Eintrag 93

Sex und Wäsche

Cardrona Bra Fence, Cardrona, New Zealand

Bereits in Eintrag 9 auf diesem bLog, in dem es um den „geheimnisvollen Emotionalvertrag“ geht, der hinter den allermeisten zwischenmenschlichen Beziehungen verborgen ist, zitiere ich aus dem Polyamory-Ratgeber „More Than Two¹ von Franklin Veaux und Eve Rickert. Darin scherzen die beiden, daß die meistgestellten Fragen hinsichtlich Polyamory „Wer macht die Wäsche?“ gefolgt von „Wer schläft mit wem?“ sind. In ihrem Buch widmen sie dann auch ein ganzes Kapitel (das 19.) dem Thema mit genau jener Überschrift, die ich auch für meinen heutigen Eintrag verwende – und geben gleich in den ersten Zeilen zu, daß Menschen in polyamoren Beziehungen wahrscheinlich gar nicht so viel Sex haben, wie man denkt.
Wäsche hingegen dürfte in poly- und oligoamoren Arrangements durchaus mehr anfallen, geht es hier doch um Personenverbindungen, die ganz buchstäblich aus „mehr als zwei“ bestehen.
Womit die hartnäckigere Frage dementsprechend lautet: Wer macht denn nun eigentlich die Wäsche?
Und warum ist diese Frage und ihre Antwort von Bedeutung für (Mehrfach)-Partnerschaften?

Sowohl auf meiner Startseite als auch in einigen für meine Oligoamory maßgeblichen Einträgen (z.B. Nr. 5 und Nr. 8) beschreibe ich, daß aus meiner Sicht die Führung von Mehrfachbeziehungen ganz wesentliche Elemente der „Gemeinschaftsbildung“ enthält, wie sie z.B. von dem US-amerikanischen Psychater Scott Peck formuliert wurde². Eben jenem Prozess also, der auch der Entstehung von WGs, Kommunen, Ökodörfern und anderen Gemeinschafts(wohn)formen zugrunde liegt. All diese Mehrpersonen-Beziehungen sehen sich nämlich sämtlich ähnlichen Herausforderungen gegenüber – unter anderem dem angesprochenen „Wäsche-Problem“.
Und wer bereits einmal z.B. in einer WG gelebt hat, weiß: Oft übernehmen solche „Aufräumungsarbeiten“ die Personen, die – wie ich es immer so gerne sage – das niedrigste „Filth-Level“ [= „Verschmutzungs-Schwelle“] haben (also die spezifische Empfindlichkeit ab einem bestimmten Verunreinigungsgrad der Umgebung zur Tat zu schreiten…).

Schon in WGs ist dies ungünstig und führt bekanntermaßen oft genug zu Streit um Aufgabenverteilung und geleisteter Menge an Beitrag – in Liebesbeziehungen mit mehreren Personen ist ein solches Setting noch aus ganz anderen, sehr persönlichen, Gründen problematisch.
Denn das von mir sogenannte „Filth-Level“ betrifft ja eben gar nicht nur den anwachsenden Wäscheberg. Der Wäscheberg ist in intimen, menschlichen Nahbeziehungen bloß ein Stellvertreter für verschiedene Probleme, bei denen irgendwann bei einer der beteiligten Personen das „Filth-Level“ überschritten wird und diese sich maßgeblich unwohl fühlen. Aber genau wie beim Wäscheberg oder den Krümeln auf dem Küchenfußboden sind es bei diesen Themen eben meist stets die gleichen Personen, die als erstes unter den sich nach und nach ansammelnden Umständen zu leiden beginnen.
Und ja, ok: Schmutzwäsche; Krümel, Staubmäuse – dies sind ja eventuell konkret sichtbare Phänomene, neben denen es aber wahrscheinlich noch eine weitere Anzahl verborgener „Ablagerungen“ im Getriebe jeder Beziehung geben kann, eben auch Stress, Anspannung, Unzufriedenheit, Frust, unterdrückte Konflikte etc., bei denen es aber als Resultat dann immer wieder die selbe Person ist, die sich dementsprechend von dem aufgestauten Druck am meisten beeinträchtigt erlebt und infolgedessen entweder – je nach Konstitution und Resilienz – explodiert oder zusammenbricht, in Aktionismus oder Resignation verfällt und/oder schlußendlich alleine versucht, die Sache irgendwie zu richten.

Da ich in Eintrag 9 den Gehalt des „geheimnisvollen Emotionalvertrag“ hinter jeder Beziehung quasi als Konzentrat folgendermaßen in Worte gefaßt habe: „Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“ – sind mir zum Thema „Wer macht die Wäsche?“ noch einmal zwei wesentliche Dinge bei meinen eigenen Recherchen im weltweiten Netz aufgefallen.

►Zum einen natürlich auf der Beziehungsebene, der ja gerade in Mehrfachpartnerschaften noch einmal mehr Bedeutung zukommt – speziell je nachdem, wie viele Personen daran beteiligt sind.

Die in Kanada aufgewachsene, existenzielle Psychotherapeutin, Beraterin, Autorin und Kolumnistin für USA Today, Sara Kuburic, schrieb dazu vor kurzer Zeit:
»Beziehungen sind nicht passiv. Beziehungen ‚passieren‘ uns nicht. Beziehungen sind Co-Kreationen, die Absicht, Geduld, Lernen,Verlernen, Wiederlernen, Abgleichen, Entschuldigen, Vergeben, Kommunikation und Orientierung benötigen.«
Eine ausgezeichnete Präzisierung all der Dinge, die ich auch hier auf meinem bLog immer wieder behandle. Insbesondere was die von mir so oft betonte Bewußtheit hinsichtlich unserer Entscheidungen angeht. Aber in dieser Kurzform vielleicht nicht für jede*n nachvollziehbar genug.

Das dachte sich wahrscheinlich auch der Achtsamkeitscoach und Autor Jan Lenarz, der auf dem Auftritt seiner Webseite EinGuterPlan.de in den sozialen Netzwerken diese Worte aufgriff und folgendermaßen verdeutlichte:
»Klar, die Basis für eine erfüllte Beziehung ist in erster Linie erst mal eine Menge Glück. Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein und ein Match gefunden zu haben – für eine Freund*innenschaft, für eine romantische Beziehung. Und die Familie, in die wir geboren wurden, ist ja auch nur Zufall und entsprechend Glückssache.
Treffen wir nun aber durch einen glücklichen Zufall einen Menschen, bei dem es irgendwie klicken könnte, dann das ja erst einmal nur eine Begegnung, eine Momentaufnahme. Quasi der Schlüssel zu einem Tor, das die Möglichkeit einer Beziehung eröffnet.
Beziehungen hingegen sind dynamisch und müssen aktiv gestaltet und gepflegt werden, um zu bleiben: indem man hinhört und nachfragt, Kompromisse eingeht, reflektiert, anpasst und kommuniziert. Diese Beziehungsarbeit sollte im besten Falle kein Knochenjob sein, bei dem sich eine Seite abrackert, sondern Teamwork. Denn nur so kann man gemeinsam etwas gestalten, in dem sich die Menschen, die Teil davon sind, auch zu Hause fühlen.
Eine zwischenmenschliche Beziehung ist also ein bisschen wie eine Topfpflanze. Keine ist wie die andere und jede hat ganz individuelle Bedürfnisse: Zu viel Wasser kann schädlich sein, zu wenig aber auch. Manchmal läuft jahrelang alles easy und plötzlich: Alarm – Trauermückenbefall! Erkenntnis: Nahezu unsichtbar winzige Schädlinge, die sich in der Erde einnisten, können den größten Schaden an den Wurzeln anrichten. Und dann fallen schon mal scheinbar grundlos und über Nacht sämtliche Blätter ab, wo eben noch alles prächtig erschien. Und die Rahmenbedingungen sind sowieso das A und O. Ganz egal, wie pflegeleicht so eine Pflanze wirken mag – ganz ohne Aufmerksamkeit geht selbst der robusteste Bogenhanf früher oder später ein. Darum ist spätestens, wenn etwas holprig scheint, ein passives Abwarten à la „Das wird sich schon wieder einrenken!“ weder in zwischenmenschlichen Beziehungen noch bei Topfpflanzen eine gute Erhaltungsmaßnahme.«


Sowohl Sara Kuburic als auch Jan Lenarz und seine Mitarbeiter*innen schließen sich also beide dem berühmten Sprichwort „Beziehung ist keine Einbahnstraße“ an, betonen dabei die immer wieder zu durchlaufende Prozeßhaftigkeit – die auch Scott Peck schon 1987 identifizierte – ebenso wie den wichtigen Charakter der „gemeinsamen Mitschöpfung“.
„Gemeinsame Mitschöpfung“ ist hier das Stichwort schlechthin, denn im Gegensatz zum Wäscheberg, bei dem es vielleicht gerade noch gut geht, wenn man dessen Bewältigung bloß einer Person überläßt, muss exakt diese „Mitschöpfung“ in einer ethischen Mehrfachbeziehung Anliegen und Privileg aller Beteiligten sein.
Das „Pflanzenbeispiel“ von Jan Lenarz‘ Seite illustriert es sonst doch nur zu gut: Läßt man die Beziehungsarbeit laufen, wird es eines Tages zum Problem des Schwellenwerts einer der involvierten Personen. Das Chaos, was regelmäßig danach in einer (Mehrfach)Beziehung ausbricht, trifft so ähnlich ein wie bei der oben skizzierten Pflanze: Denn für die übrigen Beteiligten sah bis vor einem Moment alles doch noch ganz wunderbar und harmonisch aus – und mit einem überraschendem Mal entbrennt Unfrieden – scheinbar ausgehend von nur einer Person, die ihrerseits zu ihrem angesammeltem Leid nun auch noch den Unmut der Gruppe als ausgemachter Störenfried ertragen muß.
Oft enthüllt erst der Scherbenhaufen, daß kollektiv das Wunder Mehrfachbeziehung über zu lange Zeit für selbstverständlich gehalten wurde, bzw. daß schon bei Beziehungsbegründung Bedürfnisse, Wünsche oder auch Befürchtungen Einzelner nicht gut genug ausgedrückt, gehört und berücksichtigt wurden.

Gehört?
Ausgedrückt?!
Genau – „ausgedrückt“ – womit ich beim zweiten Punkt wäre.

