weil es sehr leicht ist, sobald wir erst einmal Teil einer Beziehung sind, den Standpunkt – unsere Sicht auf das Geschehen – zu verschieben.

In Eintrag 9 schrieb ich über den „geheimnisvollen Emotionalvertrag“, der sich unsichtbar sofort in dem Moment bilden würde, sobald Menschen miteinander in Beziehung gingen.
Wie war das gleich…?
Die „Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“
Noch einmal „Aha!“: Ich bin ja eine Beziehung eingegangen, wie oben gezeigt aus freiem Willen und freier Wahl, – auch aus dem Grund heraus, daß ich darin etwas „genießen“ kann; etwas, was zu meinem „Bedürfniscocktail“ beiträgt.
Etwas „genießen“, was nicht aus mir selbst kommt, kann ich allerdings wiederum nur, wenn es von anderen Personen beigetragen wird.
Die Wissenschaftler S. Cohen, L.G. Underwood und B.H. Gottlieb ergänzten im Jahr 2000 dazu sehr präzise:
»Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«
[Ausführliche Beschreibung u. Quelle siehe Eintrag 14]

Diese Beziehungserfahrung nannte der deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas etwas kompliziert:
„Verantwortung, zum Beispiel für die Wohlfahrt Anderer ‚sichtet‘ nicht nur gegebene Tatvorhaben auf ihre moralische Zulässigkeit hin, sondern verpflichtet zu Taten, die zu keinem anderen Zweck vorgehabt sind.“ ³
Oh weiah! – Ich versuche Euch das mal einigermaßen zu übersetzen:
Verantwortung in einer Beziehung entsteht nicht, weil sie mir von außen, z.B. durch moralische Instanzen (Gesetz, Kirche, Staat, „das Gute“, auf Verlangen anderer Partner*innen, etc.) auferlegt wird – und ich dann eben so handeln „muß“ oder „soll“, sondern allein bereits dadurch, daß ich Teil einer Beziehung bin, weil dort das Genießen des Wohlergehens aller Beteiligten (sowie das Beitragen dazu) gewissermaßen aus eigenem Antrieb heraus schon Hauptzweck ist.
Womit Hans Jonas ebenfalls sagen möchte, daß eine Beziehung eben nur dann wahrhaft eine Beziehung ist, wenn die daran beteiligten Parteien nicht nur lediglich „nehmen“, sondern auch aus eigener Veranlassung heraus „geben“.

Kurz: Eine „Verantwortung light“ kann in verbindlichen romantischen Beziehungen ebensowenig existieren wie eine „Teilhabe light“. Beides wäre widersprüchlich, obwohl ich speziell in Mehrfachbeziehungskontexten den Wunsch nach beidem bereits regelmäßig vernommen habe.
Wenn wir es mit unserem Wunsch nach Anteilhaben an einer (Liebes)Beziehung jedoch ernst meinen, dann ist auch die Verantwortung im gleichen Augenblick mit eingezogen – die Selbstverantwortung und auch die Verantwortung für das Wohlergehen, den „Gesundheitszustand“ der Beziehung.

Der Dramatiker und Lyriker Bertold Brecht drückte diesen Zusammenhang sehr lebensklug in seinem kurzen Gedicht Morgens und abends zu lesen aus:

Der, den ich liebe,
Hat mir gesagt,
Dass er mich braucht.
Darum
Gebe ich auf mich Acht,
Sehe auf meinen Weg und
Fürchte von jedem
Regentropfen,
dass er mich erschlagen könnte.


Ob wir einander wortwörtlich „brauchen“, lasse ich dabei offen – Marshall Rosenberg, Vater der „Gewaltfreien Kommunikation“ schlug ja den etwas sanfteren Ausdruck „zu einander beitragen“ vor, den ich persönlich sehr schätze. Denn Hand aufs Herz: Wenn es in den von uns eingegangenen Beziehungen nicht etwas gäbe, was wir – wie oben erwähnt – „genießen“ wollten, wären wir doch vermutlich nicht darin…

Freiheit, jene Qualität der Möglichkeit, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Optionen auszuwählen und entscheiden zu können, bleibt also ein Privileg – insbesondere in Hinblick auf unsere konkret eingegangenen Beziehungen selbst – sowie bezogen auf die Wahl unseres dahinterstehenden Beziehungsmodells.
Erst Freiheit ermöglicht uns Teilhabe, die den Namen verdient hat; ermöglicht es uns, uns wirklich in unsere romantischen Beziehungen einzubringen und deren „Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge“ aus freien Stücken aktiv mitzugestalten.

Lasst uns darum auch die damit verbundene Verantwortung nicht mehr wie ein lästiges Nebenprodukt der Beziehungskistenzimmerei behandeln.
Räumen wir ihr den gleichen Stellenwert ein wie unseren Wünschen nach Lebensfreiheit und Anteilhaben an der Liebe, denn die drei sind untrennbar miteinander verbunden.
Wenden wir für sie also das gleiche Maß an Leidenschaft, Idealismus und Überzeugung auf, daß wir, wenn es das nächste Mal drauf ankommt – und wir die Wahl haben, zu ihr genauso sagen können:
„Verantwortung? Klar – das bin ja (auch) ich!“


¹ Michael Pauen: „Freiheit, Schuld, Verantwortung. Philosophische Überlegungen und empirische Befunde.“ In: Gunnar Duttge (Hrsg.): „Das Ich und sein Gehirn Göttingen 2009, S. 78.

² Georg Picht: „Der Begriff der Verantwortung.“ In: ders.: „Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien.“ Klett-Cotta, Stuttgart 1969 / 2004, S. 321.

³ Hans Jonas: „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation.“ Suhrkamp, Frankfurt 1979. (Neuauflage 1984, S. 174–175).

Danke an Jon Tyson auf Unsplash für das Foto!

Lust auf noch mehr Europa? Dann lies Eintrag 10!

Eintrag 101

Glücklich & Zufrieden

Wenn ich mit meiner Wahlfamilie bzw. meinem Polykülchenª zusammensitze, frönen wir manchmal einer selbstgemachten Tradition, speziell beim Anstoßen oder zu Beginn einer Mahlzeit, wenn wir uns gegenseitig fröhlich im Chor zusprechen: „Glücklich… – und zufrieden!“
Entstanden ist dieses kleine Ritual schon vor geraumer Zeit, als wir uns nämlich anläßlich gemeinschaftlicher Gespächskultur eine Weile mit der „Gewaltfreien Kommunikation“ nach Marshall Rosenberg beschäftigten. Rosenberg sagte einmal, daß Menschen sich in ihren Beziehungen häufig „Glücklichsein“ wünschten – sie damit aber eigentlich „Zufriedenheit“ meinen würden, da „Glück“ nur ein eher begrenztes, situatives Erleben sei, „Zufriedenheit“ aber ein angestrebter, anhaltender Zustand. Dies bestätigte auch der deutsche Glücksforscher Stefan Klein (auf den ich unten noch zu sprechen komme) ganz ausdrücklich in seinem Buch „Die Glücksformel – oder wie die guten Gefühle entstehen“ ¹ , so daß bereits der schweizer Schriftsteller und Philosoph Henri-Frédéric Amiel in seinen Tagebüchern um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit seiner Erkenntnis auf der richtigen Spur war, als er schrieb „Der echte Name für Glück ist Zufriedenheit“.

Wir Menschen sehnen uns also nach Zufriedenheit – und speziell unsere zwischenmenschlichen Beziehungen sind davon in einem ganz erheblichen Maße betroffen.
Wie schneiden wir dabei ab?
„Von außen“ wird ja z.B. insbesondere Personen, die sich einem Leben in Mehrfachbeziehungen widmen, oftmals vorgeworfen, sie seien fortwährend auf der Suche nach neuem Glück und niemals in der Lage mit Goethes Faust den frohen Seufzer „Augenblick, verweile doch, du bist so schön!“ zu tun.

Werfen wir einen Blick auf das größere Bild:
Am 20. März dieses Jahres war es diesmal soweit: Im neusten Weltglücksbericht (der die Jahre 2021 bis 2023 ins Visier nahm) rutschte Deutschland um 8 Ränge von Platz 16 auf Platz 24. Ganz überraschende Länder wie Costa Rica, Litauen oder sogar die Vereinigten Arabischen Emirate registrieren in Fortunas Gunst mittlerweile höher als wir.
Was ist los in unserer doch an sich ganz munteren Republik, daß wir allmählich Schwierigkeiten haben, an die Spitzengruppe der Glücklichen Anschluß zu halten und zunehmend zum „Mittelmaß“ geraten – exakt so, wie es sich doch leider in unserem Alltag auch zu oft anfühlt.
Und was könnten wir uns von den 23 glücklicheren Mitbewerber*innen vor uns eventuell abschauen?

Wir leben z.B. in einem Land, in dem selbst Bürger*innen mit Migrationshintergrund bereits beim Deutschunterricht die forsch-zackige Formel „Frohes Schaffen!“ beigebracht wird. Als ich neulich im Garten werkelte, wünschte ein solcher Neubürger – der zufällig meine Kleinbaustelle passierte – mir dann auch mit spitzen Lippen und etwas befremdet-verwunderter Betonung (als ob er es selbst nicht recht fassen konnte, daß man sich hierzulande solches zuspricht – so wie andernorts einen Reisesegen oder die Hoffnung auf ein gesundes Wiedersehen): „Na dann, – noch ‚frohes Schaffen’…“.
Der österreichisch-US-amerikanische Philosoph, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick nahm sich in seinem passend betitelten Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“ ² solcher Phänomene an und schrieb u.a. über diese Art von Motivation: Wer nach dem Anspruch der Absender solcher Botschaften (wie z.B. auch „Sei doch mal spontan…!“ oder „Sei einfach glücklich!“) nicht spontan“ oder glücklich“ – oder eben „froh“ – sei, bekomme das Gefühl, schlecht“ zu sein und entwickele dann – wohl leider nicht immer unbeabsichtigt – Schuldgefühle.

Insbesondere letzterer (Schuld-)Eindruck wurde auch schon im Oktober ’23 von dem deutschen Kabarettisten Urban Priol aufgegriffen, der nach einem längeren Kanada-Aufenthalt in einem Fernsehgespräch³ berichtete: „Wenn in Kanada [aktueller Glücksreport Platz 15, übrigens] ein gesellschaftliches Problem auftaucht, sucht man gemeinsam nach einer Lösung, während man in Deutschland nach dem Schuldigen suche…“

Wir leben also in einem Land, in dem wir uns alle immer noch regelmäßig zuviel mit mehr oder weniger verdeckten Schuldzuweisungen herumschlagen müssen, die wir erhalten – aber vermutlich auch selbst noch zu oft untereinander austeilen. Und vermeintliche gut gemeinte Unterstützung in Form von Stereotypen wie „Sei doch einfach mal glücklich!“, „Es geht immer noch schlimmer…“ oder „Anderen geht es noch viel schlechter…“ sind eine geradezu kontraproduktiv negative Psychologie, die leider in unserer Gesellschaft noch viel zu regelmäßig anzutreffen ist.
Ich glaube sogar, daß wir uns gegenwärtig erst recht wieder verstärkt in einer Phase befinden, wo wir sehr aufmerksam auf unser Miteinander – sei es romantisch, freundschaftlich oder auch nur von Mensch zu Mensch – achten müssen.

So schrieb der britische Schriftsteller Matt Haig (Großbritannien liegt im Weltglücksreport derzeit auf dem 23. Platz…):
»Es mag abwegig erscheinen, psychologische Heilung mit politischer Heilung zu verbinden, aber wenn das Persönliche politisch ist, dann ist es auch das Psychologische. Das derzeitige politische Klima scheint von Spaltung geprägt zu sein, einer Spaltung, die teilweise durch das Internet angeheizt wird.
Wir müssen unsere Gemeinschaftlichkeit als menschliche Wesen wiederentdecken.

[…] Es gibt kein Allheilmittel oder irgendein Utopia, es gibt nur Liebe und Freundlichkeit und den Versuch, inmitten des Chaos, die Dinge besser zu machen, wo wir es können. Und wir müssen unseren Geist weit, weit offen halten in einer Welt, die ihn oftmals lieber abschotten möchte.«*

Insbesondere mit Hinblick auf unser Leben in westlichen Indurstrienationen ergänzt er: »Selbst wenn die Welt uns nicht unmittelbar in Schrecken versetzt, können die Geschwindigkeit, das Tempo und die Ablenkung der modernen Lebensweise eine Art mentalen Angriff darstellen, der nur schwer auszumachen ist.
[…]
Das ist meiner Meinung nach das größte Paradoxon der modernen Welt. Wir sind alle miteinander verbunden, aber wir fühlen uns oft ausgeschlossen. Die zunehmende Überlastung und Komplexität des modernen Lebens kann isolierend wirken.
Hinzu kommt, dass wir nicht immer genau wissen, was uns einsam oder isoliert fühlen lässt. Das kann es schwer machen, die Probleme zu erkennen. Es ist, als würde man versuchen, ein iPhone zu öffnen, um es selbst zu reparieren. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Gesellschaft wie Apple funktioniert, als ob sie nicht will, dass wir einen Schraubenzieher in die Hand nehmen und selbst nachsehen, wo die Probleme liegen. Aber genau das ist es, was wir tun müssen. Denn oft wird das Erkennen eines Problems, achtsam dafür zu sein, zur Lösung selbst.«
*

Bezogen auf zwischenmenschliche Beziehungen, vor allem, wenn es sich eigentlich um Liebesbeziehungen handeln soll, ist das oben erwähnte „Zuteilen von Schuld“ also eine riesige Belastung – und oft ein „unsichtbarer Elefant“. Denn zum Zuteilen von Schuld nehmen Menschen speziell dann Zuflucht, wenn sie in ihrer Verunsicherung hoffen sich selbst wenigstens noch durch einen Abwärtsvergleich besser darstellen zu können (über die persönlichen Folgen des Abwärtsvergleichs und eines verdeckten „So, wie du bist, bist du nicht ok!“ siehe u.a. Eintrag 98). Mittelfristig entmündigen wir damit zunächst die Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung, letztlich aber auch, über diese Art so zu Denken, uns selbst.
Und „Entmündigung“ ist ausgerechnet das völlige Gegenteil (Antonym) der in ethischen Mehrfachbeziehungen angestrebten Ermächtigung aller Beteiligten. Warum es in der Poly- und Oligoamory wichtig ist, „ermächtigte Beziehungen“ zu führen, habe ich auf diesem bLog vor allem in meiner dreiteiligen Reihe zu „Bedeutsamen Beziehungen“ 1 | 2 | 3 beschrieben, schwerpunktmäßig in Teil 1.

Demgemäß haben wir in unserer Kultur und Gesellschaft (also eben vor allem in den „unglücklicheren“ Kulturen und Gesellschaften!) das zunehmende Dilemma, daß auf diese Weise in uns ein verunsicherndes Gefühl von Unverbundenheit und damit gewissermaßen „Heimatlosigkeit“ zunimmt. Am Beispiel eines Obdachlosenasyls erläutert der bereits zitierte Matt Haig:
»Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter sagte mir: „Den Menschen hier fehlt mehr als nur ein Platz zum Schlafen, ihnen fehlt Zugehörigkeit. Das Problem ist die Heimatlosigkeit, nicht die Wohnungslosigkeit. Wenn man heimatlos ist, fehlt einem mehr als nur ein Schlafzimmer.«

Um die wichtigen Qualitäten von Heimat und Zugehörigkeit – und daß es so grundlegend ist, diese in unseren romantischen Nahbeziehungen zu erfahren – geht es auf meinem bLog schon seit Eintrag 5.
Höchste Zeit also auf die „Glückspilze“ (die zumindest „glücklicheren Pilze“…) zu schauen und hoffentlich von diesen zu lernen, was wir für uns gewinnen könnten.
Regelmäßige Spitzenkandidaten in den periodisch erscheinenden „Weltglücksberichten“ sind z.B. die skandinavischen Länder, die Niederlande und auch die Schweiz.

All diesen Ländern attestiert die deutsche Psychologin und Glücksforscherin Judith Mangelsdorf (Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport, Berlin) zum einen eine hohe wahrgenommene soziale Unterstützung. Wenn man Menschen in diesen Ländern befragen würde, hätten sie subjektiv das Gefühl, daß man füreinander da ist, daß man füreinander sorgt und daß man damit als Gemeinschaft innerhalb eines Landes wirklich auch zum Wohlergehen aller beitrüge.
Zum anderen das subjektives Freiheitserleben: Daß die Einwohner das Gefühl hätten, eigene Entscheidungen treffen zu können und ihr Leben frei gestalten zu können.
Der Glücksforscher Stefan Klein bestätigt in seiner „Glücksformel“: »Frei in seinen Entscheidungen zu sein ist im Zweifel mehr wert, als seine Wünsche erfüllt zu bekommen. Denn die Kontrolle über das eigene Schicksal ist für die meisten von uns unabdingbare Voraussetzung von Glück und Zufriedenheit. Sich ausgeliefert fühlen gehört zu den unerträglichsten Empfindungen. Menschen und auch Tiere reagieren darauf mit schweren seelischen und körperlichen Störungen. Wenn etwas Ersehntes nur um den Preis von abhängigkeit zu bekommen ist, fährt darum meist besser, wer die Freiheit wählt.«
Für mich übrigens sämtlich Faktoren, die ich auch in meinen Beziehungen erfahren möchte, wenn ich mich darin wohlfühlen will…

Direkt in die betroffenen Länder hineingefragt, wird es noch konkreter – speziell in Hinsicht auf die oben erwähnten Schuldzuweisungen und Abwärtsvergleiche.
In Finnland, welches derzeit auf Platz 1 steht, lernen bereits Schüler*innen, ihre Emotionen wahrzunehmen und zu benennen. Die Lehrerin Annika Lehikoinen sagt dazu: „Jugendliche sind sehr emotional, und sie lernen, dass es in Ordnung ist, alle Gefühle zu empfinden. Es ist sehr wichtig, dass sie verstehen: Auch wenn ich negative Gefühle habe, muss ich jedem Menschen mit Wertschätzung begegnen.“ Ich höre da Matt Haig heraus und seinen Hinweis „Oft wird das Erkennen eines Problems, achtsam dafür zu sein, zur Lösung selbst.“

Der kanadische Ökonom John Helliwell hat die finnische Gesellschaft noch eingehender analysiert. Es erklärt:
»Die eigene Zufriedenheit hängt in Finnland stark mit der Zufriedenheit anderer zusammen. Die Finnen vertrauen einander, sie kümmern sich umeinander. Und sie haben ein sehr hohes Maß an Chancengleichheit. Finnen vergleichen sich weniger, stehen nicht so im Wettbewerb zueinander wie Menschen in vielen anderen Ländern.«
Der finnische Psychologe Frank Martela unterstreicht dies, indem er beschreibt, daß es nicht unbedingt darum gehe, daß Finnland die meisten übermäßig glücklichen Menschen habe, sondern eher, daß es in Finnland nur sehr wenige extrem unglückliche Menschen gebe. Dies trage auch dazu bei, dass sich die Menschen weniger mit anderen vergleichen würden. Gerade dieser Ausgleich mache einen Unterschied. Eine finnische Volksweisheit würde besagen: „Man muss nicht neidisch sein.“ Denn auch wenn ein anderer etwas Besonderes hat oder kann: Mir fehlt trotzdem nichts, mir wurde schließlich nichts weggenommen.

Glücksforscher Klein wird diesbezüglich in seiner „Glücksformel“ hier sehr deutlich. In seinem 13. Kapitel („Die Macht der Perspektive“) nennt Klein fünf „Fallen“, die dem Empfinden von Zufriedenheit und Glück direkt entgegenstehen würden. Die Fallen vier und fünf heißen – kaum verwunderlich –„Seitenblicke“ und „Neid“ und Klein schreibt unverblümt: „Wer sich vergleicht, verliert“ – da Menschen über diese inneren Widersacher sogar bereits gewonnene Zufriedenheit sehr leicht wieder zunichte machen könnten.

Und Klein stimmt im selben Kapitel dem Ansatz der finnischen Lehrerin Annika Lehikoinen daher zu: Viel Un-Glück ließe sich vermeiden, wenn man wüßte, worauf man wie reagiert. Der Weg sei daher, der Wahrnehmung im Augenblick selbst mehr Beachtung zu schenken, als wir es gewohnt sind. Es sei enorm förderlich, die Fähigkeit zu trainieren, Emotionen zu bemerken, bevor sie durch Vergleiche, Gedanken und Gedächtnis verzerrt würden.
Zugleich würden Menschen sich oft um ihr Behagen bringen, weil sie ihre echte Zufriedenheit meist nur zu nebulös spüren würden, speziell, weil sie – wenn alles wie gewünscht läuft – nur allzu gerne bereit wären, ihre Aufmerksamkeit schweifen zu lassen. Aber eben auch gerade gute Gefühle, simpel wie die angenehme Empfindung einem vertrauten Menschen gegenüberzusitzen, solle man ganz auskosten.

Klein weist daher auf das sozio-oekonomische Panel „Leben in Deutschland“ hin, welches mit seinen Erhebungen hierzulande „glückliche Umstände“ mit ans Tageslich gefördert hat:
Die zufriedensten Menschen in Deutschland seien dementsprechend mit Abstand diejenigen, die dem Glück ihrer Mitmenschen ebenfalls Vorrang einräumten. So würde sich im besten Fall eine Gemeinschaft abbilden, die sich verbunden fühlt, die füreinander wechselseitig mit Hilfe einstehe – sogar, wenn politische Überzeugung gefragt sei („…wenn das Persönliche politisch ist, dann ist es auch das Psychologische…“).
Das grundlegende Fundament für Zugehörigkeit und jede wahrhaftige Gemeinschaftlichkeit.

All dies gesagt über die Basis von Glück und Zufriedenheit in unseren nahen und allernächsten Beziehungen, scheint es mir darum heute richtig, auch das Schlußwort dem Schriftsteller Matt Haig zu überlassen, der schrieb:

Vielleicht geht es beim Glück nicht um uns als Individuen.
Vielleicht ist es nicht etwas, das in uns hineinkommt.
Vielleicht wird Glück als etwas empfunden, das nach außen geht, nicht nach innen.
Vielleicht geht es beim Glück nicht darum, was wir verdienen, weil wir es wert sind.
Vielleicht geht es beim Glück nicht darum, was wir erlangen können.
Vielleicht geht es beim Glück um das, was wir bereits haben.
Vielleicht geht es beim Glück um das, was wir geben können.
Vielleicht ist Glück kein Schmetterling, den wir mit einem Netz fangen können.
Vielleicht gibt es keinen bestimmten Weg, glücklich zu sein.

Vielleicht gibt es sogar nur Vielleichts.
Wenn (wie Emily Dickinson sagte) „die Ewigkeit aus lauter Jetzts besteht“, vielleicht besteht dann das Jetzt aus lauter Vielleichts.
Vielleicht besteht der Sinn des Lebens darum darin, die Gewissheit aufzugeben und die wunderbare Ungewissheit des Lebens zu umarmen.
*



ª „Polykül“ ist ein humorvolles Kofferwort aus Polyamorie und Molekül und bezeichnet eine Gruppe oder eine Reihe von Menschen, die sich miteinander in ethisch non-monogamen Liebes-Beziehungen befinden. Da diese „Gebilde“ bzw. Gruppen, wenn man sie zu graphischen Verdeutlichung aufzeichnet, gerne einmal wie Kohlenwasserstoffringe, komplexe Moleküle oder andere mittelkettige Verbindungen aussehen können, ist dafür der augenzwinkernde Ausdruck „Polykül“ entstanden.

¹ Stefan Klein, „Die Glücksformel – oder: Wie die guten Gefühle entstehen“, Fischer 2012; erweiterte Neuausgabe 2014

² Paul Watzlawick, „Anleitung zum Unglücklichsein: Inspirationen zum Glücklichsein und für mehr Achtsamkeit“, Piper; 5. Edition Juli 2021

³ Urban Priol in SR-Gesellschaftsabend Nr. 294; Sendereihe des Saarländischen Rundfunks

* Sämtliche Langzitate dieses Eintrags von Matt Haig stammen aus: „Mach mal halblang. Anmerkungen zu unserem nervösen Planeten“, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 4. Edition (22. März 2019)

Ich danke dem Archiv der Tagesschau für den Artikel zum Weltglücksbericht 2024 „Finnland bleibt glücklichstes Land“ (Stand: 20.03.2024 11:28 Uhr) und dem Interview mit Judith Mangelsdorf „Einer der stärksten Faktoren ist das Füreinander“ (Stand: 20.03.2024 14:59 Uhr)

Und natürlich Dank an Zachary Nelson auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 100

Ressourcenkuchen

Festwochen auf dem Oligoamory-bLog – und ein Jubiläum folgt dem nächsten: Der 100. Eintrag ist heute zu bewundern! Hinter dem raschen Wechsel herausragender Wegmarken (letzten Monat erst haben wir 5 Jahre Oligoamory gefeiert) steckt diesmal allerdings vor allem rechnerische Finesse: Da ich im ersten Jahr meines Bloggens jeden Monat 4 Artikel verfaßt hatte, ergibt sich auf diese Weise der 100. Eintrag durch die Summe fleißiger 61 Monate, nachdem in Jahr Zwei mein Projekt zu einer Monatsschrift geworden war.

Für die schöne runde Zahl gibt es natürlich trotzdem Kerzen und Kuchen – und Letzterer ist quasi Sinnbild für mein heutiges Thema, welches in der Welt ethischer Mehrfachbeziehung immer wieder einen wichtige Rolle spielt: Ressourcen.

Eine Ressource, so sagt die deutschsprachige Wikipedia, ist „ist [ein] Mittel, [eine] Gegebenheit wie auch [ein] Merkmal bzw. [eine] Eigenschaft, um Ziele zu verfolgen, Anforderungen zu bewältigen, spezifische Handlungen zu tätigen oder einen Vorgang zielgerecht ablaufen zu lassen.“ Der Wikipedia-Eintrag ergänzt ferner: „Eine Ressource kann ein materielles oder immaterielles Gut sein, […] in der Psychologie auch Fähigkeiten, persönliche Eigenschaften oder eine geistige Haltung, in der Soziologie auch Bildung, Gesundheit, Prestige und soziale Vernetzung. In psychologischen und psychosozialen Handlungsfeldern werden häufig auch die Begriffe „Stärken“ oder „Kraftquellen“ benutzt.“

Drei Sätze aus einer Online-Enzyklopädie und schon wird deutlich, daß niemand, die*der sich in eine Struktur mehrerer romantischer Partnerschaften – und eben womöglich mit mehreren real existierenden Partner*innen – einbringt, um dieses Thema herumkommt.
Denn für dann wirklich im grünen Leben wurzelnde, tatsächlich praktikable Mehr-Personen-Netzwerke sind die persönlichen Ressourcen eine entscheidende – wie sagt man heute neudeutsch? – „Benchmark“ (in etwa: Vergleichsmaßstab), exakt was ihre Realisierbarkeit, ihr Zustandekommen und ihre Fortführbarkeit angeht.
Warum dies so wichtig ist, skizzierte ich bereits im ersten Jahr dieses Projekts hier in meinem „Dating“-Eintrag 30, indem ich fragte: „Habe ich derzeit die Kapazität in meinem Leben, einen (weiteren) GANZEN Menschen als solchen zu würdigen?“
Diese Frage stellt sich selbstverstänlich bei der Aufnahme jedweder Form von romantischer Beziehung – wenn es allerdings um ein Leben mit noch mehr als nur eine*r*m weiteren „Beziehungsteilnehmer*in“ geht, kann sich die Herausforderung der Ressourcenbereitstellung und -zuwendung entsprechend potenzieren (zumindest erscheint es manchmal so…).

Womit wir auch bei unserem heutigen Titelfoto mit dem (Jubiläums-)Kuchen als Ressourcensinnbild angekommen wären. Welches ich hübsch passend finde, denn natürlich ist so ein Kuchen normalerweise da, um hoffentlich mit anderen geteilt zu werden.
Zugleich… – wie er da so liegt, vorgeschnitten in seiner Kunststoffschale – scheint auch diese Ressource ihrerseits genau genommen Teil von etwas Größerem zu sein. Das ist wunderbar: Sage ich über ethische oligoamore Mehrfachbeziehungen doch nahezu seit der ersten Stunde (und so steht es auch auf meiner Startseite), daß es bei ihnen um ein Erleben geht, welches „größer ist als die Summe ihrer Teile“

Die Jetztzeit mit Klimawandel und ökologischem Umdenken zeigt uns aber auch, daß Ressourcen eben nicht unendlich sind. Dies gilt auch für unsere persönlichen Ressourcen in Beziehungen. Nicht zufällig ist der Untertitel des Oligoamory-Projekts „verbindlich-nachhaltige Beziehungen“ (und über den „Nachhaltigkeits-Teil“ spreche ich bereits im letzten Abschnitt von Eintrag 3).
Begrenzte Ressourcen führen dazu, daß mit ihnen aufmerksam gehaushaltet werden sollte, was jedoch manchmal zu Aufteilung und Rationierung führt: Was, wer wann, wovon, wieviel erhält – und schon hat man statt üppiger Torte ein rein funktionales Tortendiagramm vor Augen, mit seinen farbigen größeren und kleineren Segmenten…

Diese Tendenz macht auch vor Mehrfachbeziehungen nicht halt – denn Teilhabe an einem Kuchen, zu dem alle beitragen, ist ja nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite beschreibt der britische Entschleunigungs-Autor Matt Haig folgendermaßen:

»Obwohl es heißt, dass der Dichter Samuel Taylor Coleridge der letzte Mensch war, der alles gelesen hat, ist dies technisch unmöglich, da er 1834 starb, als es bereits Millionen von Büchern gab. Interessant ist jedoch, dass die Menschen der damaligen Zeit glauben konnten, dass es möglich war, alles zu lesen. Heute könnte das niemand mehr glauben.
Wir alle wissen, dass, selbst wenn wir den Weltrekord im Schnelllesen brechen, die Anzahl der von uns gelesenen Bücher nur einen winzigen Bruchteil der existierenden Bücher ausmachen wird. Wir ertrinken in Büchern, so wie wir in Fernsehsendungen ertrinken. Und doch können wir immer nur ein Buch lesen – und nur eine Fernsehsendung zur gleichen Zeit sehen. Wir haben alles vervielfacht, aber wir selbst sind immer noch individuelle Einzelwesen. Es gibt uns nur einmal. Und wir sind alle kleiner als das Internet. Um das Leben zu genießen, sollten wir vielleicht aufhören, darüber nachzudenken, was wir niemals lesen und sehen und sagen und tun werden, und anfangen, darüber nachzudenken, wie wir die Welt innerhalb unserer Grenzen genießen können. Nach einem menschlichen Maßstab zu leben. Wir sollten uns auf die wenigen Dinge konzentrieren, die wir tun können, und nicht auf die Millionen von Dingen, die wir nicht tun können. Uns nicht nach parallelen Leben sehnen. Eine angemessenere Form der Mathematik finden: Eine stolze und einzigartige Eins zu sein. Eine unteilbare Primzahl.«
¹

Hoffen wir also, daß wir unsere Mehrfachbeziehungen nicht aus dem Vervielfältigunsreflex heraus gewählt haben, nur ja nichts zu verpassen. Die Versuchung, auch mehrere Beziehungen als „parallele Leben“ zu führen, ist jedenfalls in der Polyamory sehr real (meine Sorge darum bereits Eintrag 2!). Selbstfürsorge ist hingegen angeraten, wenn Mehrfachbeziehungen in Hinblick auf unsere Ressourcen „nachhaltig“ geraten sollen.

Grundsätzlich würde ich dabei meiner Erfahrung nach zwischen „äußeren“ (z.B. Geld/Einkommen, Transportmittel, Wohnraum, Infrastruktur, Zugang zu Unterstützung, Rechtsstaalichkeit etc.) und „inneren“ Ressourcen (u.a. Resilienz, Empathie, Offenheit, Beziehungsfähigkeit, Konflikt- oder Kritikfähigkeit usw.) unterscheiden – wiewohl es da Überschneidungen gibt:
Ein typisches Phänomen für Überschneidungen ist bereits der Zeitpunkt – unübertroffen aus dem Englischen mit dem Begriff „Timing“ versehen – beispielsweise: Muss ich mich momentan um die Heimeinweisung meiner Mutter kümmern, die letzte Woche ihre Demenzdiagnose erhalten hat? Oder bin ich gerade im dritten Trimester schwanger?
Versteht mich richtig: Wenn die Liebe in unseren Leben Einzug hält, dann fragt diese oft nicht unbedingt danach, ob es gerade günstig ist. Aber manchmal gibt es schwerwiegende äußere Umstände und Prozesse, die uns schon rein faktisch – aber eben auch mental sowie psyschisch – so sehr mit Beschlag belegen, daß wir möglicherweise gerade nicht die beste Variante unseres Selbst sind – auch hinsichtlich unserer Fähigkeit, mit noch zusätzlichen, wegweisenden Entscheidungen über den aktuellen Stress hinaus konfrontiert zu sein (weitere typische „Überschneidungsressourcen“ sind daher z.B. auch Gesundheit, Integration/Teilhabe, sowie sozial Einbettung u. persönliche Kontakte insgesamt).

Überhaupt die wichtige „Ressource Zeit“ – scheinbar ein mathematischer äußerer Faktor, der unsere Lebenszeit buchstäblich in die Tortendiagramm-Segmente des Zifferblatts presst: Zeit für Essen, Schlafen und die Verbindlichkeiten, die wir eingegangen sind, z.B. häufig Arbeit – aber eben auch andere Engagements und Beziehungen vielfältiger Natur, denen wir gerecht werden wollen. Wir beginnen folglich mit dem Einteilen – und Aufteilen – und der organisatorische Aufwand der damit einhergeht, wächst proportional mit der Verknappung, die wir selbst mit vorantreiben.