► Denn zum anderen gibt es auch noch eine individuelle Ebene, die, wenn sie nicht geklärt genug ist, die schönste gemeinschaftliche Mitschöpfung gefährden kann.
Am eindrücklichsten beschreibt aus meiner Sicht die Schriftstellerin Hailey Magee, US-amerikanische Autorin und Coach für die Genesung von Co-Abhängigkeit, dieses Dilemma: Unsere Bedürfnisse, Wünsche oder Befürchtungen hinsichtlich einer sich abzeichnenden (Gesamt)Beziehung müssen wir nämlich wenigstens ausdrücken können, damit die anderen Beteiligten uns dahingehend auch hören und beherzigen.
Leider ist unser Selbstausdruck aber gelegentlich defizitär. Oder zumindest biographisch beschädigt, je nachdem z.B. wie unser Aufwachsen war, wir elterliche Bindungsstile erlebt haben – oder welche Erfahrungen wir aus Vorbeziehungen mitbringen.
In einem Vorab-Auszug aus ihrem 2024 erscheinendem Buch³ versucht Hailey Magee daher Licht auf unsere Motivationen zu werfen, wie und warum wir uns in Beziehungen einbringen ( – und mit unserem Startbeispiel des Wäscheberges im Kopf funktioniert das Hineindenken in ihr Modell ausgezeichnet…).
Wenn wir ungünstigen Denkmustern unterliegen, die wir vielleicht in unserer biographischen Vergangenheit erlernt haben, dann, so benennt es Mrs. Magee, unterliegen wir vielleicht einer Motivation, die sie „Anpassung“ bzw. „Gefallenwollen“ (wortwörtlich People-Pleasing, also in etwa „Leute-Zufriedenstellen“), nennt.
Anpassung und Gefallenwollen wurzeln allerdings in Motivationen, die für gelingende, gleichberechtigte Beziehungen auf Augenhöhe, in denen wir uns akzeptiert und geborgen fühlen können, eher kritisch sind. Diese sind vor allem:

Pflichterfüllung: „Ich muss das tun, sonst fühle ich mich schuldig.
Geschäftsdenken: „Ich gebe dir X, damit du mir Y gibst.“ – oder
Verlustangst: „Ich tue das, weil ich Angst habe, dich zu verlieren.“

Ich gebe zu, daß es wahrscheinlich schwer ist, erst einmal vor sich selbst zuzugeben, daß solche Gedankengebäude in einem selbst hinsichtlich Beziehungsführung existieren. Vermutlich ist es noch einmal schwieriger, dies seinen Lieblingsmenschen gegenüber zu tun. Für ein zu errichtendes „Gemeinsames Ganzes“, was eine (Mehrfach)Beziehung aber werden soll, ist so eine Bewußtmachung von enormer Wichtigkeit. Und wenn uns dies erst einmal in uns selbst gelingt, dann gibt es auch eine viel bessere Chance, solche Muster, so sie erneut versuchen sich in unsere Beziehungen zu drängen, zu identifizieren – und schließlich auch immer geübter aus ihnen auszusteigen. Und da Gefallenwollen und Anpassung eine Menge mit unserem Selbstwert zu tun hat, ist Stärkung und Heilung an dieser Stelle ebenfalls ein bedeutender Teil unserer Eigenfürsorge, die in dieser Hinsicht vor allem uns zu gute kommt und der wir uns wert sein sollten.

Wenn wir nämlich nicht mehr aus Anpassung und Gefallenwollen heraus agieren, dann wird es immer öfter allerbeste und unverfälschte Zugewandtheit sowie Freundlichkeit gegenüber unseren Lieblingsmenschen sein, die sich laut Mrs. Magee mit folgenden Motivationen zeigen:

Herzenswunsch: Ich will das unbedingt (von mir aus) tun.“
Wahlfreiheit: „Ich könnte dazu ja oder nein sagen, und ich entscheide mich dafür, ja zu sagen“.
Wohlwollen: „Ich tue dies, weil ich deine Lebensqualität verbessern möchte.“

Gelingende Mehrfachbeziehungen bleiben also weiter interpersonelle Treibhäuser und Werkstätten, in denen sowohl das „gemeinsame Wir“ als auch die individuelle Aufgestelltheit der Mitwirkenden immer wieder inspiziert, gepflegt und gefördert werden (sollten😉).
Schließlich sind es dadurch auch immer wieder alle Beteiligte, die am Ergebnis Anteil haben und davon profitieren – egal ob es sich dabei um die Wäsche oder intensive Gefühle handelt.
Wichtig scheint mir, dabei nicht zu streng mit uns selbst und den anderen umzugehen, denn nahezu niemand von uns geht gemäß Mrs. Magee als bereits voll entwickeltes, selbstloses und unbeschriebenes Blatt ins Rennen.
Und manchmal hilft uns die Liebe selbst, mit ihrer Beständigkeit und Geduld. Denn wie heißt es in der US-amerikanischen Krimiserie Der Finder in Staffel 1 Folge 5 [„Der Feuertrick“]
»Es gibt Dinge, die kann man nicht lernen. Manche Dinge kommen nur durch Zeit und Erfahrung.«



¹ Das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014.

² Scott Peck, Gemeinschaftsbildung – Der Weg zu authentischer Gemeinschaft. (Original: „A Different Drum“) Eurotopia 2007, 3. Auflage. 2014

³ Hailey Magee, „Stop People-Pleasing and Find Your Power“ (Simon & Schuster)

Danke an Pablo Heimplatz auf Unsplash für das Foto und an meinen diesmaligen Muserich Wolfram, dessen informativer News-Feed mich mit vielen Impulsen für diesen Eintrag in Verbindung brachte.

Eintrag 92

Es lebe die Vielfalt!

In der US-amerikanischen Kult-Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert¹ erfindet in Staffel 6 Folge 9 („Datas Hypothese“) ein Wissenschaftler für heikle Tätigkeiten in herausfordernder Umgebung eine Gruppe Arbeitsroboter, die über die Fähigkeit verfügen – je nach analysierter Problemstellung – das für das weitere Vorgehen jeweils bestmöglich passende Werkzeug aus sich selbst hervorzubringen (für die Nerds unter uns: zu replizieren). Die Zuschauer können während der Folge jedoch darüber hinaus auch noch erleben, wie sich die Roboter zur allseitigen Optimierung über bestimmte Herangehensweise austauschen (was als Zeichen für Vernetzungsfähigkeit, Flexibilität, Kommunikation und Intelligenz angesehen wird), sich weigern, einander unnötiger Gefahr auszusetzen (was für gesunde Selbsteinschätzung und -erhaltung spricht) – und als es zum Äußersten in einer extrem risikoreichen Situation kommt, opfert sich eines der Maschinchen gewissermaßen für den Rest der Gruppe, die auf diese Weise der Vernichtungsgefahr in brisanter Lage dann auch entgeht.

Ein bekanntes Sprichwort, welches auf einen meiner hier vielzitierten Lieblingspsychologen – nämlich Abraham Maslow – zurückgeht, besagt, daß „wer über mehr Werkzeug als einen Hammer verfügt, nicht alles andere als einen Nagel ansehen würde.“

Mr. Maslow ist für mich im Universum der Mehrfachbeziehungen ein enorm wichtiger Impulsgeber, da er als Vertreter der sg. „Humanistischen Psychologie“ sowohl maßgebliche Beiträge zur Erforschung und Kenntnisnahme menschlicher Bedürfnisse (erstmals hier Eintrag 11) leistete, als auch direkt über seine Idee der ethisch-hinterfragenden „Selbst-VerwirklichungMorning Glory Zell-Ravenheart beeinflusste, jene Frau, die die Idee der Polyamory 1990 erstmals in druckreifem Format formulierte (siehe vor allem Eintrag 49).

Für Mehrfachbeziehungen enthält Maslows „Hammermetapher“ ja dann auch mehrere grundlegende Botschaften:
Zum einen – und am auffälligsten – daß ein Hammer, wiewohl praktisch, doch eher ein grobes Instrument ist, welches jedoch sicherlich kaum für „Feinarbeiten“ geeignet ist. Was zugleich Sinnbild dafür ist, daß es nicht immer klug ist, jede Unternehmung, die einem begegnet, mit eher stumpfer Kraft anzugehen und dabei möglichst im Grund zu versenken (was – wenn man’s auf zwischenmenschliche Zusammenhänge bezieht, allein schon bedenklich klingt…).
Zum anderen, daß das Potential einer Reichhaltigkeit von Optionen (also Werkzeugen) uns Flexibilität im Umgang mit Problemstellungen verleiht – selbst sogar, wenn diese unvorhergesehen daherkommen.
Und noch etwas verrät uns Maslows Bild: Nämlich, daß allein das Wissen um unsere (potentielle) Flexibilität unsere Perspektive – unsere Grundeinstellung – verändert, sowohl was das Zutrauen in unsere Fähigkeit, Lösungen zu entwickeln betrifft, als auch dahingehend, daß wir eventuell an uns herangetragene Schwierigkeiten graduell als gar nicht mehr so gravierend ansehen, daß wir ihnen mit „Generalmobilmachung“ all unserer Ressourcen begegnen müssten.