Der Autor Matt Haig hat aber recht, wenn er verdeutlicht, daß eben – wie es die Redewendung über die Liebe verspricht – durchaus nicht alles stets „mehr wird, wenn man es teilt“. Denn am Ende aller Vervielfältigung, Multiplikation und jedwedem „mehr“ bleiben wir selbst – mit unseren Sinnen und Empfindungen, die uns das Erleben ermöglichen – un-teilbar (siehe letztes Drittel Eintrag 98: In-dividuum).
Und gerade weil dies so ist, besteht die Gefahr, daß wir beginnen, unsere Lebenszeit – auch und speziell was unsere Beziehungen angeht! – immer dünner zu verstreichen, bis wir uns so vorkommen, wie es der Fantasy-Autor J.R.R. Tolkien den armen geplagten Bilbo im Herrn der Ringe (Bd.1 „Die Gefährten“) sagen läßt: „Ich fühle mich dünn, irgendwie gestreckt, wie Butter, die auf zuviel Brot verstrichen wurde.“
Von Torte und Genuß ist da längst nichts mehr übrig. Von nachhaltig ganz zu schweigen…

Was unsere Ressourcen angeht, können wir uns aber noch durch zwei weitere Faktoren zu Fehlschlüssen verleiten lassen, die wiederum eher dazu führen werden, daß wir uns sprichwörtlich „zuviel auf den Teller laden“ – und dann aus einem eventuellen (Vor)Sorgekarussell gar nicht mehr beizeiten aussteigen können.

Zum einen ist dies in der ungünstigen biographischen Lernerfahrung begründet, die ich bereits in Eintrag 27 und Eintrag 98 mit den Worten Friedrich Schillers „Der Starke ist am mächtigsten allein“ benannte.
Solch ein manifestierter Glaubenssatz entsteht meist durch negative (Lebens)erfahrung, daß man sich auf andere nicht verlassen kann, woraus häufig die Einstellung resultiert, daß „…wenn du etwas getan haben willst, du es lieber selbst tun solltest…“

Zum anderen kann dies geschehen, wenn wir es mit dem schönen oligoamoren Prinzip „die anderen (Beteiligten) mit-hineindenken“ aus Eintrag 53 übertreiben und versuchen, die Hoheitshemisphäre der anderen Beziehungsteilnehmer*innen in einer gewissen Form vorauseilenden Bedenkens mitzumanagen.

Diesen Teil schreibe ich, weil es etwas ist, bei dem ich mich selbst doch immer wieder ertappe – genau weil ich vergessen, daß es sich bei den anderen Beziehungsbeteiligten doch wahrhaftig ebenfalls um GANZE, kompetente Personen handelt.
Dann überrasche ich mich dabei, wie ich hinsichtlich Verabredungen bereits mit km-Abständen und Navigationsanwendungen jongliere, wenn ich mit Mahlzeitenplänen hantiere oder die Fürs und Wieders ganzer Wochenendplanungen mit den mir bekannten Vorlieben und Abneigungen der Teilnehmenden abgleiche…
Und bevor ich so ein Koordinations-Ungeheuer auch nur annähernd erfolgreich erlegt hätte, erreicht mich manchmal zur Rettung dann eine E-Mail irgendeines Lieblingsmenschens, der mir schreibt, wie sie*er die (für mich erschreckend lästigen) km problemlos zu mir kommt; was sie*er zu essen mitbringt und daß wir doch gar nicht soviele Aktionspunkte bräuchten, weil unser gemeinames Zusammentreffen schließlich die wichtigste Priorität sei. Punkt.

Manchmal aber auch nicht – und ich verheddere mich gänzlich unnötig in einem Gewirr gut gemeinten, vorauseilenden Gehorsams, abgeschmeckt mit ein paar unterschwelligen Bevormundungen aufgrund meinerseits unterbliebenen Nachfragens…

Solch ein ungünstiges „Katz-und-Maus-Spiel mit sich selbst“ kann man übrigens richtig auf die Spitze treiben. Denn natürlich ist es gut und richtig, sich über seine Ressourcen klar zu werden – und über das, was an Kapazitäten für (weitere) eigene Beziehungen (noch) zur Verfügung steht. Sich allerdings zu fragen, was man denn einer anderen Person überhaupt zu bieten hätte, wo man doch schon ein so volles Leben hat, ist ein vor allem selbstzerfleischendes aber letzlich recht substanzloses Unterfangen – da es doch die Augen und Herzen der anderen sind, die hoffentlich uns ihrereseits aus ganz eigenen – und spezifisch guten Gründen wählen.

Womit ich sagen will: In Beziehung zu SEIN kann uns leider immer noch gelegentlich vegessen lassen, daß wir darin nicht die Last des Universum nur auf unseren Schultern tragen müssen. Oder daß bloß unsere Schultern die besten wären, auf denen es ruht…
Eine wichtige Ressource ist nämlich auch, die Grenzen der eigenen Beherrschbarkeitssphäre zu würdigen.
Zum einen, daß wir uns nämlich endlich davon befreien dürfen, indem wir ja gerade NICHT allein sind, in allem immerfort stark sein zu müssen.
Denn zum anderen sind die übrigen (Beziehungs)Beteiligten doch ganz und gar großartige, fähige – ja eben – GANZE Menschenkinder, mit gänzlich eigenen Ideen, Talenten und Ressourcen, die Gebiete und Reserven betreffen können, welche vermutlich durchaus anders als die unsrigen gegründet sind.
Ideen, Talente und Ressourcen also, die uns wiederum das außergewöhnliche und wohltuende Erleben davon ermöglichen, doch aus etwas Größerem zu schöpfen als der bloßen Summe der Teile…

Natürlich bleibt es in ethischen (Mehrfach)Beziehungen richtig und wichtig, bei dem, was die Auswirkungen eigenen Planens und Handelns auf anderen Beteiligten angeht, diese „mit-hineinzudenken“. Egoistisch verwaltete Ressourcen, die nach eigenem Gutdünken vor allem unter Maßgabe größtmöglichen Eigennutzens zugewiesen werden, machen uns beziehungsunfähig und wenig liebenswert.
In Übereinstimmung mit den Worten von Matt Haig oben hat diesbezüglich z.B. der deutsche Sozialpädagoge und Konfliktforscher Klaus Wolf schon zu Beginn dieses Jahrtausends herausgearbeitet, daß eben auch individuelle selbstfürsorgliche Bewältigungsstile wie Optimismus bzw. Hingabe (im Sinne von: Zuwenden, Sich-öffnen, Empfangen) zu den essenziellsten persönlichen Ressourcen zählen.²
Und genau darum erlaubt uns das Anteilhaben an intimen Nahbeziehungen ebenfalls, bezüglich unserer Ressourcen gerade dort diese einzigartige Stimmung zu erfahren, die für mich am eindrücklichsten der empfindungsreiche österreischische Lyriker Rainer Maria Rilke in Worte fasste³:

Rast!
Gast sein einmal.
Nicht immer selbst seine Wünsche bewirten

mit kärglicher Kost.
Nicht immer feindlich nach allem fassen;
einmal sich alles geschehen lassen und wissen:
was geschieht, ist gut.



¹ Matt Haig: „Mach mal halblang. Anmerkungen zu unserem nervösen Planeten“, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 4. Edition (22. März 2019)

² Klaus Wolf: Sozialpädagogische Interventionen. In: Karin Lauermann, Gerald Knapp (Hrsg.): Sozialpädagogik in Österreich. Perspektiven in Theorie und Praxis. Band 3. Verlag Hermagoras/Mohorjeva, Wien, S. 92–105, hier S. 95; 2003

³ Auszug aus: Rainer Maria RilkeDie Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, geschrieben 1899, erste Veröffentlichung in der Insel-Bücherei 1912

Danke an MatissDzelve auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 99

Don’t dream it – be it…!

Liebe Leser*innen, es ist soweit:
Mit dem heutigen 99. Eintrag wird das Oligoamory-Projekt unglaubliche 5 Jahre alt!
Für einen privaten bLog im Einmannbetrieb ein stolzes Alter, welches viele ähnliche Unternehmungen nicht erreichen, die ja alle ebenfalls mit Leidenschaft und dem überzeugten Enthusiasmus, zu einem bestimmten Thema etwas zu sagen zu haben, irgendwann einmal begonnen hatten.¹
Dementsprechend rufe ich Euch heute zu: „Ich bin noch hier!“ – und gemäß den drei wichtigsten Werten der Oligoamory „Verbindlichkeit“, „Einlassung“ und „Berechenbarkeit“ werde ich mich bemühen dafür zu sorgen, daß dies auch nächsten Monat wieder gilt, so wie in den 60 vorangegangenen zuvor.

In gewisser Weise ist es schon kurios. Vor fünf Jahren um diese Zeit im Jahr war gerade meine letzte polyamore Mehrfachbeziehung mit Mißverständnissen und Grenzverletzungen (auch von meiner Seite) zuende gegangen. Genau genommen war es sogar das Ende einer Dreier-Serie kürzerer polyamorer Arrangements, die sich nacheinander aufgelöst hatten und sämtlich ein maues Gefühl von – wie sagt man heute neudeutsch? – „Underperformance“ hinterließen, ja, eben: unter den potentiellen Möglichkeiten geblieben zu sein.

Eine Flucht in eine weitere Beziehung hinein zeichnete sich damals nicht ab – und wurde von mir zugleich als höchst kontraproduktiv empfunden.
Ich brauchte also dringend einen grünen Stecken, um trotz der frischen Blessuren auf dem Herzen meiner Beziehungsphilosophie dennoch treu zu bleiben und erst einmal weiter voranzukrücken – sowie einen Reflektionsraum, um mir meiner Lernerfahrungen aus dem Erlebten klar zu werden – und zugleich festzuhalten, was ich mir denn von einer intimen romantischen Nahbeziehung mit mehreren Beteiligten eigentlich für mich wünschen würde (ein Prozess, den ich in eingermaßen unbedarfter Weise zuvor jedesmal ausgelassen hatte).
Zusätzlich war ich davon ausgegangen, daß die Menschen, mit denen ich Beziehungen eingegangen war, unter der Wortfolge „ethische Mehrfachbeziehung“ in etwas dasselbe verstehen würden wie ich. Speziell herauszufinden, daß dies ganz und gar nicht so war, stellte für mich eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse dar, die ich aus jener Zeit gewonnen habe.

Ok, dies ist jetzt vermutlich ein etwas ernster Einstieg in den heutigen Jubiläumsartikel…
Dennoch, ja, aus dieser Wurzel sproß die Oligoamory hervor, wuchs und entfaltete sich mit jedem Eintrag – und stärkte damit zugleich meine Zuversicht in eine Art zu Lieben, die ich für mich selbst aus dem tiefsten Inneren empfand: Die Möglichkeit, einige (wenige) ausgewählte Personen gleichzeitig romantisch zu begehren und wertzuschätzen.

Von da an wurde die Oligoamory, die gewissermaßen als „meine Reise“ begonnen hatte, immer stetiger auch zu „Eurer Reise“, inklusiverweise sollte ich sogar noch besser sagen zu „unserer Reise“ – als Unternehmung und Herzensangelegenheit all derer, die in diesem besonderen Bereich der Zwischenmenschlichkeit ähnlich empfinden.

Von der ersten Stunde an stand die „Oligoamory“ dabei aber nicht als Sturzgeburt im luftleeren Raum. Weil ihr Autor und Reiseleiter ein bekennender Idealist ist, stand sie vielmehr auf den Schultern all derjenigen, die bereits zuvor der Möglichkeit von Mehrfachbeziehung ihr Leben (oder zumindest einen wichtigen Teil davon) gewidmet hatten – UND diesem Ganzen darüber hinaus stets konsequent das wichtige Wörtchen „ethisch“ hinzugefügt hatten, um es klar von Unehrlichkeiten, Betrügereien, Affären oder Geliebtenstatus abzugrenzen.
Womit sich der Kreis schloß, weil dies die Bedeutung der „Arbeit am Selbst“ deutlich hervorhob: eben genau herauszufinden, was Menschen für sich selbst von einer solchen Art von Beziehung erhoffen würden – sowie zugleich nach eigener Aufgestelltheit einzubringen in der Lage wären…

Wenn ich heute den 99. Eintrag abfasse, dann fallen mir drei weitere Einsichten ein, die mir während der vergangenen Jahre immer wieder aufgefallen sind:

Erstens, und darum nicht zufällig an dieser Stelle von mir genannt, wie wichtig es ist, auch im „Reich der Poly- oder Oligoamory“ Beziehungen zu Menschen zu suchen, aufzunehmen und zu unterhalten – und eben nicht zu Beziehungen.
In ihrem Polyamory-Buch „More than Two“ ² – und auch auf ihrer ehemaligen gemeinsamen Webseite – postulierten die Autoren Franklin Veaux und Eve Rickert diese wichtige Maxime sogar als fundamentales Prinzip welches sie auch dementsprechend konsequent in ihrer Beziehungs-Grundrechteerklärung verankerten.
Was hier im ersten Augenblick als merkwürdig selbstverständlich erscheinen kann, ist es – speziell wenn man sich zwecks Orientierungshilfe durch knapp 600.000 Wörter Oligoamory wühlt – hingegen ganz und gar nicht. Denn die Gefahr, am Ende „function follows form“ (dt.: „der Zweck folgt der Form“) zu erliegen, ist überraschend groß. Das muß nicht unbedingt wie in dem klassischen „Worst-Case-Szenarien“ bedeuten, daß Menschen in Mehrfachbeziehungen nur dann ein bestimmtes vordefiniertes Plätzchen mit ihrer Rolle zugewiesen wird, wenn sie buchstäblich zuvor eine „Beziehungsrahmen-Vereinbarung“ signiert haben (kein Witz: es gab/gibt Mehrfachbeziehungen, die dies wirklich mit einem selbstgeschriebenen Regularium abzubilden versuchen…). Nein, die viel gegenwärtigere Gefahr ist, daß wir uns selbst im Alltag schlicht unbewußt eine „Beziehungsrahmen-Brille“ aufsetzen und damit Menschen, denen wir begegnen – und die uns vielleicht sogar zugewandt sind – einer Art „ethischer Mehrfachbeziehungscheckliste“ anheimfallen lassen.
Was für uns, als Bekennende ethischer Mehrfachbeziehungen, die Sache aber meist noch schwieriger macht ist, daß speziell wir auch „von außen“ oft nur in dieser eingeschränkten Sicht, also lediglich in unserer Eigenschaft als „Mehrfachbeziehungsführer*innen“ wahrgenommen werden. Und das ist nicht nur problematisch, sondern erstickt meistens jeden anfänglichen zarten Beziehungsaufbau im Keim.
Genau dieser anfängliche zarte Beziehungsaufbau ist ein ganz sensibler Prozess. Denn natürlich ist es im zweiten Schritt von absoluter Wichtigkeit, um allen Seiten eine informierte Wahl zu gewähren, direkt die für sich gewählte Beziehungsphilosophie und die eigene Identifikation damit offenzulegen. Aber der ERSTE Schritt ist und bleibt, herauszufinden, ob sich da Menschen gegenseitig mögen, füreinander empfinden, sich richtig gut leiden können…!
Zu oft habe ich in den letzten 5 Jahren erlebt, daß die an den Anfang gestellte Abklärung hinsichtlich des Beziehungsmodells jeden Verliebtheitsfunken, nahezu schon bevor noch ein solcher erglühen konnte, vorerwartungsmäßig erstickte. Und dies ist kein menschliches Maß, wenn eben die Form wichtiger gerät als der Zweck. Wieviel Mitmenschlichkeit, wieviel Verständnis, Unterstützung, Empathie, Chance auf Verbindung, ja, auf mögliche Verliebtheit und eventuell echte Liebe lassen wir uns so entgehen?

Das 21. Jahrhundert sollte uns lehren, daß für Beziehungen keine Fertig-Blaupausen aus dem Kopierer der Vergangenheit gezogen werden können. Vielmehr ist das Gebot der Zeit, daß vereinbarte Formen immer wieder aufgesucht werden müssen und der gegenwärtigen Situation und Aktualität anzupassen sind, um Bestand zu haben und den Beteiligten angemessen zu sein.
Darum sage ich hier und heute: „Liebt, Ihr guten Leute, liebt und verliebt Euch, wenn zwischen Euch die Möglichkeit dazu besteht – und errichtet im nächsten Schritt darum herum den ethischen Rahmen, in dem sich alle Beteiligte zum größtmöglichen Maß wahrgenommen, wertgeschätzt, aufgehoben und angenommen fühlen!“
Die vowegnehmende Beziehungsrahmen-Diskussion ist in etwa, als ob jemand sagen würde „Du kaufst da Blumenkohl – ich kann dich doch nicht lieben…“ oder „Oh, du trägst Karomuster – ich will gar nicht herausfinden, ob ich dich mögen könnte…“ Das klingt albern? Dann genügt ein Blick z.B. in die sozialen Netzwerke, um desillusioniert zu erkennen, daß unser zwischenmenschlicher Diskurs mittlerweile auf diesem schalen Niveau angekommen ist. Und daß wir uns wegen kleinlicher Äußerlichkeiten die Chance vergeben, eine andere, sonst womöglich durchaus sympathische Person, näher kennenzulernen – die doch vielleicht unser Leben bereichert hätte.

600.000 Wörter Oligoamory sind (auch) eine Menge Theorie. Aber bitte laßt Euch durch diese nicht davon abhalten, dem Zweck den Vorzug vor der Form zu geben. Kommt ins Gespräch, laßt Euch auf einander ein, gebt einer ersten zarten Verbindung, den ersten vermeintlichen Funken, Luft und Raum zum atmen und wachsen: Geht daher bitte Beziehungen mit Menschen ein, nicht sofort mit Beziehungen – oder Beziehungsmodellen (so wichtig diese – und die Verständigung darüber – im zweiten Schritt auch sind).

Mein Zweitens hat in gewisser Weise mit dem obigen „Erstens“ zu tun.
In meinem letztjährigen März-Eintrag 87 schrieb ich, daß viele von „uns“ – die sich also mit dem Thema „ethische Mehrfachbeziehungsführung“ hinsichtlich ihrer zwischenmenschlichen Kontakte beschäftigen – sich oft auch in dem ein oder anderen Bereich ihres Lebens bereits „frei gedacht“ hätten (u.a. Ökologische Lebensweise, politischer Aktivismus, Queerness, Spiritualität, Identifikation mit Subkulturen, Veganismus etc.). Da solcherlei alternative Herangehensweisen häufig eine bewußte, oft widerständigen Haltung gegen eine mehrheitsgesellschaftliche Normativität benötigen, gehen diese Lebensweisen oft mit Grenzziehungen und Betonung der eigenen Identität in Sprache, Engagement, Kleidung, Wahl der Umgebung und Gleichgesinnter einher.
Eine Gefahr, beim nicht-gewöhnlich-Sein besteht nach einer Weile darin, wegen der aufgewandten Kraft, die das Außer-Gewöhnliche in einer Mehrheitsgeselschaft braucht, auch vor allem dieses Außergewöhnliche für sich selbst als maßgeblich anzunehmen.
Dies ist aber nicht nur ein Minderheiten-Phänomen, sondern es betrifft genauso die erwähnte Norm-Gesellschaft: Unsere zunehmende Event- und Leistungs-Kultur stumpft uns zunehmend gegenüber den leisen Tönen ab und läßt mittlerweile das Spektakuläre zum Erwarteten werden.
Der in Deutschland geborene spiritueller Lehrer und Selbsthilfeautor Eckhart Tolle sagte einmal passend dazu:

»Warum warten wir darauf, dass etwas Außergewöhnliches passiert, um uns lebendig zu fühlen?
Warum beginnt die Aufregung erst, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt – eine Beförderung, eine Reise, ein großer Lebenswandel?
Die Wahrheit ist, dass jeder Augenblick – ja, wirklich jeder – ein Spektakel sein kann.
Selbst die alltäglichsten Tätigkeiten, wie einen Tee trinken oder zum Bus laufen, können zu etwas Großartigem werden.
Wenn du einen Tee trinkst, nimm dir einen Moment Zeit, um die Wärme der Tasse in deinen Händen zu spüren, das Aroma des Tees zu genießen, den Geschmack auf deiner Zunge wahrzunehmen. Plötzlich wird diese einfache Handlung zu einem Erlebnis voller Sinnlichkeit und Präsenz.
Beim Gang zum Bus kannst du den Rhythmus deiner Schritte beobachten, die Frische der Luft einatmen, die Geräusche der Umgebung wahrnehmen. Du bist voll und ganz da, in diesem Augenblick, und jede Sekunde wird lebendig und bedeutungsvoll.
Dies geschieht nicht durch magische Verwandlung, sondern durch deine bewusste und präsente Wahrnehmung des Moments.«


In meinem Eintrag 45, in dem ich über die „wunderbare Alltäglichkeit des Seins“ schreibe, lasse ich dies ebenfalls anklingen. Die Gefahr, daß wie 100% Leben verpassen, weil unsere Reizschwelle längst jenseits der 110% liegt, läßt uns alles vermeintlich darunter liegende als weniger authentisch oder gar wert erscheinen. Womit wir selbst die Latte für uns selber immer höher schieben, was es denn braucht, uns noch „aus dem Häuschen“ zu bringen… Und das ist problematisch für jedweden Beziehungsaufbau – und dann auch innerhalb unserer bestehenden Beziehungen, denn durch einen künstlichen „nach-oben-Vergleich“ banalisieren und mindern wir unser derzeitiges Erleben, was dazu führt, daß wir immer schon beim nächsten (Erwartungs-)Schritt sind – und uns so nur selten wirklich im Hier&Jetzt befinden.
Liebe, die sich genau in Einlassung, Wertschätzung und Da-Sein ausdrückt ist jedoch ein vollständiger Gegenwärtigkeitsaugenblick.
Lasst uns diesen Augenblick nicht deshalb verpassen, weil wir in unserer Anspruchshaltung auf nichts weniger als die manifestierte Erscheinung des leibhaftigen Regenbogeneinhorns in Cinemascopeformat und HD warten – und dabei das Glück übersehen, welches gerade direkt neben uns die Dosenerbsen in den Einkaufswagen legt…

Drittens – und weil „Erstens“ und „Zweitens“ sich nach einer Weile nichtsdestoweniger frustrierend anfühlen können, speziell wenn sich wenig bewegt und die ersehnten Lieblingsmenschen sich absehbar nicht einfinden wollen: Bleibt Euch selbst treu. Und verliert nicht den Glauben und das Zutrauen in die Richtigkeit Eures romantischen Empfindens.
Lasst es Euch auch von niemandem absprechen oder als Phase verunglimpfen, die sich eventuell durch Mangel an Augenscheinlichkeit sicherlich erledigt hätte…
Oder gar dadurch, daß Ihr selbst vielleicht bisher nicht den letzten Schritt gewagt habt – und Euch noch nicht zu Euren Mehrfachbeziehungswünschen nach außen bekannt habt.
Denn das wäre so, als ob jemand anderes bösartig diagostizieren würde: „Was? Du bist nicht geoutet? – Dann bist Du wohl auch nicht wirklich schwul, lesbisch, trans etc…!“
Aber auch hier gilt „form follows function“ (dt.: die Form folgt dem Zweck): Ein „Outing“, der Schritt zum offenen Bekenntnis, Mehrfachbeziehungsfähig zu sein, ist der letzte Schritt in einem Prozess, dessen ursprüngliche, ausgängliche Quelle das innerste eigene Empfinden ist.
Lasst Euch das von mir zusprechen, jemandem, dem es in der Tat in den letzten 5 Jahren dann doch nicht mehr gelungen ist, Teil einer kontinuierlicheren Mehrfachbeziehung zu werden.
Denn bin ich dadurch weniger poly- oder oligoamor geworden?
Im Gegenteil, jeder Tag, jeder Schritt auf meinem Weg hat mich konstant mehr darin versichert, wer ich bin, wie es um mein romantisches Erleben bestellt ist.
Würde ich noch einmal einen weiteren Lieblingsmenschen finden, wäre niemand glücklicher als ich, na sicher. Zugleich ist die aus dem anfänglichen Tohuwabohu gewonnene Selbsterkenntnis der vergangenen 5 Jahre mein aus mir selbst und für mich selbst gewonnener Reichtum, der mir mein Leben lang bleibt (und der sich sicher noch vermehren wird, wenn ich so zurückschaue…). Und mit mir muß ich es schließlich am meisten aushalten – insbesondere, wenn ich mich unter andere, vielleicht wundervolle, Menschen begebe…

„Don’t dream it – be it!“, zu deutsch „Träum‘ es nicht – sei es !“, mit diesen Worten meiner heutigen Überschrift fordert der außerirdische Transvestit und Nonkonformist Frank-N-Furter im dem prallbunten Musical The Rocky Horror (Picture) Show sein Publikum zu unerschrockenem Dasein und Handeln auf.
Seiner Einladung kann ich mich nur anschließen, wenn wir dabei eben nicht aus dem Blick verlieren, daß wie es in Beziehungsdingen immer mit Menschen als Gegenüber zu tun haben, wir erkennen, daß unsere Wünsche außer-gewöhnlich sein dürfen – aber darum nicht automatisch „spektakulärer, besser, mehr“ bedeuten müssen (da wäre Frank-N-Furter anderer Meinung gewesen…😉) und daß Treue zu uns selbst – auch in „Dürrezeiten“ und sogar wenn unser inneres Glitzern bislang noch nicht vollständig nach außen gedrungen ist– immer die beste Form von Authentizität ist.

Schlichter als Frank-N-Furter– aber viel direkter, hat dies alles der niederländische Maler Vincent van Gogh für mich ausgedrückt, mit einem Zitat, welches ich heute zum 5-jährigen Jubiläum der Oligoamory ins virtuelle Knopfloch stecke:

»Die Normalität ist eine gepflasterte Straße,
man kann gut darauf gehen,
doch es wachsen
keine Blumen
auf ihr.«

Lasst uns also wieder abseits der Straße treffen! Noch einmal 5 Jahre lang? Soviel will ich heute nicht versprechen – aber auf jeden Fall: solange die Liebe (zum bLoggen) währt.




¹ Wie zum Beispiel das von mir ehedem hochgeschätzte feministische kleinerdrei-Projekt, welches von mehreren Autorinnen getragen wurde. Nach 5 Jahren war leider, leider Schluß…

² Das bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014

Danke an Alfonso Scarpa auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 98

Sei willkommen!

(…nicht nur am Valentinstag)

Während unseres ganzen Leben – und speziell in den Momenten, in denen wir Beziehungen eingehen, bewegen wir Menschen uns zwischen verschiedenen Polen: Zum einen wollen wir natürlich unseren Individualismus, unser Selbst, mit unserem eigenen Gedanken- und Wertesystem erhalten. Zum anderen möchten wir aber auch meist zum Wohl anderer beitragen – auf deren Unterstützung wir selbst ja ebenfalls oft angewiesen sind – und üben uns daher in Altruismus.
Altruismus – laut Wikipedia eine „Uneigennützigkeit, Selbstlosigkeit, durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Handlungsweise“ – ist daher in unseren menschlichen Beziehungen eine wichtige Eigenschaft, die allerdings – wie die sprichwörtliche Medaille – eine zweite Seite besitzt.
Und diese zweite Seite äußert sich in unserer Angst, uns durch zu starkes Eingehen auf unsere Mitmenschen und aufgrund unserer Sehnsucht nach Teilhabe und Einbeziehung quasi „aufzulösen“, uns durch Anpassung und Einordnung in Konformismus zu verlieren (Aufgabe eigener Individualität an die Normen und Meinungen der Bezugsgruppe). Wodurch wir wieder zurück zum Individualismus steuern, es mit unserer Strebsamkeit aber dabei manchmal übertreiben und bei dessen „Medaillenrückseite“, dem Egoismus (Ichbezogenheit, Selbstverliebtheit) landen…

Dies alles könnte hübsche Theorie sein, wenn wir in unseren Mehrfachbeziehungen nicht alle permanent miteinander eigentlich durch diese 4-Faktoren-Matrix pendeln würden. „Wir und die anderen“ ist DAS dynamische Grundmotiv, nach dem wir wie in einem Tanz – mal näher und mal weiter – kreisen.
Die Herausforderung: Seinen eigenen Werten und Zielen treu bleiben – und dabei nicht in Egotripping, Narzissmus oder Gängelei zu verfallen; willentlich zum Gesamtwohl einer Gruppe, der man selbst angehört, beizutragen (durchaus auch, weil es einem selbst mit zugutekommen kann) – und dies nicht zu tun aus Angst vor Verantwortung, aus Selbstunterschätzung oder der Bedürftigkeit, unbedingt dazugehören zu wollen.
Aus diesem Grund wird in der Polyamory so häufig zu der einer Mehrfachbeziehungserrichtung vorausgehenden Pflege eines gut aufgestellten Selbst aufgerufen, bzw. in der Oligoamory betone ich hier auf meinem bLog das Hervorbringen des berühmten „gemeinsame Wirs“, welches den Beziehungsmittelpunkt bilden sollte, um die Wahrnehmung von Eingebundensein bei gleichzeitiger Wertschätzung aller Beteiligten erfahrbar zu machen.
Auf diese Weise könnte die Verbundenheit, der ich u.a. meinen letzten Eintrag gewidmet habe, von dem Maß unserer Fähigkeit zur Einlassung als Individuum und unserer Bindungsfähigkeit als soziales Wesen profitieren.
Die Traumatherapeutin Maria Sanchez z.B. weist darauf hin, daß wir demgemäß über die Bindungsfähigkeit, die wir nach innen haben, auch nach außen verfügen können…

Frau Sanchez geht allerdings davon aus, daß die meisten von uns in unserer westlichen Gesellschaft bereits zu einem frühkindlichen Zeitpunkt ein Bindungstrauma erlitten haben, welches aus der Diskrepanz, wie wir urspünglich angelegt waren und wie das Außen (vor allem unsere nächsten Bezugspersonen) uns indessen haben wollte, hervorgegangen ist.¹
Ein meist unbewußter Teil von uns würde sich seither regelmäßig als „unverbunden“ erleben, speziell in Situationen, die die Verletzung unseres Wesenskernes um den Preis der Anerkennung durch Bezugspersonen (bzw. später: Beziehungs- und Lieblingsmenschen!) berühren würden.

Der Sozialwissenschaftler Stefan Ossmann sagte vor drei Jahren in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung: „Das knappe Gut [in polyamoren Beziehungen] ist nicht Liebe oder Sex, sondern Aufmerksamkeit.“ ²
Eine ziemlich präzise Beobachtung würde ich sagen, eingedenk vieler der von mir verfolgten Filmbeiträge, Situationsbeschreibungen und Forumsdiskussionen zu unserem Thema – und vor allem der dort regelmäßig dargestellten Herausforderungen und Schwierigkeiten.

Ein heute wahrgenommener Mangel an Aufmerksamkeit kann also gewissermaßen eine Art Retraumatisierung auslösen, indem jener oben erwähnte verletzte Teil von uns erneut registriert, daß es wohl (abermals / seit kurzem / jetzt aktuell) Seinsseiten an uns gibt, die wieder einmal nicht willkommen sind.
Was für die Betroffenen und die übrigen Beziehungsbeteiligten jedoch ebenfalls nicht offensichtlich ist – und für die Gesamtbeziehung problematisch wird – ist, daß wir aus einem solchen Erleben dann fast immer Glaubenssätzen ableiten, die wir uns fortan selbst sagen (oder wir bestätigen jene negativ, die ohnehin schon verankert waren).
Ich sage „problematisch für die Gesamtbeziehung“, da Verletzungen auf dieser Ebene stets in einem „Wir-Feld“ verhaftet sind, da die (re)traumatisierte Person aus einer Haltung heraus agiert, in der sie ohnehin bereits übersensibel auf ein Geschehen oder Antizipieren (Vorwegahnen) im Außen fokussiert ist – und eben bereits nicht mehr gut bei sich selbst verwurzelt ist [aus „So, wie du bist, bist du nicht ok!“ wird „So, wie ich bin, bin ich nicht ok…“].

An dieser Stelle ist ebenso zu erkennen, wie aus einem bloßen Gefühl („…da hat mich etwas irritiert…“), welches nach der Irritation abklingen würde, wenn es unbelastet wäre, eine Emotion (= Gefühl+Bewertung) entsteht, deren „Getriggertsein“ fortan weiter anhält. Ein Prozess setzt ein, der dauerhaft Lebenskraft bindet, die andernorts viel gedeihlicher gebraucht werden würde.

Die Traumatheraputin Sanchez folgert, daß solche Prozesse dazu beitragen sollten – und auf jeden Fall dazu beigetragen haben, daß wir mit bestimmten Bereichen unserer Persönlichkeit gar nicht ausgereift individuell werden durften bzw. sollten – und dementsprechend auch nicht wurden.
Sie folgert weiter, daß viele von uns dadurch „chronische Symptome“ entwickelt haben, die einem „inneren Diktator“ entsprechen, der uns mit Glaubenssätzen nach wie vor vorschreibt, wie wir statt dessen besser sein sollten, des weiteren einen „inneren Kritiker“, der uns beim vermeintlichen Scheitern abwertet – und vor allem unsere Umgebung in diesen Abwärtsvergleich einbezieht, sowie einen „inneren Verführer“, der uns mit Ablenkung im Außen (Suchtstrukturen wie Medien, Drogen, Sex, Essen, Geld/Konsum, etc…) zeitweise aus diesem Spannungsfeld herauszunehmen versucht.
Suchtstrukturen wiederum sind laut Frau Sanchez gefärlich, weil sie, wie sie es nennt, „die Bühnen vertauschen“würden: Es würde ein vermeintlich „kontrollierbares“ Substitut angeboten, statt einem Weg hin zu echter Daseinsfreude.