In Mehrfachbeziehungen, die sich, wie eben Oligo- oder Polyamory, mit dem charakterisierenden Zusatz „ethisch“ hervorheben, ist insbesondere letztere erwähnte Haltung und Einstellung von großer Wichtigkeit.
Denn sie enthält den Auftrag an uns alle, die sich in Mehrfachbeziehungswelten bewegen wollen, uns ausdauernd mit der Pflege und Erweiterung unseres höchsteigenen „Werkzeugsortiments“ zu beschäftigen.
Was ja nicht einfach ist, da wir, wenn wir gewohnt sind bislang überwiegend in monogamen Bahnen zu denken, es uns eher geläufig ist, überwiegend von der „Hammer-Seite“ aus zu agieren: Eifersucht? Bäng! – es darf schlicht keine weiteren Liebsten außer dem Kernpaar geben! Verlustängste? Bäng! – soll die*der andere mal sofort ihr*sein bei uns angstverursachendes Verhalten abstellen! Kommunikationsprobleme oder Reibungsverluste durch Mißverständnisse? Bäng! – am besten Einbahnstraßenkommunikation (auch bekannt als „klare Ansage“…) von unten nach oben oder von oben nach unten mit festgelegter Binnenhierarchie – dann kommt so etwas nicht vor!
Womit ich nicht sagen will, daß dies in einem monogamen Modell eine gute Vorgehensweise ist – aber die Vergangenheit unserer Eltern und Großeltern hat doch tragisch oft bewiesen, wie weit Mensch mit lediglich einem Hammer im Zweifel kommen kann…

Abraham Maslow gab dementsprechend der von Morning Glory Zell-Ravenheart so bewunderten „Selbst-Verwirklichung“ genau darum so einen wesentlichen Stellenwert, weil wir mit unserer „Werkzeugpflege und -erweiterung“ darin direkt in der grundsätzlichen und elementarsten Beziehung von allen gleich damit loslegen können: der zu uns selbst.
Abraham Maslow, wäre nicht DER Abraham Maslow der mittlerweile vielbeschworenen „Maslowschen Bedürfnispyramide“ (die inzwischen wissenschaftlich nicht mehr als gar so fix angesehen wird wie in ihren Anfangstagen) gewesen, wenn ihm nicht schon aus seinem Wissen um die menschlichen Psychologie bereits klar gewesen wäre, daß unsere (Problem)Reaktionsfähigkeit (also die Vielfältigkeit unserer Werkzeuge) stark mit der Kenntnis der Zusammensetzung unserer Bedürfnislage in Verbindung steht.
In den letzten fünf bLogeinträgen dieses Jahres habe ich mich – auch selbstkritisch – immer wieder genau mit dieser Kenntnis bzw. Unkenntnis um die eigene Bedürfnislage auseinandergesetzt. Und der daraus resultierenden Bedürftigkeit… Vor allem, weil bedürftig zu sein bedeutet, beim Blick in den Werkzeugkasten stets immer wieder nur als erstes bloß den Hammer zu finden: Problem? Beseitige es! – BÄNG!
Denn das ledigliche, überwiegend unbewußte, Wissen, daß der Hammer Probleme lösen kann, macht ihn schon aus schierer Gewohnheit leider verführerisch. Und auch das ist für zwischenmenschliche Zusammenhänge bedenklich…

Womit Selbst-Verwirklichung eben einen so großen Teil Bewußtwerdung benötigt, gemäß den Zielen der humanistischen Psychologie, wie ich sie in Eintrag 51 darlege – und hier noch einmal ganz kurz skizziere:

  1. Menschen sind mehr als die Summe ihrer Teile. Sie können nicht auf einzelne Merkmale reduziert werden.
  2. Menschen existieren sowohl in einzigartigen menschlichen Kontexten als auch in einer weltumspannenden Ökologie.
  3. Menschen sind bewusste Wesen und sie sind sich bewusst, bewusst zu sein. Zum menschlichen Bewusstsein gehört immer ein Bewusstsein von sich selbst im Kontext anderer Menschen.
  4. Menschen haben die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und tragen daher Verantwortung.
  5. Menschen sind absichtlich, streben Ziele an, sind sich bewusst, dass sie zukünftige Ereignisse verursachen, und suchen nach Sinn, Wert und Kreativität.

Psychologisches Blabla, zu kompliziert?
Die Fallstricke werden meist dann sichtbar, wenn wir Bewußtwerdung und Kenntnisnahme (was ja auch ein Stück Selbstanerkennung ist) weglassen.
Die Natur hat es nämlich leider etwas unglücklich eingerichtet, daß wir uns schneller in andere verlieben können, als daß wir anderen vertrauen.
In Eintrag 15 weise ich zwar auf die menschliche Fähigkeit zu raschem (Vor-)Vertrauen („Swift Trust Theory) hin, erkläre aber zugleich, daß dieses nicht durchtragen kann, speziell in genau den Fällen, in denen unsere eigenes defizitäre Bedürfnisfundament unter vermeintlichen Beschuß gerät. Scheinbar bedrohliches oder gar angstverursachendes Gebahren im Außen wird also einen ohnehin knapp bemessenen Inhalt unseres Werkzeugkastens sofort zurück auf Hammerformat schrumpfen lassen – und damit, wie oben erwähnt, auch die Perspektive unserer Bewältigungsstrategien: „Oh nein, ein NAGEL!!!“

Die eingangs erwähnte Star Trek-Folge nutzt die Parabel rund um die putzigen Arbeitsroboter, um die Zuschauer mit der Frage zu konfrontieren, was Leben ist.
Star Trek ist anerkannterweise Science Fiction – und damit sind uns die Maschinchen also fast ein wenig voraus. Denn sie führen uns vor, warum sie höchst lebendig sind – und humanistische Psychologie ist ein wichtiger Teil der Antwort:

  1. Indem sie gewissermaßen über einen „unendlich vielfältigen inneren Werkzeugkasten“ verfügen, sind sie ganz eindeutig „mehr als die Summe ihrer Teile“. Sie sind gestaltgewordene Pluralität, lassen sich nicht auf ein Merkmal reduzieren – und das ist, auf unser jetziges Zeitalter übertragen, in dem wir z.B. über Fluidität von Geschlecht, Gender und Beziehungsformen reden, geradezu so divers wie non-normativ.
  2. Indem die Geräte sich austauschen, stellen sie ein Netzwerk an Erfahrung her, welches eine neue, einzigartige Kombination darstellt. Gleichzeitig kann dieses Netzwerk nur durch alle Beitragenden genau diese Güte erhalten, wodurch ein sowohl individueller als auch insgesamter Zusammenhang entsteht. Dies ist für mich eine essentielle Kompetenz von verbindlich-nachhaltigen „Mehrfach“-Beziehung.
  3. Die Roboter zeigen Bewußtsein speziell in dem Moment, als sie in einer Gefahrenzone arbeiten sollen, in der sie vernichtet werden könnten. Sie beweisen darin gesunde Selbstfürsorge, die natürlich in erster Linie jedem Individuum zu Gute kommt (weil es überlebt) – aber berücksichtigen und schützen mit ihrer Handlung zugleich das „größere Ganze“ (das „gemeinsame Wir“ der Oligoamory, könnte man sagen) zu dem sie alle beitragen.
  4. Indem die Roboter Entscheidungen treffen, beweisen sie auch über die rein praktische Ebene hinaus, daß sie „über mehr als nur einen Hammer verfügen“. Sie übernehmen auf diese Weise Eigenverantwortung um individuell Probleme zu lösen, übernehmen Gesamtverantwortung, um ihre Gruppe zu schützen – und im Zweifel schließen sie sich zusammen, um von Erfahrungen anderer zu profitieren.
  5. Die Szene, in der sich schließlich doch ein Roboter in einer zunächst ausweglosen Situation für die anderen opfert, berührt für mich das, was ich in Eintrag 34 als Kerngehalt von Romantik bezeichne: Das uneingeforderte Selbstopfer. Denn ganz offensichtlich haben die Roboter eine Anerkenntnis ihres Eigen-Sinns und ihres Eigen-Werts entwickelt. Womit ihre Absichten und Ziele eben ganz und gar nicht mehr roboterhaft sind, denn über Pluralität, Bewußtheit und Verantwortlichkeit ist ihnen etwas zutiefst Menschliches klar geworden: Ihre Begrenztheit – und damit ihre Kostbarkeit.
    Das „Selbstopfer“ (auch ohne dabei das Leben zu lassen) ist für mich daher ein Beweis für „Liebe pur“ (und nur wirkliche Lebewesen sind dazu fähig): Unser Beitrag, unser Geschenk für unsere Gruppe, unser Beziehungsnetzwerk (und so gar nicht selbst-los, wenn es dann von anderer Seite zu uns zurückkommt).

Für mich ist es in der Star Trek-Serie natürlich eine hübsche Vorgabe, daß die Roboter schon von Beginn an „zu mehreren“ sind. Ein einzelnes Exemplar alleine hätte trotz seiner fortschrittlichen Werkzeugfähigkeit sonst nie sein volles innewohnende Potential erkannt (und dann vermutlich weder Bewußsein noch Leben entwickelt).
Denn Mehrfachbeziehungen berühren folglich wohl stets den Grad unserer Selbst-Verwirklichung. Sie „zupfen“ gewissermaßen an unserer Bewußtwerdung und konfrontieren uns mit unserem Maß an vorhandener innerer Lebendigkeit.
Gelingende Mehrfachbeziehungen benötigen dadurch exakt die zunehmende Befähigung zum Perspektivwechsel, die wir zwar auch im Zusammenspiel mit anderen steigern können, für die wir die Grundlagen aber in uns selbst suchen – und auffinden – müssen.
Das Gleiche gilt damit für den in uns wohnenden, unveräußerlichen individuellen Wert und unsere lebenslange Sinnsuche, die uns (hoffentlich) immer mehr und mehr vervollständigt und zu dem Menschen macht, der wir sind: Kontakte zu den verschiedensten Menschen und Umgebungen wird uns Kenntnis darüber verschaffen, welche schier unglaubliche Menge es an Werkzeugen für die unterschiedlichsten Herausforderungen gibt.
Jedoch nur unsere Übung damit in wirklichen Nah-Beziehungen, die unsere berechenbare Gruppe sind, genau weil wir darin um unsere wechselseitige Begrenztheit und Kostbarkeit wissen, wird uns zu Meister*innen darin machen, unsere Werkzeugkoffer nach und nach in wahre Schatzkisten zu verwandeln.



¹ auch bekannt als Star Trek: The Next Generation

Danke an Adam Sherez auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 91

Stühlerücken

In Eintrag 88 habe ich neulich der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß Oligoamory möglichst etwas sein sollte, was wir tun – und nicht etwas, was uns passiert.
Gleichzeitig habe ich eingeschränkt, daß in der Praxis romantische Verbindungen zwischen mehr als zwei Personen sehr viel öfter eher unvorhergesehene Lebensereignisse sind, die – wie John Lennon es einstmals so ähnlich sagte – geschehen, während wir eigentlich gerade emsig andere Pläne verfolgen.
Und das ist ok – und stellt sich auch im historischen Kontext der Oligoamory so dar, wenn wir auf die Geschichte ihrer „großen Schwester“, der Polyamory, schauen – so wie ich sie z.B. in Eintrag 49 beschrieben habe.
In diesem Eintrag zitiere ich die neopagane Priesterin und Autorin Morning Glory Zell-Ravenheart, die, aus persönlicher Erfahrung in ihrem Leben und weil es sie selbst betraf, die Initiative ergriff, ein Liebes- und Lebensmodell für ethische Mehrfachpartnerschaften zu entwerfen.
Auch für sie bestand der Ausgangspunkt ihrer Vision aus bereits eingetretenen Tatsachen: Mehrere Menschen, die nicht notwendigerweise nach bestehendem (Ehe)Recht gesetzeskonform gemeinsam liiert waren, empfanden Gefühle füreinander, wollten sich – sowohl öffentlich als auch voreinander – verlässlich zu ihrem Zusammensein bekennen.
Vor dem Hintergrund ihrer neopaganen Werte – wie z.B. Verantwortlichkeit für das eigene Handeln, einem hohen Maß an Aufrichtigkeit sowie der Gleichwürdigkeit aller Geschöpfe – konzipierte sie eine fundierte Berechtigung, um auch mit mehr als zwei Personen eine verbindliche Liebesbeziehung auf Augenhöhe zu führen, in der alle Beteiligte innerhalb eines sicheren und berechenbaren Rahmens interagieren konnten.