Wer meinem bLog bis zu diesem Eintrag gefolgt ist, weiß, daß dies insbesondere in Mehrfachbeziehungen kritisches Potential birgt, da hier „Verunsicherungssituationen“ doch andere Herausforderungen als in der Monogamie darstellen – und sei es nur dadurch, daß es dort keinen Rückzug ins „Gewohnte“ gibt, weil einerseits eventuell mit mehr „Neuanfängen“ umgegangen werden muß – aber auch weil schlicht die (nicht mal so große) Zahl der teilhabenden Personen in ihrer Vielfalt eine immer wieder veränderte Fülle an Nuancen, Facetten und Schattierungen des Miteinanders hervorbringen wird [als bei (nur) zwei langjährigen Partner*innen].
Daher bieten obendrein gerade Konflikte in Mehrfachbeziehungen das zwiespältige Potential, ausgestanden werden zu müssen – weil sich hier die Beteiligten eher mittelfristig nicht in einen falschen Burgfrieden aus Rückzug in Schneckenhäuser des Schweigens entlassen werden (was bei zwei Personen noch eine Option wäre – wie unsere Eltern- und Großelterngenerationen bewiesen…)

In Eintrag 62 nannte ich sie erstmals: Ambiguitätstoleranz ist also gefragt – die Frau Sanchez übrigens passend zum Beziehungsthema noch konkreter „Begegnungskompetenz“ nennt.
Hier sind wir also wieder als Individuum (wie gesagt aus dem Lateinischen in-dividuus : „un-teilbar“) eingeladen, diese Kompetenz aufzubauen; denn weil wir ja leider nicht vollends individuell (und vielschichtig) werden durften – wie ich weiter oben schrieb – hat dies auch dafür gesorgt, daß wir akut jedem Dilemma hilfloser gegenüberstehen, als es sonst vermutlich der Fall gewesen wäre.

Unsere Glaubenssätze und Symptome aus inneren Diktatoren, Kritikern und Verführern profitieren davon, wenn wir derart mit uns selbst und den äußeren Umständen im fortgesetzten (Unzufriedenheits-)Kampf bleiben.
Folglich hieße das für uns, aus diesem Kampf auszusteigen. Aber bitte nicht durch die nächste Verführung in Verkleidung (die ja auch als ambitioniertes Sportprogramm oder das strenge Praktizieren einer spirituellen Ausrichtung daher kommen könnte…)!

Der Weg zur erwähnten Daseinsfreude, zu einem „Ich bin“, bedeutet vor allem, gerade auch mit dieser seltsamen empfundenen Unverbundenheit in unserem Inneren in Kontakt zu kommen. Sogar einschließlich der Seiten in uns, die diese Unverbundenheit um keinen Preis fühlen möchten und uns deshalb diktieren wollen, daß ein*e Starke*r am mächtigsten allein sei*, uns als abhängig und bedürftig kritisieren – oder die uns mit nicht ganz passend zugeschnittener Zerstreuung vom Fühlen, Anerkennen und uns-selbst-Wahrnehmen ablenken möchten.
Auf diese Weise erschaffen wir für uns die Chance, dann festzustellen, daß wir doch sehr gute Gründe für all das haben, was wir fühlen: Womit wir beginnen, auch ganz stark internalisiert (in uns aufgenommene) Traumata und Glaubenssätze aufzulösen, weil wir so durchschauen, daß WIR NIE VERKEHRT WAREN!
Und da ich bereits in Eintrag 26 auf Konsequenzen ungünstig erworbenen Denkens bei Konfliktlösungsstrategien (Stichwörter „win / lose“ ) hinweise, schließt sich hier der Bogen zu Frau Sanchez‘ Eingangsbemerkung, wie sehr eben unsere Bindungsfähigkeit „nach innen“ mit unserer Bindungsfähigkeit „nach außen“ – also vor allem zu unseren Lieblingsmenschen – zu tun hat.

Unsere Vergangenheit liebt also in der Tat immer mit, wenn wir uns mit unseren Partner*innen verbinden wollen. Daher ist Begenungskompetenz so wichtig, denn dies kann nur in einem Leben in Kontakt gelingen.
Echter Kontakt bedeutet, daß diese Liebe, nach der wir uns alle sehnen, nichts von uns „weg“ oder „anders“ haben“ möchte. Liebe umarmt sogar all unsere Konjunktive von „wenn“ und „hätte“: Wahre Liebe gibt allen Seiten ein Daseinsrecht.
Und wenn – wie Stefan Ostmann oben sagte – Aufmerksamkeit das knappe Gut ist, welches wir alle begehren, dann stellen wir doch schon sehr oft fest, daß wir uns meist bereits zu wenig Zeit für uns selbst nehmen. Hier beginnt Begegnungskompetenz: Sich selbst immer tiefer begegnen – in der Liebesbeziehung zu sich selbst.
„Ich“ sollte also mehr da sein; „Ich“ sollte mehr stattfinden…

Wie so etwas beginnen könnte, das hat für mich sehr lebensnah der britische Autor Matt Haig in seinem Buch „Die Mitternachtsbibliothek“ ausgedrückt, indem er schreibt:


¹ aus: YouTube: Transgenerationstrauma, Maria Sanchez im Interview mit Simon Rilling (25.10.2022)
Zusätzlich Dank an Frau Sanchez für ihr therapeutisches Onlineangebot, aus dem ich in meinem Eintrag auszugsweise zitiere (für den Zugang zu den betreffenden Inhalten hat mein Haushalt ordnungsgemäß bezahlt).

² Online-Angebot Süddeutsche Zeitung Magazin vom 02. Juli 2021, Interview von Thomas Bärnthaler im Gespräch mit Stefan Ossmann [Polyamorieforscher an der Universität Wien] (SZPLus abonementpflichtig)

³ Matt Haig: „Die Mitternachtsbibliothek“ [2021] – Droemer TB; (10. Edition, 3. April 2023)

* „Der Starke ist am mächtigsten allein“ – Zitat aus Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, I. Akt, 3. Szene

Danke an Valiant Made auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 97 #Verbundenheit

Sicher verbunden?

Ein neues Jahr – ein neuer Jahresrückblick: Meine Einträge im zurückliegenden Jahr 2023 hatte ich ganz überwiegend unseren Lieblingsmenschen und Liebsten gewidmet:
Dazu startete der Januar-Eintrag zunächst einmal mit der Frage, aus welchen Gründen wir es uns denn wünschen würden, andere Personen überhaupt als romantische Partner*innen in unseren Leben haben zu wollen.
Im Februar fokussierte ich mich auf die in Beziehungen so häufig gestellte Frage „Liebst Du mich (noch)?“ – und wie sehr die Antwort mit dem wertschätzenden Fundament der darauf aufbauenden Verbindung zusammenhängen würde.
Demzufolge beschrieb ich im März-Eintrag unserer tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit einerseits und unseren Wunsch nach Autonomie andererseits; ein Zwiespalt, der es uns manchmal schwer macht, uns in unseren Beziehungen als berechenbar und verbindlich zu erweisen.
Darauf aufbauend beleuchtete ich im April das Thema „Exklusivität“, welche gerade im Hinblick auf Mehrfachbeziehungen immer wieder diskutiert wird – und die doch durchaus darin eine Berechtigung hat, wenn dabei das Ziel der Gemeinschaftlichkeit nicht aus den Augen verloren wird.
Darum rief ich im Mai-Eintrag dazu auf, keinesfalls als „unwiderstehliche Dating-Götter“ in die Welt hinaus zu ziehen, sondern weiterhin auf die viel bedeutsameren, wegweisenden inneren Signale zu achten, wenn wirkliche Verliebtheit und Liebe in unser Leben tritt.
Sonst würde nämlich das drohen, was ich im Juni-Eintrag persiflierte: Mangelnde Kommunikation und Selbstüberschätzung würden alsbald zu Mißverständnissen führen – sowie dazu, stets von allen anderen Beteiligten die schlimmst mögliche Motivation für ihr Handeln anzunehmen.
Im Juli ergänzte ich dies mit dem Appell, darum gut die eigene Bedürfnislage zu erforschen, um nicht mit einer zu festen Vorstellung im Kopf eine Mehrfachbeziehung als Rettungsplan für sich selbst zusammenzuzimmern.
Der August-Eintrag hob daher noch einmal hervor, wie wichtig es für die Führung von Mehrfachbeziehungen ist, unsere „Teamplayer-Eigenschaften“ mit Fähigkeiten wie Perspektivwechsel, Toleranz und Nachsicht beständig zu pflegen und zu erweitern.
Was ich im September damit konkretisierte, daß Beziehungsarbeit immer ein „Gemeinschaftsprojekt“ ist, welche nicht unter dem Druck von Pflichterfüllung, Geschäftsdenken oder gar Verlustangst immer von den gleichen Personen erledigt werden darf.
Im Oktober erläuterte ich an einem persönlichen Beispiel, wie sehr in diesen Dingen unsere Transparenz und Aufrichtigkeit für unsere Liebsten von größter Bedeutung sind, selbst wenn es für uns selbst nicht immer angenehm ist.
Der November-Eintrag behandelte noch einmal das Thema „Coming-Out“ in Mehrfachbeziehungen – und wie die Entscheidung dafür auch unser Selbstbild beeinflussen würde.
2023 endete schließlich mit dem Dezember-Artikel, der – jenseits von bewertendem Verstand und kritischem Urteil – zu Herzensgüte, Empathie und Großmut gegenüber unseren Liebsten einlud.

Herzensgüte, Empathie und Großmut wünsche ich mir auch für 2024, wenn es möglich wäre ganz besonders als Heilmittel für die zahlreichen Konflikte, die unsere Welt derzeit offensichtlich auszustehen hat.
Als bLogger Oligotropos werde ich mich daher weiter dafür einsetzen, daß Menschen in kleinen, von Liebe getragenen Gemeinschaften zueinander finden und damit eine Vision von einem harmonischeren und einverständlicheren Zusammenleben erschaffen.

Um dies zu bewerkstelligen, benötigen Mehrfachbeziehungen (die ja Thema dieses bLogs sind) nichtsdestoweniger ein hohes Maß an Verbundenheit.
Verbundenheit ist sicherlich ein Wert, der ab einem bestimmten Punkt in einer Beziehung eine gewisse „Eigendynamik“ entfaltet – speziell wenn die Beteiligten sich tief als einander zugehörig empfinden. Aber „selbsterhaltend“ oder gar „von selbst entstehend“ wird dieser niemals sein.
Denn dazu brauchen Beziehungen ebenso die tiefe Investition und Gewidmetheit ihrer Mitwirkenden.

In diesem Aspekt haben Mehrfachbeziehungen immer mit einem Schatten zu tun, im Hinblick darauf, wie sehr wir es denn wagen, uns selbst wirklich ganz darin einzubringen.
Das „mehrfach“ in „Mehrfach-Beziehung kann nämlich dazu führen, daß wir auf diese Weise glauben, ein „mehr“ an Liebe, an Verbindung, Geborgenheit, Nähe, Respekt, Wertschätzung, Intimität, Sexualität, Freundschaft, Partnerschaftlichkeit, Akzeptanz oder Freude für uns herbeiführen zu können.
Folglich beginnen wir eventuell – wenn wir das Potential dafür in uns finden – gezielt mehrere Beziehungen anzustreben.
Manchmal ist dies aber der Anfang davon, daß wir vor allem beginnen – um ein Bild zu benutzen – „unsere Butter immer dünner zu verstreichen“.
Dabei denke ich dann z.B. an das StückViel Lärm um nichts von William Shakespeare, in dem es im 2. Aufzug in der 1.Szene heißt:

Don Pedro: „Seht Ihr wohl, Fräulein, Ihr habt Signor Benedikts Herz verloren…!“
Worauf die sehr emanzipierte Beatrice antwortet:
„Es ist wahr, gnädiger Herr, er hat es mir eine Zeitlang versetzt, und ich gab ihm seinen Zins dafür, ein doppeltes Herz für sein einfaches.“

Wobei „doppelt“ hier ja in feiner Ironie nun gerade erst recht nicht für „mehrfach“ steht, sondern eigentlich für „unecht / vorgetäuscht“… (und somit noch weniger ist als „einfach“).
Ich glaube allerdings nicht, daß es für uns Betroffene hier dabei – im Gegensatz zum Shakespeare-Stück – um eine bewußte (Vor)Täuschung geht.
Gleichzeitig fürchte ich regelmäßig bei dieser Auslegung der „Viel-Liebe“ (was ja auch eine der direkten Übersetzungen von „Poly“-„Amory“ ist), daß das beste, was diese Beziehungsphilosophie eigentlich zu bieten hätte, mit solcherlei Vorgehen auf der Strecke zu bleiben droht.

Oben habe ich die Begriffe „Investition“ und „Gewidmetheit“ benutzt. Beide sind sich von der Bedeutung her sehr ähnlich, obwohl das eine von den Römern, das andere von den Germanen in unsere heutige Sprache eingewandert ist. „Investition“ stammt aus dem Lateinischen „investitio“ = Einkleidung (so wie das Wort „vest“ im Englischen übrigens heute noch ein Trägerhemd und im Amerikanischen eine Weste bezeichnet). Das Wort „Widmung“ wiederum bedeutete einst „mit einer Schenkung ausgestattet“ („Widimo“).
Wenn wir uns daher „investieren“ oder „widmen“, legen wir uns also in gewisser Weise ein neues Kleid an und verschenken uns.
Was für ein schönes Bild!
Dieses Bild beinhaltet aber vor allem, daß ich mich a) selbst bereit mache und b) die Kontrolle loslasse. Und damit sind es zwei Vorgänge, die zuvorderst erst einmal bloß ganz mit mir selber zu tun haben.
Bei meinem Wunsch nach Beziehung – und auch später IN einer Beziehung – schaue ich folglich nicht so sehr darauf, was die anderen zu meiner Vervollständigung und der Erhöhung meines Zustands beitragen könnten, sondern ich bringe mich ein – und gebe mich hin.

Gewissermaßen ist das ein ziemlicher Brocken, hübsch leicht hingeschrieben – aber wahrlich herausfordernd, es umzusetzen. Denn unsere Welt beruht weitgehend auf Kontrolle – bei gleichzeitiger Hervorhebung größtmöglicher individueller Autonomie zur Aufrechterhaltung derselben.
Zugleich führt dies aber eher parallel dazu, daß wir uns im Angesicht mancher Ereignisse meist noch machtloser und unsicherer erleben – eben weil wir immer wieder feststellen müssen, wie wenig wir eigentlich letzten Endes beeinflussen können.
U.a. der Buddhismus – aber auch ähnlich gelagerte sonstige philosophische Strömungen – haben daher „Kontrolle“ längst als Illusion entlarvt.
So schreiben z.B. die Beziehungstherapeuten Christine und Hendrik Weiß im Vorwort der deutschen Übersetzung des Buchs „Wir beide“ ¹ von Veronica Kallos-Lilly und Jennifer Fitzgerald, daß sichere Bindungen genau dann entstehen würden, wenn es den Beteiligten gelänge, sich einander zuzuwenden, sie die eigenen Verletzlichkeiten zeigen könnten und sie emotional für einander da sein möchten. Nur so würden Beziehungsbeteiligte sich sicher genug fühlen, Gefühle, Hoffnungen und Enttäuschungen miteinander zu teilen, um damit neue emotionale Erfahrungen zu machen, in denen sie sich nicht mehr als allein, isoliert oder „nicht richtig“ erleben würden – sondern als gesehen und wertgeschätzt.

Der Hauptcharakter in der Dramedy-Serie Undone, Alma Winograd-Diaz [dargestellt durch die Schauspielerin Rosa Salazar] (Staffel 2, Folge 8 „Wir haben uns alle lieb“) macht es für mich noch eindrücklicher klar:

»Vielleicht es das im Grunde die Herausforderung des Lebens: Uns uns selbst zu stellen, um unserer Beziehungen willen. Für die Menschen, die wir lieben. Vielleicht kommt es nur darauf an: Auf diese unsichtbaren Fäden, die zwischen uns und durch uns hindurch verlaufen – über all die Zeiten hinweg. Diese unsichtbaren Bänder die uns verbinden und zugleich frei sein lassen.«
Und um die Beschaffenheit und Intensität dieser Verbundenheit zu betonen, ergänzt sie bezüglich ihres verstorbenen Vaters sogar: »Ich kann kaum glauben, daß er tot ist, denn ich kann den Zug dieser Verbindung immer noch fühlen. Aber jemand sehr Cooles hat mir erklärt, dass ein Teil des Lebens darin besteht, zu akzeptieren, dass nun mal auch unerfreuliche Dinge passieren. Und dass wir Wege finden werden, sie gemeinsam zu überwinden.«

Um solcherlei Verbundenheit auskosten zu können, müssen wir uns in unseren Beziehungen also buchstäblich „selbst (wieder)finden“. Und zunehmend hat auch die Wissenschaft immer stärker herausgearbeitet, wie maßgeblich unsere (bisherigen) Bindungserfahrungen dabei eine gewichtige Rolle spielen². Noch einmal das Therapeutenpaar Weiß:
„Höchstens die Hälfte der Menschen ist ‚von Haus aus‘ sicher gebunden groß geworden. […] Diese Erfahrungen nehmen wir Menschen in unsere Bindungsbeziehungen im Erwachsenenleben mit – bis wir sie uns bewusst machen und verändern.“

Schon in meinem Eintrag 7 auf diesem bLog lege ich dar, daß Verbundenheit und Freiheit in der Welt der Mehrfachbeziehungen kein Gegensatzpaar sind.
Wir müssten darum den „Verlust unserer persönlichen Freiheit“ in dieser übrigen Welt, die dagegen so laut das Hohelied der Autonomie hervorhebt, darin durchaus nicht fürchten.
Aber es ist wichtig, um uns auch selbst darin wirklich als „verbunden und zugleich frei“ empfinden zu können, erst einmal wieder in ein eigenes Grundvertrauen zurückzufinden.