Warum schreibe ich das?
Weil also auch historisch die Liebe, das Gefühl des Miteinanders, die Verbundenheit und das sich „einander als zugehörig Empfinden“ zuerst da waren – und daraus dann der Wunsch nach einem lebbaren, realisierbaren Rahmen entsprang.
Morning Glory Raven-Zell war eine Praktikerin, keine Sozialwissenschaftlerin, die sich eines Tages vor ein Reißbrett setzte, weil sie der Welt die philosophische Blaupause für eine weitere Beziehungsform schenken wollte.
Und als Praktikerin ließ sich sich darüber hinaus vom tatsächlichen Leben führen – und nicht so sehr von ihren Bedürfnissen, wenn diese noch keine Gestalt angenommen hatten.

Dies betone ich, weil es in der weiten Welt der Mehrfachbeziehungen nichtsdestoweniger viele Menschen gibt, die sich eine solche Beziehungsform für sich wünschen – genau genommen weitere Partner*innen für eine solche Beziehungsform wünschen – aber noch/derzeit keine haben.
Ich möchte hier ungern problematisieren, ob diese Menschen – in Ermangelung einer konkreten Beziehung – polyamor sind oder nicht. Ich halte das für absurd, da wir dann auch eine alleinstehende monoamore Person fragen müssten, ob sie sich rechtmäßig als „Single“ bezeichnen dürfte, weil dies ja vor allem „temporäre Alleinstellung“ in einer auf Verpartnerung angelegten Welt signalisieren würde.
Also sage ich: Na sicher gibt es „Poly-Singles“, schlicht Menschen eben, die sich ein Leben in Mehrfachbeziehung vorstellen können, bei denen diese Beziehungsform aber gerade im Alltag nicht manifest ist. Ob man darüber hinaus auch noch in einer Zweierbeziehung „Polysingle“ sein kann, darüber mag man streiten. Wenn der andere Beziehungsteil monogam veranlagt ist, dann würde ich eventuell hier ebenfalls zustimmen. Wenn jedoch beide aktuellen „Beziehungsinsassen“ sich als polyamor sehen, jedoch derzeit weitere Partner*innen fehlen um „mehr als zwei“ zu werden… Da wird die Diskussion schnell haarspalterisch – aber dafür nähert sie sich sicherlich meinem heutigen Thema.

Denn was brauchen wir, um uns „vollständig“ zu fühlen?
Der schweizerische Lyriker Hans Manz schrieb 1994 einmal folgenden Text, den er unter dem Titel „Der Stuhl“ veröffentlichte:

Ein Stuhl,
allein.
Was braucht er?
Einen Tisch!

Auf dem Tisch liegen Brot, Käse Birnen,
steht ein gefülltes Glas.

Tisch und Stuhl,
was brauchen sie?
Ein Zimmer,
in der Ecke ein Bett,
an der Wand einen Schrank,
dem Schrank gegenüber ein Fenster,
im Fenster einen Baum.

Tisch, Stuhl, Zimmer…
Was brauchen sie?
Einen Menschen.

Der Mensch sitzt auf dem Stuhl am Tisch,
schaut aus dem Fenster
und ist traurig.
Was braucht er?

Es ist interessant, welche Perspektiven dieses scheinbar karge Gedicht eröffnet. Als ich es zum ersten Mal las, waren meine damalige Partnerin und ich gerade Hundebesitzer*innen geworden. Unsere spontane Antwort lautete also: Einen Hund! Und wir alberten, daß der Hund vielleicht den Stuhl umwerfen würde, dann unter dem Tisch sitzen könnte, um Brot, Käse und Birnen betteln würde (dabei das Glas umwedeln),durch das Zimmer liefe, nachts mit im Bett schliefe, er würde sich am Schrank kratzen, mit den Vorderpfoten aufs Fensterbrett hopsen um hinauszuschauen, am Baum sein Bein heben – und der Mensch, der Mensch in dem Gedicht hätte, sobald man lediglich diesen Hund noch dem Bild hinzugefügt hätte, im wahrsten Sinne des Wortes „Leben in der Bude“ und plötzlich eine Menge an Dingen, um die er sich kümmern könnte. Und somit kaum noch Zeit für Traurigkeit.

Als „Polysingle“ sind wir es manchmal, die traurig auf dem Stuhl sitzen. Und wir würden unserem Bild dann gerne einen weiteren Menschen hinzufügen. Und falls wir dann immer noch traurig sind…, hm, vielleicht noch einen weiteren… Denn dann hätten wir „Leben in der Bude“, plötzlich würden Stuhl, Tisch, Brot, Käse, Birnen, Glas, Zimmer, Bett, Schrank, Fenster und Baum vielmehr Sinn ergeben, wir könnten dies alles teilen und hätten somit kaum noch Zeit für Traurigkeit.

Ein Hund, pardon, ein Leben mit mehreren Partner*innen soll uns offenbar manchmal vor uns selbst retten. Und wenn wir ganz ganz ehrlich mit uns selbst sind, wissen wir tief in uns drin, daß sie uns ja eigentlich nicht wirklich retten können – nun gut, dann sollen sie uns wenigstens ablenken.
Davon ablenken vor allem, daß wir unsere eigenen Gefühle ganz fühlen müssen. Traurigkeit wie in dem Gedicht zum Beispiel. Tief eingegrabene, negative Grundgefühle wie Traurigkeit, Wut, Angst oder Ekel, für die wir entsprechend eine ganze Welt eintauschen würden, um sie nicht fühlen zu müssen.
In Eintrag 6 zitiere ich erstmals die US-amerikanische Schriftstellerin Anaïs Nin, die schrieb, „daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.“¹
Ja, das könnte auch eine Chance sein. Aber viel eher umarmen wir stattdessen hingerissen – oder mehr noch nahezu berauscht – diese neue(n) Welt(en), weil sie uns so viele neue Kümmernisse bescheren, daß wir uns fortan vollständig nur diesen widmen wollen und können. Und Mehrfachbeziehungen lassen darüber hinaus auch noch den Zusammenstoß mehrerer Welten zu, so daß uns vielleicht obendrein eine Rolle als Vermittler*in, Drahtseilakrobat*in oder gar Manager*in erwächst. Da bleibt gar keine Zeit mehr, die eigenen Gefühle ganz zu fühlen, fühlen zu müssen…

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß diese Ablenkung, die für lange Zeit sogar die Illusion einer „Rettung“ (vor eigenem Leid) aufrecht erhalten kann, durchaus eine Weile funktioniert. Wobei das Wort „funktionieren“, welches seit dem 20. Jahrhundert überwiegend für Gegenstände und Geräte benutzt wird, geradezu sinnbildlich ist.
Denn gute – und mit „gut“ meine ich stets gelingende – Oligo- oder Polyamory wird es auf diese Weise nie.

Der schweizerische Psychater C. G. Jung, der sich intensiv mit unserer inneren Welt von Symbolen und Archetypen beschäftigte, schrieb bereits 1934²:
»Jemand anderen zu lieben ist leicht, aber das zu lieben, was man ist – dieses Ding, das du selbst bist–, das ist so, als würde man ein sengendes, rotglühendes Eisen umarmen; es brennt sich in dich hinein und das ist sehr schmerzhaft.
Deshalb ist jemand anderen zu lieben in erster Linie stets ein Ausweg, auf den wir alle hoffen, und wir alle kosten ihn aus, wenn wir dazu fähig sind.
Aber auf lange Sicht fällt es auf uns zurück. Man kann sich nicht für immer von sich selbst fernhalten. Man muss zurückkehren; man muss sich diesem Experiment stellen, um zu wissen, ob man wirklich lieben kann. Das ist die Frage – ob man sich selbst lieben kann. Und das wird der Test sein.«


Womit C. G. Jung zum Ausdruck bringt, daß wir also dem Bild von Stuhl, Tisch, Brot, Käse, Birnen, Glas, Zimmer, Bett, Schrank, Fenster und Baum so rein gar nichts „hinzufügen“ können, damit der Mensch daneben nicht mehr traurig ist. Selbst wenn er*sie*es den Raum mit weiteren Menschen füllen würde, keine*r davon könnte sicherstellen, daß sich gleichzeitig und wie durch Zauberhand auch „Liebe“ mit in diesem Raum einfinden würde.
Der Mensch in dem Bild müsste vielmehr etwas „hineinfügen“ oder noch besser wiederfinden – und zwar in sich selbst.

Und was das ist, das ist ganz analog zu der Wurzel gelingender Polyamory: Dort ist es Liebe, bei uns selbst ist es entsprechend Selbstliebe. Dort ist es das Gefühl des Miteinanders, bei uns ist es das Gefühl des bei-sich-Seins, des sich selbst Innehabens. Dort ist es Verbundenheit, bei uns ist es die Sicherheit, daß wir aufgrund unseres unveräußerlichen Selbstwertes aus uns selbst heraus existieren können. Dort ist es das „einander als zugehörig Empfinden“ – bei uns ist es ein Empfinden von Identität und Sinn.

Gehen wir an die Poly- oder Oligoamory heran wie der traurige Mensch in dem Zimmer, besteht indessen eine große Gefahr, daß wir unsere Wünsche, die aus unerfüllten Bedürfnissen entspringen, den Plan am Reißbrett für unsere Version einer Mehrfachbeziehung entwerfen lassen. Und unerfüllte Bedürfnisse äußern sich leider schnell in Form von Bedürftigkeit, die derart an den Tag tritt, daß sie potentielle Partnermenschen kurzerhand in (all) jene Bedürfnislücken stopfen, durch die unsere ungefühlten Grundgefühle fortwährend hervortreten wollen – und mit dieser unangenehmen Empfindung von diffusem Energieverlust unsere Lebenszufriedenheit stetig mindern (siehe auch mein Bild vom „Bedürfnisfass“ aus Eintrag 58).
Kein „Flicken“ solcher Art ist folglich jemals in der Lage, die eigentliche Lücke dahinter angemessen zu beheben.

Heute wünsche ich uns daher, daß wir erneut den Weg des größtmöglichen Mutes beschreiten, um diesmal den allerersten grundlegenden Schritt für ein Leben in (Mehrfach)Beziehung zu tun:
Dieses Ding, das wir selbst sind, anzunehmen und zu lieben.
Uns erlauben, unsere Gefühle ganz zu fühlen.
Uns selbst die Hand zu halten, und weder Poly- noch Oligoamory als Ausweg zu wählen, wenn es brennt.



¹ Zitat aus: Anaïs Nin, Tagebücher 1929–1931 „Kann ich zwei Männer lieben?

² Zarathustra Seminar Seite 1473 – C.G. Jung zu Nietzsches Zarathustra (1934)

Der englische Text zu Morning Glory Raven-Zells Artikel mit dem ersten Entwurf zur Polyamory (so wie damals 1990 in der Zeitschrift Green Egg erschienen) HIER

Danke an Renè Müller auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 90

Beziehungs-Anatomie

Die US-amerikanische KrankenhausserieGrey’s Anatomy verdient mit ihren demnächst 20 Staffeln ganz sicher das Prädikat „episch“. Mit kleinen Unterbrechungen wird dort seit 2005 (gut: im deutschsprachigen Raum seit 2006…) geheilt, gehofft, gebangt, geliebt, gestorben, gewonnen und getrennt was das Zeug hält.
Wie bei den meisten Krankenhausserien setzt das rein Medizinische auch bei diesem Format eigentlich vor allem bloß den Rahmen der Handlung. Im Detail – und ganz vorwiegend – geht es um die zwischenmenschlichen Beziehungen des Krankenhauspersonals, ihrem Wohl und Wehe auf der Suche nach…
Ja, was eigentlich?
Auf den einschlägigen Streamingdiensten wird die Langzeit-Ausstrahlung sogar als „LGBTQ-Serie“ verschlagwortet (und empfohlen) – Grund genug also, um allein darum hier auf meinem bLog zu erscheinen?
Nun ja… In der Serie dürfen lesbische und schwule Menschen mitspielen, und das Thema der geschlechtlichen Identität – und auch der Wechsel dieser – wird in mehreren Folgen behandelt.
Allerdings könnte man die Serie aus polyamorer Sicht wiederum durchaus eher als schaurig-fröhlichen Verkehrsunfall einer überraschend traditionell-konservativen Gesellschaftsmoral betrachten.
Denn einerseits: Zwischen Assistenz- und Oberärzten wird heftig geflirtet und gepimpert, was das Zeug hält. Da gibt es reihenweise mal Verliebtheits-, mal Trost- und selbst Vergeltungssex…
Aber andererseits: Genau genommen ist diese bunte Reihe, in der mit schöner Regelmäßigkeit Mißverständnisse im Raum stehen gelassen werden, man sein Gegenüber möglichst unvorteilhaft falsch auffasst und vom Anderen im Zweifel die negativsten Beweggründe annimmt, bloß eine einzige lange Jagd nach der oder dem letztendlich „Einen“.
Und so ist das Etikett „LGBTQ“ auch leider nur auf ein zartes Rütteln an der Heteronormativität¹ begrenzt. Ob lesbisch oder schwul: Auch diese Mitwirkenden des Regenbogens suchen wie selbstverständlich nur ihr eines seelenverwandtes Gegenüber, um mit diesem für den Rest des Lebens fortan glücklich zu sein. Gleichfalls die Transperson, die erwartungsgemäß ebenso auf ein Dasein an der Seite einer anderen Person hofft, die sie so akzeptiert, wie sie ist… – …aber die Betonung bleibt eben auf „einer“.
Weil also die Serie in dieser Eigenschaft so hinreißend mononormativ² daherkommt, scheint sie schon dadurch auf den ersten Blick jenes oben erwähnte (Schlacht)Fest an allüberall aufflammendem Beziehungs-Chaos zu versprechen.

Zum einen ist das rege Bäumchen-wechsel-dich-Spiel mit variierenden Genital-Kontakten ja gewissermaßen ein stillschweigend legitimierter Frei- und Erkundungsraum der monoamoren Gesellschaft für sich ausprobierende Single-Menschen. Dafür werden selbst Kollateralschäden in Kauf genommen – denn schließlich geschieht dies alles in dem allgemein anerkannten Bestreben, das beste/passendste Pendant für sich zu finden.
So werden mit schöner Regelmäßigkeit Herzen gebrochen, heiße Bindungsschwüre geschworen, Beziehungskisten gezimmert, zusammen Wohnraum bezogen und sogar hastig geheiratet, nur um auf dem umkämpften Terrain die beste Partie zu sichern.
Und so kommt es, wie es kommen muß: In gleichermaßen schöner Regelmäßigkeit trennen sich die auf diese Weise konfigurierten Partnerschaften dann doch schließlich wieder; oftmals, weil plötzlich doch Seiten am Partnermenschen auftauchen, die man im Eifer des Gefechts völlig übersehen hatte – oder weil der eigene Glaube, da draußen könne eventuell doch noch ein genauer passendes Exemplar Partnermensch existieren, schließlich – von genug Zweifeln am „Bestand“ genährt – die Oberhand gewinnt…

Zum anderen wird die soeben beschriebene Dynamik obendrein durch den etwas kauzigen Anspruchs des mononormativen Ideals verstärkt, daß dieses „Spiel“ selbstverständlich zu dem Zeitpunkt aufzuhören hat, wenn der*die*das „Eine“ gefunden/errungen worden ist.
Wurde gerade noch mit der Hoffnung auf Erfahrungsgewinn und dem Sortieren von Kompatibilität durch diverse Betten getobt, so soll diese hormonelle Wallfahrt exakt in dem Moment enden, in dem an ihrem Ende der „heilige Gral“ der größtmöglichen Passgenauigkeit in Form des künftigen Lebenspartners gefunden wurde. Auch diese reichlich utopische, und menschlichen – sowie vor allem ganz individuellen – Wesenszügen so gar nicht angepaßte, Maxime leistet in der Serie (wie ja auch in der Realität) dem Zuspitzen der Dramatik, allerhand Leid und schließlich etlicher sich als alternativlos aufdrängenden Trennungen zusätzlich Vorschuß.

All die Zuschauer*innen der Serie, die bereits zuvor ohnehin gewisse Zweifel am „ewig zweisamen Bund fürs Leben“ hegten, reiben sich spätestens da stets aufs Neue die Hände: Grey’s Anatomy bestätigt wieder und wieder im Spiegel einer Fernsehserie die offensichtlichen Gründe für nach wie vor hohe Scheidungsraten³ – und damit genau genommen auch die strukturelle Dysfunktionalität dessen, was von ihren Kritiker*innen (speziell in der Beziehungsanarchie) als bigotte Mogelpackung „RZB“, der „Romantischen Zweierbeziehung“, tituliert wird.

Wir Leser*innen dieses bLogs – und auch ich als Schreibender – können diese Betrachtungsweise wahrscheinlich nachvollziehen. Denn ein Leben in Mehrfachbeziehungen konfrontiert uns ja exakt mit diesen Erscheinungen, bei denen man den Charakteren der Serie am liebsten gelegentlich zurufen möchte: „Hey, habt ihr euch schon einmal überlegt, was wäre, wenn ihr euch jetzt nicht zwischen zwei Leuten entscheiden müsstet!?“
Die Dynamik von Grey’s Anatomy, die davon lebt, daß es immer wieder darum geht, sich, selbst unter größten Schmerzen für alle Beteiligte, zu entscheiden, wäre selbstverständlich sogleich verpufft. Egal, ob bei der vorehelichen „Jagd“ stets immer nur ein Ziel in serieller Manier verfolgt und umworben werden darf – oder ob nach dem „Zieleinlauf“ ab sofort unantastbare Zweisamkeit zu herrschen hat, bzw. anderweitig sofortige Beziehungsauflösung die Folge sein muß.

Wir (ich schreibe das jetzt mal so kollektiv), das „Mehrfachbeziehungsvolk“, wissen indessen, daß wir durchaus in mehreren romantisch-intimen Liebesbeziehungen mit verschiedenen Menschen zugleich sein können. Und wir wissen, daß unsere Gefühle für zusätzliche weitere Personen auch dann aufkommen können, wenn wir uns bereits in „festen“ Partnerschaften befinden – und diese Verbindungen dürfen parallel existieren und müssen einander nicht unvermeidlich ablösen.
Ein Denken in Mehrfachbeziehungen begrüßt letztendlich das „und“ – und empfindet ein „oder“ als vorab reduzierende Konvention.

Warum schlagen wir uns aber in Mehrfachbeziehungen dann nicht so viel besser?
Wenn Grey’s Anatomy ihr „LGBTQ-Prädikat“ ernster nähme, wenn die Serie nicht nur Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung, sondern auch Beziehungsformen und Liebesweisen inkludieren würde – wäre sie dann automatisch weniger hochdramatisch?
Ich glaube leider nicht, denn auf den zweiten Blick sind die Schlußfolgerungen, welche die Fernsehserie bezüglich unseres allgemeinen zwischenmenschlichen Beziehungs- und vor allem Beziehungsanbahnungsverhaltens nahelegt, dennoch ebenfalls für Mehrfachbeziehungen überwiegend anwendbar.

In den vergangenen Wochen habe ich mich nach einiger Zeit wieder verstärkt durch verschiedene Foren rund um unser Thema gelesen – und müsste nun zugeben, daß es häufig nicht gar so sehr anders in Mehrfachbeziehungswelten zugeht als in vorabendlicher Serienlandschaft.
Vor allem zwei Brennpunkte, welche die Macher*innen der Serie Grey’s Anatomy für stete Spannungsbögen regelmäßig bedienen – und die ich oben bereits kurz habe anklingen lassen – verwandeln auch für Beziehungen mit mehr als nur zwei Beteiligten das Leben rasch zum Melodram auf ganzer Linie.