Vor einem Jahr schrieb ich, mit den persönlichen Bedürfnissen sei es oftmals wie bei einem Blick in die Speisekammer, wenn man in sich so ein ungeklärtes inneres Bestreben oder Sehnen verspüren würde – meist mit der Erkenntnis beim Blick über die Regale: „Das, was ich eigentlich brauche, ist hier gar nicht drin.“ Statt also als Lösung nun die Einkaufstour zu wählen „…dann wird bestimmt, das, was ich brauche, irgendwo da draußen sein…“, wünsche ich uns, daß wir innehalte und zu allererst bei uns selbst Einkehr halten, damit wir uns danach neu kleiden und verschenken können – dann im Vertrauen darauf, daß uns Gutes geschehen wird.



¹ Veronica Kallos-Lilly und Jennifer Fitzgerald: „Wir beide: Das Arbeitsbuch zur Emotionsfokussierten Paartherapie“, 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage Oktober 2023, Junfermann Verlag

² Über den Einfluß von biographisch erlerntem Bindungsverhalten in polyamoren Beziehungen schrieb z.B. aktuell die Autorin Jessica Fern in ihrem jetzt auf Deutsch vorliegendem Buch „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“, divana Verlag 2023

Danke an Anne Nygård auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 96

Gut behütet

#katzemithut, 🌐 Standort: Stackeln an der Kruke – Backpflaumenallee 17

Das Führen ethischer Mehrfachbeziehungen mit wenigen Beteiligten, wie ich sie mit der Oligoamory beschreibe, hat – ich weise in vielen meiner Einträge darauf hin – eine Menge mit Gemeinschaftsbildungsprozessen zu tun.

Und in meinem heutigen Beispiel ist es eine wahrlich erstaunliche Gemeinschaft, die sich zusammengefunden hat.
Ich möchte sie Euch kurz vorstellen – zuerst die Erwachsenen:
Da ist natürlich die allzeit umtriebige Katze, die stets vor Ideen sprüht und sich mit all ihren Kräften für das Miteinander einsetzt. Ein fleißig hauswirtschaftendes Huhn namens Marianne, welches gerne für einen kleinen Schwatz zu haben ist, steht ihr mit Rat und Tat zur Seite. Ebenso unterstützt sie ein etwas betagterer Hund, Kapitän Knaak, der einst zur See gefahren ist und dort allerhand praktische Fertigkeiten erlernt hat. Zu der Gruppe gehören außerdem ein lichtscheuer Gliederfüßer, welcher als „der Hundertfuß“ bekannt ist (ein eifriger Sammler ausgebrannter Glühbirnen), sowie die Zwillingsbrüder Erbsenstein, zwei Bastler und Erfinder, die sich so ähnlich sind, daß nicht einmal ihre Vornamen eine Rolle spielen. Der Senior im Haus ist ein storchenähnliches Tier, welches liebevoll als „Stolpervogel“ bezeichnet wird, da seine langen Beine mittlerweile in die Jahre gekommen sind und manchmal den Dienst versagen.
Zu der Gemeinschaft zählen aber auch Jugendliche: So gibt es eine verträumte Lama-Teenagerin, die viel Zeit am Tag mit schlafen verbringt und ein talentiertes Wildschwein-Kid, „Baby Hübner“, welches furios seinen Wunsch nach einer Musiker-Karriere an der Oper vorantreibt.
Selbstverständlich gibt es auch kleinere Kinder: Ein echsenartiges Geschöpf, welches „Zappergeck“ genannt wird und das mit seiner Impulsivität und seinem Vorwitz möglicherweise eine Hyperaktivitätsstörung ausdrückt. Und – nicht zuletzt – ein sanftes Hummel(klein)kind, die „Puddingbrummsel“, die sich ihrerseits mit der Welt der Sprache noch ein wenig schwer tut, sich aber trotzdem zu äußern vermag.

Zusammengestellt haben diese Gemeinschaft übrigens die beiden Schriftsteller*innen Desi und Simon Ruge in ihrem Buch Katze mit Hut (zuerst: Beltz & Gelberg 1980¹) sowie dem Nachfolgeband „Neues von der Katze mit Hut“ (Beltz & Gelberg 1984).
Die beiden Bücher bieten einen wunderbaren, kindgerechten Rundblick durch einen Gemeinschaftsbildungsprozeß, so wie dieser sieben Jahre später vom „Vater des Community-Buildings“, Scott Peck, für ein erwachsenes Publikum mit seinem Buch „The Different Drum – Community Making and Peace“ (Simon & Schuster, New York 1987²) niedergelegt wurde.

Auch in der „Katze mit Hut“ müssen die Gemeinschaftsmitglieder regelmäßig alle Phasen des Zusammenlebens durchlaufen, die Scott Peck in seinen Ausführungen als „Pseudogemeinschaft“ (ein erstes, eher noch oberflächliches Beisammensein), „Chaos“ (Streit, gegenseitige Belehrungen und Rechthabenwollen), „Leere“ (eine Phase der Einkehr, Neuordnung und Entspannung) und „echte Gemeinschaft“ (wahres Zusammenkommen und füreinander Einstehen) benannte.
Bei so unterschiedlichen Charakteren sollte das schließlich niemanden wundern!

Über Scott Pecks Gemeinschaftsbildungsprozeß habe ich bereits in Eintrag 8 ein wenig geschrieben, darum möchte ich hier gar nicht mehr so tief darauf eingehen.
Heute möchte ich etwas über einen Aspekt des Zusammenlebens berichten, der in der „Katze mit Hut“ in einer kleineren Randszene vorkommt, der mir aber von großer Bedeutung zu sein scheint (und ich halte es für keinen Zufall, daß Desi und Simon Ruge die Begebenheit in ihr Werk eingefügt haben):

An dem Tag, an dem die Katze den neuen Mitbewohner „Hundertfuß“ entdeckt, hören zunächst sie selbst, der Hund Kapitän Knaak und Marianne das Huhn seltsame nächtliche Geräusche über der obersten Etage. Die Katze steigt mit dem Hund zusammen bis ins Dachgeschoss (Marianne bleibt über die Küche wachend zurück), dort werden sie von einem versteckten Lebewesen angesprochen, sobald sie das Licht einschalten. Die Katze läßt den Hund das Licht wieder ausschalten, woraufhin beide den Gliederfüßer „Hundertfuß“ kennenlernen, welcher gerade dabei ist, seine Sammlung ausgebrannter Glühbirnen einzusortieren – und der sie dringlichst bittet, doch möglichst niemals das Licht einzuschalten, weil es seinen empfindlichen Augen Schmerzen bereiten würde (weshalb er überdies die Nacht für seine Aktivitäten bevorzuge). Es entsteht ein freundschaftlicher Dialog, an dessen Ende die Katze den Hundertfuß in der häuslichen Gemeinschaft willkommen heißt und ihm seinen Platz auf dem Dachboden bestätigt – und zusichert, daß er tagsüber von der übrigen Gruppe nicht gestört werden solle.
Katze und Hund begeben sich wieder zurück nach unten, weil aber Kapitän Knaak zugleich so etwas wie den Hausmeisterposten in der Gemeinschaft innehat, bittet die Katze ihn noch auf der Treppe: „Und achten sie darauf, daß ab jetzt die Fensterläden im obersten Geschoß auch tagsüber geschlossen bleiben.“ Woraufhin Kapitän Knaak so ernsthaft wie verbindlich antwortet: „Ich verstehe nicht – aber ich achte.“ [Danach kehren die beiden zu Marianne zurück und alle begeben sich zu Bett]

Erst einige Jahrzehnte, nachdem mir die „Katze mit Hut“ in meinem eigenen Leben als literarische Gestalt und auf der Puppenbühne begegnet war, spürte ich nach und nach, daß die schlichten Worte »Ich verstehe nicht – aber ich achte.« für mich einen der innigsten Ausdrücke für wahrhaftige Verbundenheit und Loyalität darstellte, der mir je begegnet war.

Für Kapitän Knaak ging das Kennenlernen des Hundertfußes nämlich fast zu schnell, auch sein Intellekt arbeitet nicht so rasch wie die flinke Auffassungsgabe der blitzgescheiten Katze: Ein neuer, etwas eigentümlicher Mitbewohner, der dunkle Dachboden, die seltsame Glühbirnensammlung…, sehr viel Information auf einmal.
Abgesehen von einem einigermaßen stabilen Vertrauen – sowohl in die Situation als auch hinsichtlich der Urteilsfähigkeit seiner Mitbewohnerin Katze – wendet Kapitän Knaak noch eine weitere wichtige Ressource auf, die über reines Verständnis hinausgeht. „Verständnis“ enthält ja bereits gewissermaßen das Wort „Verstand“ – und bedeutet damit normalerweise, daß wir eine Situation mit unserem Denken, unserer Ratio und mit Intelligenz eingeschätzt haben.
Wenn wir dies tun, schalten wir aber zugleich unsere Urteilsfähigkeit und auch stets einen gewissen Grad an Bewertung mit dazu, was – je nach unseren Vorerfahrungen oder unserer persönlichen Tagesform – nicht immer günstig ist.

Indem Kapitän Knaak zugibt „Ich verstehe nicht – aber ich achte.“, drückt er auf einer viel instinktiveren Ebene eine Anerkennung der Situation, vorbehaltlose Rücksicht, Respekt – und vor allem Einfühlung und Empathie aus (→ da ist ein Lebewesen mit einem Bedarf, den ich selbst vielleicht noch nicht ganz verstehe – aber weil ich selbst Bedürfnisse habe, bei denen ich mich freue, wenn sie geachtet werden, kann ich auch ohne exaktes intellektuelles Durchdringen der Lage fürsorgen).
Ohne groß nachzudenken und zusätzliches Kontextwissen gelingt Kapitän Knaak also in dieser kurzen Szene sogar der berühmte Perspektivwechsel, bei dem man sich gemäß Indianersprichwort „in die Mokassin der anderen stellt“.

Für einen Dezembereintrag kurz vor dem christlichen Weihnachtsfest ist das eine anrührende Botschaft – übrigens ganz ohne spirituelles Monopol – denn auch die allermeisten anderen Religionen und Glaubensrichtungen sowie zahlreiche philosophischen Strömungen der Welt möchten die Menschen überall genau zu dieser Form von Herzensgüte, Toleranz und Großmut – jenseits von bewertendem Verstand und kritischem Urteil – einladen.

Auch der Diplom-Psychologe und Paartherapeut Ulrich Wilken³, der unter anderem die BeziehungsberatungsApp „myndpaar“ entwickelt hat, nennt als die wichtigsten fünf Säulen jeder stabilen und starken Beziehung: 1. Vertrauen in die Beziehung (womit er vor allem das Grundvertrauen in die Beständigkeit der darin fließenden Liebe meint), 2. alte Muster aufspüren und überwinden (insbesondere die Selbstsabotage durch verinnerlichte Glaubenssätze wie z.B. „Ich bin nicht genug“ o. „Ich bin nicht liebenswert“), 3. das Anderssein der Partner*innen akzeptieren (vor allem Respekt und Neugierde erhalten für die Herangehensweisen und den Blick auf die Welt der Partner*innen), 4. achtsam kommunizieren (Goldene Regel: bei sich bleiben, in Ich-Form sprechen, keine „Diagnosen“ austeilen) und 5. wertschätzen, was ist (immer wieder bewußt und ohne Perfektionsanspruch die vielen kleinen Schatzmomente einer Beziehung erkennen und würdigen). [Quelle: 7mind-Magazin]

Enge menschliche Gemeinschaften, egal ob bei uns zuhause oder in der WG-artigen Tier-Kommune der Katze aus der Backpflaumenallee, sind in diesem besten Sinne stets Liebesbeziehungen.
Und diese Liebensbeziehungen sind als solche dann wahrhaftig, wenn sich dort die beiden ersten Punkte des Herrn Wilken quasi gegenseitig bedingen: „Vertrauen in die Beständigkeit der Liebe innerhalb einer Beziehung“ habe ich dann, wenn ich mich selbst dort sicher und angenommen fühle; wenn ich mich – sogar im besten Fall unbewußt – als gesehen empfinde, weil ich in vielen kleinen Dingen erlebe, daß ich berücksichtigt und respektiert werde.
Wenn wiederum dieses Erleben gegeben ist, ist mein Liebesort auch ein Vertrauensort – ein Ort, an dem ich selbst aus diesem Vertrauen schöpfen kann, ohne täglich intellektuell überprüfen zu müssen, ob ich (noch) einen Platz darin habe.
Für Mehrfachbeziehungen – wie im Fall der „Beziehungserweiterung“ durch den Hundertfuß im obigen Beispiel – bedeutet dies, daß ich dann auch gelassener in der Lage bin, mich auf die Dynamik mehrere Partner*innen (auch hinzukommender) einzulassen, weil ich ein belastbares Zutrauen in mich selbst, meine Position und zu meinen übrigen Partner*innen habe.

Ach ja – Kapitän Knaak führt uns auch die Punkte 3 und 4 liebevoll vor Augen:
Obwohl das alles für ihn doch sehr schnell ging, ist er wohl ebenfalls – wie ja auch die Katze – neugierig auf den neuen Mitbewohner. Als Hund kann er die Leidenschaft des Hundertfußes für Dunkelheit und ausgebrannte Glühbirnen nicht so recht nachvollziehen – aber da er eh schon mit einer Katze und einem Huhn in einem Haushalt zusammenlebt, hat er längst damit begonnen zu akzeptieren, daß es so viele verschiedene Sichtweisen auf die Welt gibt, wie es Menschen – Verzeihung – Mitbewohner*innen gibt. Was für ihn daher bedeutet, daß also auch der Hundertfuß mit seinen individuellen Merkmalen sicherlich zu einer Bereicherung beitragen wird.
Kapitän Knaak gelingt es in diesem Moment, kommunikativ eine Restunsicherheit mitzuteilen und dabei bei sich zu bleiben: „Ich verstehe nicht.“ Er verschiebt in dieser Weise die Verantwortung jedoch nicht auf den Hundertfuß („Der ist ja gruselig…“) oder auf die Katze („Du mit deinen vorschnellen Einladungen…!“) – sondern aufgrund seines Vertrauens in die bereits bestehende Gesamtbeziehung gelingt es ihm, optimistisch zu bleiben, wodurch er selbst seinen großen Trumpf Verbindlichkeit und Verlässlichkeit einbringen kann („Ich achte.“).

Punkt 5 (wertschätzen, was ist) ist in allen Beziehungen, die bereits eine bestimmte Lebensdauer aufweisen, sehr oft ein etwas heikler Teil (…daß es bei der „Katze mit Hut“ wohl gutgeht, können wir daran erkennen, daß es sogar zwei ganze Bücher über ihre WG gibt…):
Die „kleinen Beziehungsschätze“ aufzufinden ist nämlich ein wenig so, als ob wir Weihnachten und Ostern miteinander vermischen würden (oder den Inhalt eines Adventskalenders überall in der Wohnung versteckten). „Wertschätzung“ kann uns nämlich in vielerlei Gestalt, in Form von Worten oder Taten, sogar Gegenständen oder Dienstleistungen begegnen.
Und egal, ob es sich dabei um unsere Lieblingsschokolade oder den Extraumweg im strömenden Regen handelt: Es ist vor allem wichtig, daß wir selbst unseren Blick dafür geschärft erhalten, diese kleinen „Schätze“ als das, was sie sind, zu begrüßen – und sie nicht einer grauen Registratur aus Selbstverständlichkeit und Routine anheim fallen zu lassen.
Um Letzteres zu verhindern ist auch das Innehalten wichtig, sich (und die anderen) aktiv zu fragen, wie sie die Beziehung in letzter Zeit erlebt haben (selbst so ein Gespräch kann schon wiederum in sich ein Zeichen der Wertschätzung sein!) – und z.B. auch gemeinsam zu überlegen, wie die Beziehung für zukünftige Herausforderungen noch gestärkt werden könnte.

Wer in dieser Weise immer mal wieder in seinem Alltag – manchmal an ganz unwahrscheinlichem Ort oder in unvorhergesehener Situation – irgendwo solch einen dieser kleinen „Wertschätze“ findet bzw. erfährt, wird sich sofort in Punkt 1 (Vertrauen in das Fließen der Liebe) bestätigt fühlen.
Was zu jeder Jahreszeit die beste Autoimmunkur für unsere Beziehungen ist…

Mein Jahresendwunsch ist daher heute ein ganz einfacher. Wenn wir uns mit uns selbst und mit unseren Liebsten auf einen solchen Weg begeben, hoffe ich, daß wir alle genauso wie die Katze – und was auch immer das nächste Jahr bringen wird – aus tiefstem Herzen zusammen rufen werden:

„Aber mir gefällt es hier. Oh, es gefällt mir sehr!“




¹ Aktuell: Simon und Desi Ruge – „Katze mit Hut“, Atrium Verlag 2019 und „Neues von der Katze mit Hut“, Beltz & Gelberg 1996 (noch keine Neuauflage verfügbar)
▪ Beachtet auch die sehr anrührende Verfilmung durch die Augsburger Puppenkiste von 1982 (Regie: Sepp Strubel) auf DVD oder bei YouTube.

² Aktuelle Version: Scott Peck „Gemeinschaftsbildung (Original: „ The Different Drum“, 1984), 5. Auflage 2017, Eurotopia Verlag

³ Dipl.-Psych. Ulrich Wilken ist psychologischer Psychotherapeut und hat vor über 30 Jahren das Institut für Systemische Studien in Hamburg gegründet. Er arbeitet seitdem als Dozent, Einzel- und Paartherapeut. 2021 hat er mit seiner Tochter Leonie myndpaar – eine KI-basierte Psychotherapie-App – gegründet.
[Die App kann im „Einzelpersonenmodus“ von jedem gut genutzt werden, im „Beziehungsmodus“ gibt es leider nur eine Variante für maximal zwei Teilnehmende.]

Danke an Moi Lolita auf Pixabay für sein AI-generiertes Bild, bei dem keine echte Katze einen Hut tragen musste!

Eintrag 95

Wo die Dinge enden

Mitunter kann es hart sein, sich für eine Lebensweise ethischer Mehrfachbeziehungen zu entscheiden. Insbesondere, wenn wir diese Lebensweise irgendwann für uns weitgehend verinnerlicht haben – und dann beginnen, unser übriges Leben dahingehend konsequent durchzuräumen:
Kein falsches Verstecken von Liebsten mehr vor der Familie an Tantchens Kaffeetafel, kein Schweigen mehr bei flauen Witzchen im Freundeskreis auf Kosten nicht-normativer Lebensweisen, keine Kompromisse bei Datingangeboten, die im zweiten Satz den Himmel auf Erden verheißen, falls…, ja, falls man sich doch schlicht auf bloß eine*n Lebenspartner*in festlegen würde.

Nein.
Irgendwann haben wir das alles hinter uns. Haben uns vor uns selbst lange genug für unsere Doppelmoral geschämt und für unsre lauwarmen Kompromisse „um des lieben Friedens willen“. Wir haben unsere Lebensphilosophie immer wieder in Kopf und Herz gewälzt und uns schließlich freigemacht, spätestens, als wir begriffen haben, wie sehr unsere Art und Weise intime Nahbeziehungen aufzufassen, mit unserem innersten Selbst zu tun hat.

Irgendwann beginnen wir zu akzeptieren, daß wir demzufolge (bislang) wohl zu einer Minderheit gehören und fangen an, uns damit zu arrangieren. Wir lassen uns dafür aber nicht mehr zurück in den Besenschrank treiben und tragen unser Haupt trotzdem erhoben.
Dafür schneiden wir nun manchen Arbeitskolleg*innen schon mal das Wort ab, wenn sie wieder darüber lästern, wer heutzutage alles mit wem zusammenleben darf und man dazu noch sein Geschlecht je nach Laune wählen dürfte – und so gelten wir nun manchmal als „seltsam“, „schwierig“ oder gar „unangenehm“.
Zu manchen Teilen unserer Geburtsfamilie fahren wir nicht mehr, weil wir uns nicht mehr ihrem wiederkehrenden Diktat unterwerfen, wie unsere Abweichung von einer „gescheiten bürgerlichen Beziehung“ doch sicher unserem Ansehen und einer künftigen Karriere schaden würden.
Und unser Freundeskreis wird kleiner, weil wir für einige dort mit unserem Bekenntnis zu Mehrfachbeziehungen nun nachgerade unanständig wirken – oder wenigstens wie eine tickende Hormonbombe, die aus bisher freundschaftlichen Banden vermutlich alsbald konkretes sexuelles Begehren hervorbrechen lassen könnte…

So setzt manchmal ein nachgerade eigentümlicher Effekt ein. Unser Coming-out hinaus in eine Welt ethischer Mehrfachbeziehungen wie Oligo- oder Polyamory führt dazu, daß wir statt – wie eventuell anzunehmen – mehr Beziehungen in unserem Leben haben, es durch diesen Schritt weniger werden: Das Telefon schweigt zunehmend, der Email-Eingang wird übersichtlicher, zunehmend seltener zirpt der Messaging-Dienst oder die Dating-App auf dem Mobilteil – und einige Einladungen zu den sonst so üblichen sozialen Stell-dich-eins lassen auffallend nach.
Ein etwas merkwürdiges Gefühl von Leere statt von Erfüllung und endlich-Angekommensein breitet sich aus…
„Sie haben sich erfolgreich abgemeldet.“ heißt es – und Du denkst: „Offensichtlich vollständiger, als ich geahnt hatte…“

Dies ist mein Novembereintrag, in diesem Monat, dem mit endzeitlichen Halloweengestalten, Allerheiligenkerzen auf Gräbern, Nebel und kahl werdenden Bäumen auf diese Weise oft ein deutlicher Hauch von Abschiednehmen umweht.
Darum möchte ich diesen Eintrag auch dem Abschiednehmen (und ein wenig der dazugehörigen Trauer) widmen, speziell dem Abschiednehmen von Beziehungen – was genau genommen ein Abschiednehmen von vertrauten Vorstellungen und liebgewonnenen Projektionen ist, wie ich gleich zu zeigen versuche.

Zu Beginn dieses Eintrags schrieb ich, daß eine Entscheidung für eine Lebensweise und Philosophie ethischer Mehrfachbeziehungen hart sein kann. Denn wenn wir nicht mit deren Werten von klein auf aufgewachsen und sozialisiert sind, begeben wir uns in der Tat dadurch zunächst einmal auf einen Weg vieler kleiner Abschiede. Und dabei ist es für unser innerliches Empfinden gleichgültig, ob wir uns von konkreten Personen trennen – oder von sonstigem gewohnten Terrain.
Denn ein Unterschied darin ist für unseren Geist gewissermaßen gar nicht vorhanden, ist dieser doch jedes Mal zunächst mit einem Frustrationserleben konfrontiert.
Bereits in meinem „Wüstenzeit“-Eintrag 22 steht ja, daß Frustration das „Erlebnis der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Benachteiligung oder Versagung [ist], das sich als gefühlsmäßige Reaktion auf eine unerfüllte oder unerfüllbare Erwartung (Enttäuschung), z.B. infolge des Scheiterns eines persönlichen Plans oder der teilweise oder gänzlich ausbleibenden Befriedigung primärer und sekundärer Bedürfnisse einstellt. Frustration kann einerseits zu konstruktiver Verhaltensänderung führen, löst aber häufig regressive, aggressive oder depressive Verhaltensmuster aus.“

Intensiv mit Abschied und Verlust hat sich die amerikanische Psychologin Pauline Boss auseinandergesetzt. In der Fachpublikation „Family Relations“ ¹ schreibt sie, daß uns Menschen Abschiede und Trennungen, sei es in freundschaftlichen oder romantischen Beziehungen, oft wie ein „uneindeutiger Verlust“ erscheinen. Manchmal ist uns in unserer Frustration und unserem Schmerz also gar nicht klar, was genau wir eigentlich verloren haben.
Die Psychologin Eva Siem, welche die deutsche Meditations-App „7Mind“² mitgestaltet, schreibt auf der dazugehörigen Webseite:

»Häufig ist es nicht nur der Verlust einer Person, sondern auch der Verlust von Träumen, emotionaler Unterstützung und einer Identität, die eng mit dieser Person verbunden ist.
Zwischenmenschliche Beziehungen können nämlich eng mit unserem eigenen Selbstbild verknüpft sein. Zum Beispiel kann jemand in einer Freund:innenschaft die Rolle des oder der einfühlsamen Ratgebenden einnehmen. Wenn die Freund:innenschaft endet, kann der Verlust dieser Rolle zu einem Identitätskonflikt führen und die Frage aufwerfen: “Wer bin ich ohne diese Rolle?” Gemeinsame Träume und Pläne, wie eine Reise oder das Gründen einer Familie, können ebenfalls zerbrechen. Egal, ob wir verlassen oder verlassen werden – bei einer Trennung kann es sich anfühlen, als würde ein Teil von uns selbst verloren gehen.«


Wie sehr wir solche Verluste empfinden oder verarbeiten können, hängt mit einem Thema zusammen, welches ich in Eintrag 14 schon einmal ausgeführt habe – und welches in der gerade aktuellsten Buch-Publikation zum Thema Polyamory, nämlich dem Titel „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“ von Jessica Fern (divana-Verlag 2023) noch einmal besonders betont wird: Unsere während unseres Aufwachsens erlernten Bindungsstile³.
Ich zitiere noch einmal aus dem 7Mind-Artikel wegen der kompakten Erklärung zu den verbreitetsten Formen „ängstlichem“ und „vermeidendem (abweisendem)“ Stil:
»Zum Beispiel sind Menschen mit einem ängstlichen Bindungsstil oft stark auf die Bestätigung und Nähe ihrer Partner:innen [oder ihrer übrigen Umgebung!] angewiesen und haben Angst vor dem Verlust der Beziehung(en), was das Loslassen erschwert. Womöglich bleiben sie lieber in einer unglücklichen Beziehung aus Angst davor, allein zu sein.
Ähnlich tun sich
vermeidende Menschen häufig schwer damit, loszulassen, da sie gelernt haben, emotionale Distanz zu wahren und Intimität zu vermeiden. Für sie mag eine unerfüllte Beziehung besser erscheinen als die Verwundbarkeit und Angst vor Nähe in einer möglicherweise tieferen Verbindung.«

Wenn wir dann also irgendwann tatsächlich aus bestimmten Umständen oder Beziehungen heraustreten, ist es gar nicht so sehr unwahrscheinlich, daß wir zunächst einmal vielleicht ein schlechtes Gewissen, Reue oder sogar Einsamkeit und Angst empfinden.

Auch die 7Mind-App empfiehlt daher, sich die Zeit zu nehmen, sich noch einmal gut darüber klar zu werden, was tatsächlich verloren – aber auch gewonnen wurde:
Loslassen bedeute in vielen Fällen eben nicht nur einen Abschied von einem Abschnitt unserer Vergangenheit, sondern auch von einer vorgestellten Zukunft (die sich zumindest vielleicht hätte erfüllen können, wenn wir alles so belassen hätten, wie es war).

In ihrem Thesenpapier „Who am ‚I‘ without ‚you‘? – The Influence of Romantic Breakup on the Self-Concept (deutsch: Wer bin ‚ich‘ ohne ‚dich‘? – Der Einfluss der Auflösung einer romantischen Beziehung auf das Selbstkonzept)“ erklären die Forschenden Slotter, E. B., Gardner, W. L., u. Finkel, E. J. (2010), daß eine solche Veränderung gewissermaßen drei Phasen durchläuft, nämlich den Abschied von einem bisherigen Selbstkonzept („So glaube ich, daß ich bin“) – eine Trauerphase, die mit einer Entflechtung dieses Selbstbildes und daher auflösender Klarheit einhergeht, was zu emotionaler Belastung führt („Wer bin ich denn jetzt überhaupt noch?“) – und schließlich einer Anpassung mit Integration eines neuen Selbstkonzepts („Das bin ich jetzt“).

Für uns, die wir dementsprechend auf dem Weg in ethische Mehrfachbeziehungen also auch liebgewonnene/gewohnte Verbindungen oder auch bestimmte Menschen unserer Vergangenheit loslassen müssen, ist es daher wichtig, bewußt einen Teil von uns bisherigen Identität freizugeben, den wir aufrichtigerweise doch auch gar nicht mehr verwirklichen wollen.

Dazu kommt: Ein Verlust von Beziehung bedeutet ja vordergründig immer erst einmal ein stückweit Verlust von emotionaler oder vielleicht auch materieller Unterstützung.
Indem wir uns z.B. mit unserem Beziehungsleben zu einer Minderheit bekennen, bricht diese „Unterstützung“ vermutlich weg – weil wir uns nicht mehr einmütig zur kollegialen Lästerrunde einfinden, wir am Kaffeetisch nicht mehr nur mit einem ausgewählten Lieblingsmenschen erscheinen und „heile Familie“ spielen – oder weil wir für uns das Konzept „Freundschaft“ (und was darf dazugehören?) neu bewerten.

Die 7Mind-App nannte die daraus resultierende Frage oben „Wer bin ich ohne diese Rolle?“ – und das scheint mir die richtige Richtung zu weisen:
Denn wenn wir unser (Liebes)Leben in unserem Fühlen und Handeln zu einer Herangehensweise ethischer Mehrfachbeziehungen umgestalten, dann verlassen wir hoffentlich eine auch lediglich „angenommene Rolle“, bei der wir allerdings wahrscheinlich sehr lange unhinterfragt überzeugt waren, daß diese die einzig realisierbare wäre.
In unserer deutschen Sprache hängt das Wort „Rolle“ wunderbar mit dem Wort „entwickeln“ zusammen. Wir mögen uns also in einer angestammten „Rolle“ befinden – aber wir können und dürfen uns aus ihr ent-wickeln.
Auf vielen Seiten meines bLogs hier habe ich versucht darzulegen, daß es für mich eine bewußte und mutige Entscheidung ist, sich zu seinem eigenen, wahren Kern-Selbst hin zu entwickeln, wenn wir feststellen, daß wir in unserem Liebesempfinden die Kapazität für „mehr als zwei“ (oder genau genommen „mehr als eine*n“) entdecken.
Die Wissenschaftler*innen der in diesem Eintrag zitierten Beiträge unterstreichen, daß unsere zwischenmenschliche Beziehungen eng mit unserem eigenen Selbstbild verknüpft sind. Nähern wir uns mit unserem Selbstbild also immer mehr unserem Wesenskern, wird dies also auch stets konstruktiv die Art und Weise beeinflussen, welche Beziehungen wir eingehen – und wie wir diese führen möchten.

Sich für ethische Mehrfachbeziehungen zu entscheiden, wird darum höchstwahrscheinlich zudem erst einmal bedeuten, eine persönliche „Konsolidierungsphase“ zu durchlaufen. Konsolidierung heißt aber auch etwas zu festigen, zu stärken oder zu stabilisieren, um daraus etwas Geeigneteres, Verbindlicheres und Nachhaltigeres zu schaffen.
Für die Oligoamory habe ich immer betont, daß dabei aus meiner Sicht stets Qualität vor Quantität den Vorrang haben sollte. Nicht die Menge unserer potentiellen (Liebes)Verbindungen zählt, sondern deren Güte – mögen es auch wenige sein.
Verbindlich-nachhaltige (Mehrfach)Beziehungen zu führen kann so tatsächlich bedeuten, sich von dem ein oder anderen bisherigen Lebensumstand erfolgreich abzumelden, um dadurch mehr zu sich selbst zu gelangen.

Oder wie es die Psychologin Eva Siem vom 7Mind-Team schreibt – und um es nicht gar zu novemberlich werden zu lassen, wenn sich scheinbar bis zum wolkenverhangenen Horizont gerade keine weitere aufregende Beziehungsgelegenheit abzeichnet:
»Du bist nicht alleine mit der Herausforderung des Loslassens. Trauer und Veränderung sind ein wesentlicher Teil des Lebens, dem sich alle Menschen früher oder später stellen müssen.
Wie auch immer der Prozess für dich persönlich aussieht, betrachte ihn mit Wohlwollen und erinnere dich daran, dass das Loslassen auch eine Gelegenheit sein kann, dich selbst und deine Bedürfnisse besser kennenzulernen.«



¹ Boss, P. (2007). Ambiguous Loss Theory: Challenges for Scholars and Practitioners. Family Relations, 56(2), 105–110.

² Zur Hauptseite von 7Mind geht es HIER
Den Artikel von Eva Siem findet ihr HIER

³ Vor allem durch den britischen Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby und die Bindungstheorie; z.B.
Ainsworth, M. D. S., & Bowlby, J. (1991), An ethological approach to personality development. American Psychologist, 46, 331-341.

Eintrag 94

„Das war doch gar nichts…“

Meine Lieblingsmenschen und ich teilen zahlreiche Beziehungswerte, die aus der Polyamory hervorgegangen sind – und die selbstverständlich auch für die Oligoamory gelten.
Ich habe sogar einen eigenen Eintrag zu Beginn dieses bLogs dazu verfaßt: So haben wir u.a. Verantwortlichkeit für unser Handeln, Verantwortung für unsere Gesamtbeziehung, Verbindlichkeit hinsichtlich der Anerkennung unserer Werte, Integrität, Verläßlichkeit, Konsens, Gleichberechtigung, Transparenz, Aufrichtigkeit, Loyalität in – und Identifikation mit unserem Beziehungsmodell verabredet.
Insbesondere für meine Nesting¹-Partnerschaft sind diese Kernbereiche wichtig, alle unsere Absprachen – aber vor allem unsere gemeinsame Sicht, wie wir uns ein Leben in Mehrfachbeziehung vorstellen, beruhen darauf.