Zu viel – zu schnell
Im Krankenhaus erfolgt das Kennenlernen bei der Arbeit, es folgt ein rasanter Flirt, bei dem sich Freunde und Bekannte noch mit Tipps und Spekulationen beteiligen dürfen – und nicht lange und die Kernbeteiligten finden sich zu einem körperlichen Stelldichein (meist) im Bereitschaftsraum der Klinik wieder. Das alsbaldige Herbeiführen einer sexuellen Begegnung scheint unumstößlich zum Kennenlern-Kanon zu gehören – und danach ist es entweder sofort „große Liebe“ oder wenigstens ein Fegefeuer entfachter Leidenschaften, weil irgendwelche Details nicht geklärt sind – was aber in jedem Fall auf Wiederholung und Fortsetzung drängt. Und weil das Nahumfeld ja den schwindelerregenden Prozess entsprechend mitbekommen hat und nun mit der flott initiierten Sexualität gewissermaßen „Tatsachen“ im Sinne gesellschaftlich akzeptierter Paarbindung geschaffen wurden, muß schnell der Rest einer vollumfänglichen Beziehung hinterheretabliert werden. Zumindest für den Augenschein – und wenigstens so weit, daß man sich selbst (und das potentielle Partnerwesen) davon mitüberzeugt (siehe dazu auch vorherigen Eintrag 89).
Zu Anfang dieses heutigen Eintrags habe ich die zugrundeliegende Moral von Grey’s Anatomy als „überraschend traditionell-konsevativ“ beschrieben.
Vielleicht ist die Serie aber durchaus tiefgründiger, weil sie das gezeigte hektische Verhalten der Beteiligten – mit dem sie manchmal den Untergang einer Beziehung zusätzlich noch schneller betreiben, als ihnen bewußt ist – gegen eine innere Sehnsucht ausspielt: Nämlich dem Wunsch nach Kennenlernen und gesehen-Werden, um sich über die Perspektive für echte Vertrautheit klar zu werden.
Monogamie mag uns als eine Art etwas seltsame (und im Kern vermutlich unnötige) Selbstbeschränkung vorkommen. Was in der Monogamie jedoch eben vielleicht für „nur einen“ Partnermenschen gilt, das gilt für uns in der Poly- oder Oligoamory doch auch. Die oben beschriebene, für Serien so sehr geeignete „Jagd“ ist lediglich das übriggebliebene Zerrbild einer Hoffnung, die in uns allen wohnt: Menschen um uns zu haben, die uns so annehmen, wie wir sind. Und im Gegenzug dafür Menschen um uns zu sammeln, denen wir trotz all ihrer Eigenheiten vertrauen.
Auch in der Poly- und Oligamory lassen wir uns aber oft zu schnell davon hinreißen, diesen Prozeß abzukürzen – oder möglichst schon das Ergebnis der Entwicklung vorzuziehen. So schaffen auch wir überstürzt „Tatsachen“ bei denen sich eventuell nach kurzer Zeit gleich mehrere Personen damit auseinandersetzen müssen, daß bestimmte Grundlagen, die genau für gemeinschaftliches Vertrauen, angemessene Wert-Schätzung und Gewißheit, die auf gesammelten Erfahrungen beruht, schlicht fehlen. Wodurch Selbst- und Fremdverunsicherung beginnen um sich zu greifen, profane Eigenschaften zu schwer erträglichen Eigentümlichkeiten werden und genau der Beziehungsfrieden, nach dem alle Beteiligten eigentlich für sich auf der Suche sind, sich genau nicht mehr einfinden wird.
Was direkt zum nächsten Punkt führt.

Stets das Schlimmste annehmen
Bei Grey’s Anatomy ist es gewissermaßen schon Manier: Die Charaktere, selbst wenn sie befreundet sind, schaffen es immer wieder, sich in drastischster Form mißzuverstehen. Dabei hilft enorm, niemals nachzufragen, sich hingegen sicher zu sein, was das Gegenüber will, braucht oder beabsichtigt – und natürlich: die Handlungen der anderen Personen so auszulegen, als ob diese bei ihrem Vorgehen den Vorsatz zu größtmöglicher Schadensverursachung hatten.
Wenn es keine Fernsehserie wäre, könnte man sich als Betrachter wundern, wie dies allein unter Menschen möglich ist, die einerseits einem engen Freundeskreis angehören und dort z.T. die biographischen Hintergründe von einander kennen – und die anderseits täglich buchstäblich Hand in Hand aufeinander abgestimmt arbeiten müssen, um Leben zu retten…
Aber nicht jede*r von uns muß täglich Leben retten – ok, abgesehen vom eigenen – oder?
Unsere menschlich-evolutionär verankerte Negativerwartung (siehe dazu auch Eintrag 43) trübt uns jedoch schon bei normal-etablierten Alltagsbedingungen gelegentlich die Sicht. Oft kommt dazu noch eine weitere ebenfalls typisch menschliche Eigenschaft, nämlich die Tendenz, Maßgaben des eigenen Handelns auch für alle Anderen als Allgemeingültig anzusehen (übrigens auch eine kognitive Verzerrung aus Eintrag 89: die Verzerrungsblindheit) – und dadurch Abweichungen davon als unklug oder geradewegs als absichtlich niederträchtig zu gewichten.
Wenn dazu nun noch ein weiterer Keim der Unsicherheit unsere so bestenfalls dösenden („schlafend“ wäre ja eine Beschönigung…) Hunde weckt, dann nehmen die meisten Angelegenheiten – speziell in Beziehungsdingen – einen wahrhaft unschönen Verlauf.
Insbesondere im Verbund mit dem oberen Abschnitt „Zu viel – zu schnell“ stellen sämtliche Beteiligte in sich eventuell fest, daß – um eine Tennis-Metapher zu benutzen – zu hastig zum Netz geeilt wurde – und noch überhaupt nicht genügend zu einer Verbindlichkeitsgrundlage beigetragen worden ist, die das Verhalten der übrigen beteiligten Personen als berechenbar oder (ausreichend) verlässlich erscheinen läßt. Dies gilt in so einem Moment selbstverständlich in besonderem Maße für potentiell neu hinzukommende Menschen, die gerade noch in der Kennenlernphase stecken. Dies kann aber auch urplötzlich für Bestandspartner*innen gelten, mit denen wir uns schon lange in gefestigten Beziehungsmustern wähnten.

Polyamory – und Oligoamory – sind Lebens- und Liebesweisen, die von ihrer Konzeption her diesen menschlichen Ausprägung mit gemeinsamen Werten entgegenkommen wollen.
Weil eben Fiktionen wie Grey’s Anatomy aber auch z.B. der Harry-Potter-Zyklus“ in ihrer Dramaturgie davon profitieren, daß selbst nahestehende Personen, die auf der gleichen Seite stehen, schlicht nicht miteinander sprechen, wollen die obengenannten Formen von Mehrfachbeziehung betonen, daß Gleichberechtigung und Teilhabe in einem Beziehungsnetzwerk elementar sind; daß dort jede Stimme, jede Idee, auch jedes Bedenken, gleichwürdig und auf Augenhöhe sowohl ausgedrückt als auch wahrgenommen werden sollte.
Dies bildet die Grundlage dafür, daß alle Beteiligten sich trauen, wirklich aufrichtig und transparent (= offen, zugänglich und unmittelbar) zu sein, wodurch es überhaupt erst eine Basis für gemeinsame Vertrauensarbeit und wahres Kennen-Lernen, was seinen Namen verdient, gibt. Wenn alle nach und nach auf diese Weise gewahr werden, daß auch die anderen Personen ihren Beitrag zum „Ganzen“ anerkennen, beginnt sich Verläßlichkeit auszubilden – und aus der kann irgendwann dann tatsächliches Vertrauen wachsen.

An einem etwas unwahrscheinlichen Ort habe ich dazu ein erstaunlich passendes Zitat gefunden. Robert Pölzer, Chefredakteur der Zeitschrift „Bunte“, schrieb zur Krönung des britischen Monarchen König Charles III. (Ausgabe 20/2023):
»Werte machen wehrhaft. Werte sind das Fundament der Liebe. Denn Liebe ist ohne aufrichtige Werte keine Liebe, sondern nur ein Spiel. Nur wer mit dem Herzen gibt, kann wahre Liebe erfahren.«

Wenn Herr Pölzer „wehrhaft“ sagt, dann meint er „widerstandsfähig“. Und Widerstandsfähigkeit benötigen wir – in all unseren menschlichen Nahbeziehungen – weil unsere Bedürftigkeiten eben eher dazu angelegt sind, uns hinzureißen, insbesondere in den Momenten, in denen wir unbewußt oder selbstvergessen, wie der sprichwörtliche Esel der Karotte, nur unserer nächstliegendsten Neigung folgen.
Über Widerstandsfähigkeit – gelegentlich auch Resilienz genannt – verfügen wir alle in unterschiedlichem Maß bereits seit unserem Aufwachsen. Aber nach heutigem Stand der Wissenschaft ist sie auch etwas, das wir in unserem weiteren Leben ausbauen dürfen.
Ich glaube daher fest, daß wir dahingehend wie gute Ärzte für uns handeln können:
Ein solides Fundament pflegen, unseren (Mehrfachbeziehungs-)Werten treu sein, im Zweifel das Tempo drosseln und lieber sorgsam statt überstürzt handeln – und zuversichtlich niemals gleich vom Schlimmstmöglichen ausgehen.
Denn so bedenklich, daß es einer OP bedarf, ist es im Liebesleben in fast allen Fällen, die ich je erlebt habe, normalerweise nicht.
Heute ist ein guter Tag, um Leben zu retten.



¹ Heteronormativität bezeichnet eine Weltanschauung, welche die Heterosexualität als soziale Norm postuliert. Zugrunde liegt eine binäre Geschlechterordnung, in welcher das anatomische/biologische Geschlecht mit Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und sexueller Orientierung gleichgesetzt wird. Das heteronormative Geschlechtermodell geht von einer dualen Einteilung in Mann und Frau aus, wobei es als selbstverständlich angesehen wird, dass eine heterosexuelle Entwicklung vorgesehen ist und damit der „normalen“ Verhaltensweise entspricht – andere Aspekte der menschlichen Sexualität werden oftmals pathologisiert. Damit können Homophobie und andere Formen der sozialen Menschenfeindlichkeit einhergehen. Der Begriff der Heteronormativität ist zentral in der Queer-Theorie, welche die Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt.

² Mononormativität bezeichnet die Annahme, dass romantische und sexuelle Beziehungen nur zwischen zwei monogamen Partnern bestehen können oder normal sind, sich also auf Praktiken und Institutionen beziehen, die monosexuelle und monogame Beziehungen als grundlegend und „natürlich“ in der Gesellschaft bevorzugen oder bewerten (Quelle: Englischsprachige Wiktionary)

³ …aber steigen tun sie – entgegen medialer Gerüchte – nicht mehr; siehe HIER (Quelle: Statista)

Der letzte Satz des heutigen Eintrags stammt natürlich von der beliebten Serienfigur Dr. Derek Shepherd (Patrick Dempsey).
Und ja: In Staffel 15 Folge 13 „Gratwanderung“ wird kurz über die Möglichkeit von Senioren-Polyamory spekuliert. Aber auch in dieser Folge bleibt es genau lediglich bei Spekulation.

Danke an das National Cancer Institute auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 89

Kognitive Verzerrung¹

Zweitausendsiebzehn war für mich das Jahr, in dem ich mich unverzagt unter das polyamore Volk mischte.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich zuvor drei Jahre Erfahrung in solider Küchentisch-Heimwerker-Polyamorie gesammelt; anderhalb Jahre davon hatte ich noch dazu in einer engverbundenen, familiengleichen Dreierbeziehung mit Haus und Kindern gelebt – und nun dachte ich demgemäß, daß ich auch für weitere potentielle Partnermenschen bereit wäre.
Die damalige Zeit vor der Corona-Plage war solchen Intentionen gegenüber freundlich gesonnen. Ich war bereits Mitglied in dem damals größten deutschen Polyamorie-Forum auf Facebook – und dort war es nicht unüblich, schlicht zu Vernetzungszwecken einfach auch mal interessante Personen, mit denen man schon einmal einmütig in Beiträgen zu diversen Themen Übereinstimmungen festgestellt hatte, anzuschreiben und – so denn der km-Radius der wechselseitigen Wohnorte auch noch eine ökonomisch brauchbare Nähe erkennen ließ – sich auch einfach mal „live“ zu treffen.
Auf diese Weise hatten meine Liebste und ich zu jender Zeit dann also ein paar erste Treffen von, hm, „dateartigem“ Charakter.

Ein wenig „goldfiebrig“ war die Situation schon, denn die „andere Seite“ war meistens genauso gespannt, wen und auf was man treffen würde wie das eigene Ich.
Und „goldfiebrig“ war, was mich anging, auf jeden Fall eine gute Beschreibung.
Das lag ganz vorderhand schon daran, daß sich auf diese Weise ja erst einmal rasch zwei, drei Gelegenheiten für Treffen ergaben, was eine gewisse Fülle und Auswahl suggerierte.
Zusätzlich war es so, daß fast alle Personen, die mutig in dieser Art zu Verabredungen bereit waren, so wie ich selbst auch seit einiger Zeit gerade „raus aus dem polyamoren Besenschrank“ getreten waren – und nun ihre Vorstellung von ethischen Mehrfachbeziehungen einen konkreteren Abgleich mit dem grünen Leben angedeihen lassen wollten (auf jeden Fall mehr als in der doch etwas blutleeren Form einer bloßen Forumsdiskussion…).

In dieser Weise traf ich mich mehrmals mit Kristina. Kristina war aufgeschlossen und lustig (und so war sie mir schon in den sozialen Netzwerken aufgefallen) – aber sie war deutlich jünger als ich und ein konkretere Abgleich unserer sonstigen Interessen (abgesehen von Polyamorie) erwies bald, daß es nicht so furchtbar viele Schnittmengen gab. Zusätzlich erinnerte mich das Aussehen von Kristina ein wenig an eine ehemalige, ziemlich aufdringliche Nachbarin (welche wiederum älter als ich gewesen war) – und ein sehr schrulliger Teil von mir befürchtete, daß Kristina dieser in einigen Jahren eventuell ähneln könnte, was mir als unangenehme Reminiszenz nur schwer auszuhalten wähnte.
Wenn jetzt einige von Euch Leser*innen die Augen rollen, dann kann ich Euch von meinem heutigen Standpunkt nur zustimmen: Ich war mit einer „Liste im Kopf“ unterwegs – und glaubte, daß sich „das perfekte Date“ ganz sicher noch alsbald einfinden würde. Ganz gemäß dem albernen Spruch „…drum prüfe, wer sich länger bindet, ob sich nicht noch was bess’res findet…“.
Ich war durch diese selbstgefällige Herangehensweise dann auch in kürzester Zeit recht vollständig betriebsblind.
Beim zweiten Treffen saßen Kristina und ich zuhause bei mir auf dem Sofa und Kristina sprach… ach, über irgendetwas. Neugierig genug mußten wir ja wohl beide aufeinander gewesen sein, sonst hätte sich doch vermutlich kein zweites Treffen ergeben – aber aufgrund der oben erwähnten suggerierten Fülle hielt ich auch das für (zu) selbstverständlich.
Ich schaute also Kristina mehr zu wie sie sprach, als daß ich tatsächlich zuhörte und merkte dabei nahezu körperlich, wie ich unterdessen an einen Punkt gelangte, an dem sich mit einem Mal die Option für mich auftat, mich in Kristina zu verlieben.
„Ach“, dachte ich, „das ist ja famos wie das mit der Polyamorie geht!“ Durch mein „polyamor-Sein“ schien ich in eine Lage versetzt, mich willentlich in eine (weitere) Person verlieben zu können, trotz meiner „Liste im Kopf“, welche praktische, theoretische und sogar ästhetische Gegengründe aufführte . Und ich war ganz offensichtlich befähigt, die Weiche „Verlieben – ja oder nein?“ aufgrund meiner Freiheit, mich mittlerweile gedanklich gewohnt in Mehrfachbeziehungsräumen zu bewegen, bewußt wählen oder vermeiden zu können. Genial!
Ich entschied mich damals für ² die Weiche und wählte „Verlieben!“ – und genoß die folgenden Minuten in denen Kristina ahnungslos meiner inneren Erwägungen weiterredete, es sich für mich aber um sie herum eine immer wundervollerer Aureole von Anziehung und Liebreiz verdichtete und ich mich von Moment zu Moment immer mehr in sie verschoß.
Am selben Nachmittag noch war dann auch Kristina klar, daß sich atmosphärisch von meiner Seite aus irgendetwas wohl maßgeblich verändert hatte. Kristina war – wie sie später zugab – durchaus bereits von mir angetan, aber, da sie hinlänglich schüchtern war, von meiner bisherigen Haltung zunächst doch etwas verunsichert. Als ich also endlich meinen Schmetterlingen Flugerlaubnis erteilte, flatterten mir die ihren sogleich beschwingt entgegen – und der Rest, tja, der Rest könnte Geschichte sein.
Nein, der Rest IST sogar leider Geschichte, denn meine Beziehung mit Kristina währte nur etwa ein Vierteljahr und dann fuhren die Sache vor die Wand – aus Gründen, die ich gegebenenfalls mal in einem anderen Eintrag darlegen werde – heute soll es um etwas anderes gehen.

Sechs Jahre im Mehrfachbeziehungsuniversum später denke ich regelmäßig an diesen Nachmittag mit Kristina.
Denn für eine geraume Weile zementierten sich dort mehrere amouröse Fehlschlüsse in mein Hirn, die mir meine Wahrnehmung im nächsten halben Jahrzehnt „Poly- und Oligoamory“ unnötig verdrehten.
Fehlschluss 1: Da draußen gibt es viele spannende Menschen die für Mehrfachbeziehungen aufgeschlossen sind. Mit etwas Recherchefähigkeit und Beharrlichkeit wirst du also immer wieder jemanden interessantes finden und kannst so den Kreis deiner Liebsten stets konsolidieren (=einpendeln, ins Lot bringen, auf Stand halten).
Fehlschluss 2: Du besitzt die Fähigkeit, dich gezielt zu verlieben – oder kannst wählen, dies nicht zu tun. So wirst du genau den richtigen Kreis von Personen für Dein Netzwerk zusammenfinden. Du wirst weder an die falschen Typen geraten, noch wird es „Hals-über-Kopf-Aktionen“ geben.
Fehlschluss 3: Du bist ein toller Kerl und hast eine Menge Potential zu bieten. Wenn Du ein Angebot machst, dann ist es an diesem Punkt bereits schon so gut, daß es kaum mehr abzuweisen ist. Die Vorzüge, mit dir in Beziehung zu gehen, sind offensichtlich.

2017 wusste ich noch nicht, daß dies Fehlschlüsse waren. Im Gegenteil – ich hielt diese Vorstellungen für (selbst)erklärlich und daher für plausibel.
Punkt 1 führte allerdings zu einem immer größeren Aufwand in meinem Datingverhalten, so daß ich auf dem Höhepunkt meines „Sortierwahns“ Mitglied von fast einem Dutzend Partnerbörsen war – fest davon überzeugt, daß „mehr Auswahl“ in letzter Konsequenz unausweichlich zu einem „mehr an Passgenauigkeit und Kompatibilität“ führen müsste.
Punkt 2 ließ mich lange glauben, daß ich mit der Gabe des „Bewußten Verliebens“ über eine Art innere Schutzvorrichtung gegen Fehlentscheidungen in Liebesdingen verfügen würde – leider war jedoch genau das Gegenteil der Fall.
Und Punkt 3 war schlicht das pure Selbstverständlichhalten von Dingen, die eben in keiner Weise selbstverständlich sind oder waren – und damit eine ganz und gar gar nicht nachhaltige Konsumentenhaltung, die so überhaupt nicht zur Philosophie der Oligoamory (siehe deren Untertitel) passte.