Die oben aufgezählten Werte, die auch in meinem Eintrag „Der Stein der Oligoamoren“ scheinbar recht gewichtig daherkommen, spielen hingegen in unserem Alltag keine ständig im Vordergrund befindliche Rolle. Sie bilden vielmehr das unsichtbare Gerüst unseres gemeinsamen Emotional-Vertrags – also unsere „Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“
Und auch dieser „Vertrag“ ist nichts, was bei uns in irgendeinem Aktenordner in mehrfacher Ausführung unterschrieben abgeheftet ist – es ist vielmehr das aus vielen abgleichenden Gesprächen und Erlebnissen gewonnenes Bekenntnis für unser Zusammenleben – und auch ein bißchen unsere Blaupause und Vision für unser Herangehen an und Agieren in Mehrfachbeziehungen.

Eine Verständigung auf bestimmte Werte und ebenfalls ein sich daraus ergebender „Emotionalvertrag“ sind so etwas wie ein Geländer, welches hoffentlich haltgebend ist, wenn Mensch sich daran entlangtastet – was ja speziell in Situationen wichtig ist, die nicht alltäglich, gewohnt oder vertraut sind.
Und zu diesen Situationen zählen in Mehrfachbeziehung z.B. die, in denen ein neuer Mensch dazukommt.
Die Beziehungsanteilshaber*innen, die sich gerade neu verlieben, haben zu Beginn oft den Kopf in den Wolken – die „Bestandspartner*innen“, die dieses Geschehen aus der 2. Reihe miterleben, möchten wiederum aus recht nachvollziehbaren Gründen wissen, welchen Status dieses erste „Anbandeln“ denn nun gerade hat: Ist das lediglich ein Flirt – oder der Auftakt dazu, daß demnächst ein ganzer neuer Lieblingsmensch zum Beziehungsnetzwerk hinzukommen wird? Und sind da bloß erst Sternchen in den Augen – oder wird schon ein Einzug an Tisch und Bett diskutiert?

Auf manche Leser*innen mag die formulierte Bandbreite vielleicht übertrieben klingen – gleichzeitig bildet sie recht zutreffend das mögliche Spektrum an Entwicklungen ab, wenn Liebesbeziehungen für mehr als nur eine Partnerschaft offen sind.
Wodurch den oben erwähnten gemeinschaftlichen Absprachen und Werten also doch ein gewisses Gewicht zukommt.

Schluß mit der Theorie – und her mit einem sehr persönlichen Beispiel:

Ich lernte Annika kennen, die ein ziemlicher Wirbelwind war, vielleicht in punkto Bedürftigkeit ein wenig ein kleinerer Zyklon.
Was Sexualität angeht mag ich es nämlich z.B. lieber langsam. Alle meinen erfolgreichen, langjährigen Beziehungen hatten mit einer eher allmählichen Einlassung auf dieses Thema begonnen, von einem ausgedehnten persönlichen Kennenlernen über vorsichtiges Herantasten an das Zulassen ausgetauschter Zärtlichkeit bis hin zu irgendwann geteilter, wirklicher Sexualität nach Wochen.

Äh, Moment.
„Wirkliche Sexualität“…, was ist denn „wirkliche Sexualität“?
Ist das wichtig?
Doch, ich denke schon, das das wichtig ist – gerade in Hinsicht auf unsere übrigen Lieblingsmenschen. Denn geteilte Sexualität ist sicherlich in mehrfacher Hinsicht ein einigermaßen relevanter Vertrautheits-Marker, dessen Bedeutung in Mehrfachbeziehungen in zwei Richtungen weist:
Zum einen natürlich für die beiden Personen, die Sexualität – in welcher Form auch immer – konkret miteinander teilen. Offensichtlich haben ja die beiden Personen entschieden, daß sie diesen Bereich intimen zwischenmenschlichen Austauschs nun in ihrer Beziehung haben – und (er)leben! – wollen.
Zum anderen für alle anderen Lieblingsmenschen und Partner*innen im Polykül; nämlich mit dem Signal, daß neben der notwendigen Vertrautheit hier nun eine konkrete, physisch intime Verbindung erwachsen ist, die neben einer eindeutigen Vertiefung der Ebene, was die Art der liebenden Verbindung angeht, auch im Zweifel gesundheitliche und sogar rechtliche Auswirkungen auf alle anhängig Beteiligten haben kann.
[Ok, ich weiß, es gibt Menschen, die geteilter Sexualität keine so große Bedeutung beimessen – aber Mensch mag es drehen und wenden – im Hinblick auf erweiterte Sexualität in einer Beziehung, die aus mehr als nur zwei Personen besteht, ist eine Ausdehnung des sexuellen Betätigungsfeldes doch in jedem Fall in ihren Konsequenzen verhältnismäßig konkret.]

Also gut, was ist denn nun „wirkliche Sexualität“?
In ihrem Polyamory-Ratgeber „More Than Two“ ² legen die Autoren Eve Rickert und Franklin Veaux nahe, in Mehrfachbeziehungskontexten eher mit einer sehr weiten Begriffsbestimmung zu arbeiten, da ein enormes Potenzial für Unfrieden oder Verletzungen bestünden, wenn zwischen Menschen die Definitionen von „Sex“ nicht übereinstimmten. Im Zweifel sei „Sex“ also eigentlich alles, was in das Feld Küssen, Knutschen, Streicheln mit oder ohne Kleidung, Rummachen, Austausch sexueller Fantasien, Text- oder Cybersex, Telefonsex, erotische Massage, Masturbation im selben Raum, gegenseitige Masturbation, Oralsex, Analsex, bis hin zum konkreten Kontakt von Geschlechtsorganen fällt.

„Oligotropos, das ist ja eine ziemlich rigide Herangehensweise – und was hat das jetzt mit Annika und deinem persönlichen Beispiel zu tun?“

Ok – Annika also…, …hatte, als sie mich kennenlernte, ihrerseits schon einen längeren Zeitraum keinen Sex mehr gehabt (das fand ich aber erst später heraus).
Nach dem ersten Treffen küssten wir uns, merkten, daß da Potential für mehr war; ich freute mich auf diese Reise (von der ich annahm, sie würde meinem üblichen Script folgen…) und berichtete nach dem Treffen transparent meiner Nestingpartnerin von meinen Fortschritten.
Meine Nestingpartnerin kannte mich gut und sagte dazu ok, nur wolle sie gerne über weitere Schritte auf dieser „sexuellen Reise“ informiert werden, damit sie wüßte, wie weit unsere neue Beziehung gediehen wäre.

So weit so gut…
Schon beim zweiten Treffen gruben sich Annikas Hände aber bereits tief in meine Hose, was mich ziemlich überrumpelte (und gar nicht scriptgemäß war…) und ich befand mich schon bald mehr in der Waagerechten unter ihren Schenkeln auf dem Sofa, neben dem ich eben noch den Tee kredenzt hatte, –wohingegen Annika emsig ihre Erkundungen fortsetzte und auch mit Körperkontakt nicht sparte.
Ich fand das alles etwas abrupt, etwas zu schnell – aber ein Teil von mir genoss es nichtsdestoweniger – aber nach dem Treffen war mir das alles etwas peinlich, nicht zuletzt vor mir selbst.
Mein Kopf fand das alles „nicht richtig“ – schaffte es aber auch nicht so recht, den Mund dazu einzuschalten – und überhaupt war ja „gar nicht wirklich etwas passiert“, speziell, weil ich es nicht so richtig schön und entspannt gefunden hatte, wie ich es mir von einem gemütlichen Kennenlernen gewünscht hätte.

Beim nächsten Treffen mit Annika war diese aus ihrer Sicht gut vorbereitet, denn sie trug lediglich noch ein einteiliges Kleid und Schuhe. Nach gar nicht so langer Zeit war davon beim dritten Treffen das meiste ausreichend wegarrangiert und Annika mit ihren Auswickelkünsten auch bei mir tüchtig fortgeschritten, währen sie schon an der Sofakante erwartungsfroh zwischen meinen Beinen hockte…
Ich blende hier mal aus, um die Jugendfreiheit dieses bLogs noch einigermaßen zu gewährleisten. Und gebe zu, daß ich einen Teil freiwillig-unfreiwilliger Mittäterschaft in mir trug, der zu dem begierig-lustvollen Streben der Annika schlicht deswegen beitrug, weil es mir so eine Freude machte, sie bei ihrem Freudengewinn mitzuerleben.
Aber mein Geist stand mit hochgeschlagenem Kragen währenddessen irgendwo auf einer windigen Brücke im Nieselregen und dachte nur: „…so wollte ich das aber nicht – das ist gar nicht richtig, so ist das hopplahopp und belanglos…“

Und weil es für mich wiedereinmal irgendwie peinlich war – allein weil ich zum zweiten Mal gewissermaßen überfahren wurde und ich über meine eigene persönliche (Wohlfühl-)Grenze hinausging – und für mich Sexualität in diesem Sofakanten-Format unbequem, unzulänglich und gewissermaßen – konkret wie übertragen – unwirksam war, erging es mir danach wie einem gewissen US-amerikanischen Präsidenten 1998, als er vor der Weltöffentlichkeit sagte: „Ich hatte keine sexuelle Beziehung zu dieser Frau.“ (Original: “I did not have sexual relations with that woman“). Und so hielt ich es dann auch vor mir – und leider auch mit dieser Selbsteinschätzung in meiner Kommunikation.

Als mein Lieblings- und Nestingmensch nicht so viel später dann natürlich doch herausfand, was da in der guten Stube wirklich alles abgelaufen war, war sie selbstverständlich – und zu Recht – extrem vor den Kopf geschlagen, von mir enttäuscht und verletzt.
Und es kam zu einem Streit, bei dem ich selbst aber nach sehr kurzer Zeit feststellen mußte, daß ich zu meiner Rechtfertigung quasi nichts auf der Hand hatte.
Im Gegenteil. Ich erkannte bestürzt, daß ich unsere eingangs erwähnten Beziehungswerte und Übereinkommen – zum einen aufgrund einer leicht durchschaubaren kognitiven Verzerrung und zum anderen wegen der als allgemeingültigen Maßstab vorgezogenen Art meiner eigenen Auffassung der Lage – so ziemlich komplett ignoriert hatte.

Die kognitive Verzerrung ist schnell erklärt: Es handelt sich um ein Phänomen, welches im englischsprachigen Raum als „Shifting Baselines“ (etwa: „Verschiebung der Ausgangsposition“) bekannt ist. Am besten ist es mit dem Beispiel eines Kindes mit dem Bonbon-Glas illustriert: Ein Kind liebt Süßigkeiten – und in der Küche im Schrank befindet sich ein am Montag gefülltes Glas mit Bonbons. Das Kind nimmt sich jeden Tag ein paar Bonbons heraus – und zwar, wie es selbst meint, sehr geschickt und immer nur wenige, so daß der Füllstand im Bonbon-Glas sich nahezu nicht verändert. Dies tut das Kind jeden Tag – der Füllstand im Glas ist ja nach 24h für das bloße Auge kaum verändert. Am Samstag wird das Kind von der überraschten Mutter zu Rede gestellt, warum es denn heimlich das halbe Glas mit Bonbons geleert hätte…! Die Mutter hat natürlich die tatsächliche gesamte Füllstandsabnahme von Montag auf Samstag registriert – das Glas ist, kein Zweifel möglich, sichtlich nur noch zur Hälfte gefüllt.
„Shifting Baselines“ sind leider ein sehr gegenwärtiges und menschliches Phänomen unseres Alltags-Selbstbetruges (und spielt derzeit z.B. im Feld des Klimawandels eine bedeutende Rolle): Nur weil eine Position sich nur graduell verändert (geringfügiger alljährlicher Walfang in Japan und Island z.B.) und es lange Zeit so wirkt, als ob nahezu nichts passiert, ändert sie sich messbar ja dennoch – und die Auswirkungen sind nach einer gewissen Zeit erheblich und unleugbar (keine Wale mehr, da diese z.B. keine Paarungspartner mehr in den Meeren finden durch zu groß gewordene räumliche Distanzen).
In Beziehungen sind „Shifting Baselines“ daher das sprichwörtlich „schleichende Gift“. In meinem Fall mit Annika gab ich immer mehr nach und wich dadurch immer stärker von meinen eigenen Wünschen, Werten und Vereinbarungen ab. Aus Küssen wurde Gefumnmel, aus Gefummel wurde Genitalkontakt – und „Sex“ war genau genommen alles davon. Denn genauso hätte ich es selbst auch bewertet, wenn ich die sprichwörtliche Mutter angesichts des halbleeren Bonbon-Glases gewesen wäre. Hätte man mir ein Video mit einem Mann meiner Tätigkeiten auf dem Sofa vorgespielt, hätte ich von außen objektiv ohne zu zögern gesagt: „Ja, was da passiert, ist Sex.“ Aber stattdessen betuppte ich mich selbst, weil ich mich mit in ein Geschehen verwickeln ließ, in welchem ich meine eigenen Grenzen nach und nach ausverkaufte.

Die „Shifting Baselines“ sind das, womit vor allem ich und mein angeschlagener Selbstwert zurechtkommen muß – für meine Nesting-Partnerin wog das US-präsidiale Vorziehen meines eigenen Auffassungs-Maßstabs definitiv schwerer.
Denn noch einmal zurück zur Kameraaufnahme und der klaren Feststellung: Was da passiert, ist geteilte Sexualität.
Dies hätte bei den Geschehnissen der alleinige – und damit auch mein alleiniger – Maßstab sein dürfen. Denn dies war der einzige Informationsgehalt, um den mein Lieblingsmensch mich gebeten hatte: Transparent und aufrichtig mitzuteilen, inwieweit bei der Vertiefung meiner Beziehung mit Annika Sexualität bereits anteilig Einzug halten würde.
Dies war die Information, die für meinen Lieblingsmenschen wichtig war, damit diese sich ihrerseits darauf hätte einstellen können, ihrerseits informierte Wahlen hätte treffen können, Befindlichkeit, Besorgnis, Mitfreude hätte äußern können, ein Gespräch suchen – was auch immer.
Ich aber setzte meine eigene gefühlte Auffassung „Das war nicht so, wie es hätte sein sollen / Das war irgendwie nichts Richtiges…“ an die oberste Stelle – und habe sie damit um sämtliche dieser Optionen gebracht. Womit ich zugleich die Beziehungswerte „Gleichberechtigung“ und „Teilhabe“ über Bord gehen ließ. Exakt Werte, die auch mir sonst so wichtig sind.

In meinem Fall war es in der Tat Sexualität – aber es hätten auch (Mehrfach)Beziehungsthemen wie „einander persönliche Dinge erzählen“, „miteinander Zeit verbringen“, „zu Besuch sein (ja, auch Übernachten oder Urlaub machen)“, „Zeit mit den Kindern verbringen“, „sich Freunden oder Familien vorstellen (lassen)“ etc. sein können.
Bei all diesen Dingen haben wir vermutlich alle persönliche Vorstellungen, bei denen wir uns wünschten, wie und wann diese ablaufen sollten. Und vermutlich haben wir alle „Shifting Baselines“, wenn wir z.B. jemanden einmal vom Parkplatz abholen, nächstes Mal an der Haustür klingeln und beim dritten Mal auf einen Kaffee hereingebeten werden…
Aber es gibt jedes Mal dennoch nur ein konkretes, tatsächlich stattgefundenes Geschehen, so wie ein*e Beobachter*in, die nichts mit der Sache zu tun hat, es unausgeschmückt hätte wahrnehmen und beschreiben können.
Diese Version ist die Wirklichkeit – und gegenüber Zweiten oder Dritten – und speziell für den Erhalt derer gesamten Handlungsfähigkeit – ist sie das einzig Belangvolle, was zählt – und daher erzählt werden sollte.

Unser Chaos im Kopf mag uns in so manchen Situationen in Turbulenzen stürzen und auf zahlreiche Abwege locken. Auf manchen dieser Abwege kommen wir vielleicht günstiger mit dem Geschehenen klar und wir können mit unserer Rolle darin vor uns selbst besser leben.
Unsere Lieblingsmenschen aber brauchen für ihr Wohl unsere ungeteilte Integrität – und damit unseren Mut, uns der Wirklichkeit – auch wenn diese für uns unangenehm ist – zu stellen.
Oder, um es etwas leichtherziger mit dem US-amerikanischen Autor Ernest Cline und seinem Bestseller Ready Player One zu sagen:
»Manchmal mag ich die Wirklichkeit nicht – aber es ist der einzige Ort, wo es etwas Geeignetes zu essen gibt.«




¹ „NestingPartner*in“: In Mehrfachbeziehungen eine Bezeichnung für die Menschen, mit denen man „ein Nest“ teilt – also eng zusammenlebt und auch viel Alltags-Zeit verbringt, z.B. in einer gemeinsamen Wohnstatt.

² Das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014

Danke an 愚木混株 cdd20 auf Unsplash für das Foto!