Im gerade zurückliegenden April 2023 las ich in der „Einbecker Kompakt“ (physische Ausgabe 19.04.) ein faszinierendes Interview mit dem bekannten Schauspieler und Sprecher Bjarne Mädel³. Auf die Frage des Journalisten Kristian Teetz »Wann ist man denn man selbst?« antwortet Herr Mädel:
»Das ist eine spannende philosophische Frage: Wer ist man eigentlich wirklich, wenn niemand zuguckt? Wer bin ich, wenn ich mich nicht selbst beobachte? Das ist ja fast unmöglich zu sagen. Deshalb habe ich z.B. auch nie begonnen Tagebuch zu schreiben: Denn wenn ich es später lese, dann möchte ich, dass es grammatikalisch einwandfrei und gut geschrieben ist. Und in so einem Moment, in dem ich darüber nachdenke, wie und was ich schreibe, bin ich gleich beim Performen und nicht mehr dabei, ehrlich festzuhalten, was ich in dem Moment wirklich empfinde.«
Und Bjarne Mädel ergänzt im selben Interview:
»Aber trotzdem ist es mir auch schon passiert, dass ich mich privat als jemand anders ausgegeben habe oder versucht habe, mich in ein gutes Licht zu stellen. Ich erinnere mich z.B. an meine Zeit mit einem guten Freund in einer WG: Da habe ich an einem Tag mal mein Zimmer aufgeräumt, mir eine Kanne Tee mit einem Stövchen und ein paar Keksen hingestellt und mich dann mit einem Buch aufs Sofa gesetzt. Das sah alles sehr gemütlich aus, aber hinterher wurde mir klar, dass ich das eigentlich nur gemacht habe, damit das „Bild“ stimmig ist, falls jemand in das Zimmer guckt. Meine Gemütslage war eine vollkommen andere. Ich wollte in der Situation einem schöngeistigen Bild entsprechen, das ich selbst gerne von mir gehabt hätte.«

Mit diesen Beschreibungen hat Bjarne Mädel auch mich entlarvt: Auf dem Mehrfachbeziehungskontinent war auch ich viel zu lange mit einem „Bild“ von mir selbst unterwegs, welches ich selbst von mir gerne gehabt hätte – und von dem ich mir ebenfalls gewünscht hätte, daß ich es wenigstens anderen Menschen um mich herum von mir hätte präsentieren können. Dadurch habe ich aber den viel wichtigeren Faktor „Authentizität“ eingebüßt – weil ich „gediegener“ und weniger nervös, unerfahren und selbstunsicher erscheinen wollte, als ich es realistischerweise war.
Was jedoch schlimmer war, daß in meine Richtung zumindest diese Selbsttäuschung ein klein wenig zu gut funktionierte: Denn so hielt ich schließlich sogar meine Verliebtheit für einen integrativen Teil des „Bildes“.

Fehlschluss 1 – der über die Reichhaltigkeit potentiell zur Verfügung stehenden Partner*innen – ist ja bei Licht besehen noch leicht zu widerlegen. In Eintrag 78 nenne ich für Deutschland ca. 10.000 wirklich aktive polyamoren Menschen, an anderer Stelle wird die Zahl von 0,2% der Gesamtbevölkerung genannt, die sich überhaupt ein Leben in Mehrfachkonstellation vorstellen kann (womit wir bei 84 Millionen Einwohnern irgendwo knapp oberhalb von 160.000 Leuten landesweit landen…). Selbst ausgezeichnete Recherchefähigkeiten – über die ich tatsächlich verfüge – werden also hier in jedem Fall eher früher als später schlicht an ganz reale Ressourcengrenzen stoßen.
Fehlschluss 2 hingegen führte zu einer Art Selbstsabotage, die sehr hartnäckig war. Und dusseligerweise vertauschte ich durch die Selbstzuschreibung einer „Fähigkeit des Verliebens“ die Ausnahme – also gewissermaßen das Wunder (!) – mit dem Erwartungsgemäßen.
Verlieben ist bei mir nämlich eigentlich – wie bei den allermeisten Menschen auch – etwas, was mir nicht so häufig passiert. Es war daher auch im Fall von Kristina etwas durchaus außer-Gewöhnliches.
Womit genauso Kristina was mich anging etwas Besonderes war (Fehlschluss 3). Und das hätte von dort an besser mein Fühlen und Denken bewegen sollen – und nicht der Glaube an genügend Auswahl und Herbeiführbarkeit.
Denn wenn ich die Unselbstverständlichkeit der Verliebenssituation richtig eingeschätzt hätte, hätte ich vermutlich auch in den holprigeren Zeiten unserer danach entstehenden Beziehung viel engagierter und entschiedener für diese Beziehung gekämpft. Ich schreib‘ es für Euch also nochmal hin: Verliebtheit, Leute, die seid ihr selbst; da seid ihr höchstwahrscheinlich ganz und gar echt aus eurem tiefsten Inneren! Traut euch selber in dieser Hinsicht und ordnet nicht das Verlieben dem Freiheitsideal eines Fühlens und Handelns in Mehrfachbeziehungsmöglichkeiten zu!
Vier Jahre Oligoamory später weiß ich heute über mich, daß Verlieben bei mir (nach wie vor) die große Ausnahme ist – egal in welchem Beziehungsmodell ich mich bewege. Heute weiß ich: Wo ich verliebt bin, da ist es „richtig“. Aber dort bin ich dann auch wirklich gefordert, all die guten Seiten von Verbindlichkeit , Aufrichtigkeit und Verantwortung einzubringen, eben genau weil es so un-selbstverständlich ist.

In dem bereits erwähnten Interview entwirft der Schauspieler Bjarne Mädel ein sehr passendes Bild. Ein Protagonist in seinem neuen Hörbuch sei »…neidisch darauf, dass andere dieses Gefühl des Angekommenseins haben. Er beschreibt eine Sehnsucht nach Beständigkeit, nach Zugehörigkeit. Das ist auch ein Thema was mich interessiert: Was bedeutet „zu Hause“ sein?«
Bjarne Mädel fügt zwei Fragen später hinzu:
»Und so habe ich den Satz „Andere wohnen im Leben“ geprägt: Es gibt Menschen, die eindeutig wissen, wohin sie gehören, und die „wohnen in ihrem Leben“. Bei mir selbst ist es eher zugig und eine Tür steht offen. […] Aber eigentlich sind diese Menschen oft viel glücklicher, weil sie eben nicht denken, auf der nächsten Party ist mehr los, und nicht denken, dass sie immer auf der Suche sein müssen. Solche Menschen sagen eher: Wir bleiben auf dieser Party, bis wir müde sind. Andere rennen den ganzen Abend von einer Fete zur nächsten und am Ende haben sie dann eigentlich nirgendwo richtig gefeiert, niemanden richtig kennengelernt, mit niemandem ernsthaft gesprochen, nichts erlebt.«

Absolut weise Worte. In den letzten Jahren habe auch ich über mich herausgefunden – und dieser bLog hat ein wichtiges Stück dazu beigetragen –, daß „Zugehörigkeit“ und „eindeutig wissen, wohin ich gehöre“ zentrale Fragestellungen in meinem Leben sind. Das ist keineswegs nur geographisch zu verstehen (aber auch) – sondern es betrifft vor allem darüber hinaus das „in-sich-selbst-zuhause-Sein“.
Wäre ich das mit größerer geläufiger Gewissheit, dann wäre ich wahrscheinlich nicht so lange meiner Selbst-Inszenierung erlegen. Ich würde vertrauensvoller „in mir selbst wohnen“ – und damit auch den Regungen meiner selbst mehr vertrauen.

Nach über vier Jahren Oligoamory wünsche ich uns allen also heute folgerichtig mit den Worten von Bjarne Mädel, daß wir daher auch „in unseren Beziehungen wohnen“.
Was mir als eine vollständig passende Metapher erscheint: Eine Person wie eine (neue) Umgebung wirklich kennenlernen, sich selbst dieser Person wie einem Zuhause widmen – unbeeindruckt davon, ob vielleicht woanders mehr los ist – und bleiben, bis man gemeinsam schrumplig ist.

Wodurch es für mich auch wieder mit der Oligoamory stimmig ist: Ich bin überzeugt, daß wir an mehr als nur einem Ort – nicht aber an beliebig vielen – zuhause sein können.
Und ein „Zuhause“ erkennen wir schließlich daran, daß wir dort wirklich ganz und gar „wir“ sein dürfen: verbindlich, authentisch und angstfrei.
Home is where the heart is.



¹ Kognitive Verzerrung: ist ein kognitionspsychologischer Sammelbegriff für systematische fehlerhafte Abweichungen vom Normalzustand bzw. der Verhältnismäßigkeit bei eigenen Beurteilungen. Menschen schaffen ihre eigene „subjektive Realität“ aus ihrer Wahrnehmung von Informationen. Die individuelle Konstruktion der Realität (und nicht der objektive Informationsinhalt) kann so das Verhalten von Personen bestimmen. Daher können kognitive Verzerrungen manchmal zu Wahrnehmungsverzerrungen, ungenauen Urteilen, unlogischen Interpretationen und Irrationalität führen.
Siehe auch: Liste kognitiver Verzerrungen

² Die Leser*innen die jetzt grinsen und denken „Haha, Oligotropos, ich hätte mich auch daFÜR entschieden…“ müssen zur Vollständigkeit wissen, daß ich in den nachfolgenden Jahren zahlreiche Dates hatte, bei denen ich mich durchaus daGEGEN entschied. Zumindest dachte ich das – also daß ich das entschied… Die unverzerrte Wahrheit hingegen war allerdings höchstwahrscheinlich die, daß in mir bezüglich der anderen Personen schlicht gar kein Verliebtheitsfunke aufkam. Soviel zum Thema Bewußtheit…

³ Bjarne Mädel ist unter anderem durch seine Rolle als „Tatortreiniger“ bekannt. Der Journalist Kristian Teetz (Redaktionsnetzwerk Deutschland) hat ihn zur aktuellen Veröffentlichung des neuen Hörbuchs mit Texten von Ingrid Lausund „Bin nebenan – Monologe für zuhause“ (SpeakLow 2023, Länge ca. 4 Stunden), bei dem B. Mädel die Regie führte, interviewt.

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Eintrag 88 #Exklusivität

…und nicht exklusiv?

Normalerweise vertrete ich auf diesem bLog die Ansicht, daß Oligoamory etwas sein sollte, „das man tut“ – und nicht etwas, „was einem passiert“. Damit möchte ich dann vor allem die Bewußtheit betonen, mit der ich mir hier in diesem Projekt wünsche, wie wir Mehrfachbeziehungen auffassen, führen und pflegen.

In der Praxis sieht das natürlich trotzdem in vielen Fällen doch anders aus. Dort sind romantische Mehrpersonen-Konstellationen durchaus überwiegend noch „ein Ereignis“ und sehr viel seltener das Ergebnis strategischer Lebensplanung.
Womit ich meine, daß selbst jetzt, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, sicher nur wenige Individuen (selbst wenn es Teenager wären…) gerade zuhause sitzen und denken: „Och ja, in ein paar Jahren eine Gemeinschaft mit zwei, drei, vier (…) Liebsten, das ist genau so, wie ich mir mein Privatleben später vorstelle…“ Und die dann auch noch aktiv daran gehen würden, diese Vorstellung konsequent und zielstrebig umzusetzen.
Wenn wir nicht gerade vor einem sehr liberalen, vielleicht sogar queeren Hintergrund mit starken individualistischen Regenbogen-Vorbildern aufwachsen, dann ist das doch eher noch die große Ausnahme.

Worauf ich damit hinauswill ist, daß, wenn wir uns für einen kurzen Moment in dieses Bild hineindenken, auffällt, wie stark wir in Beziehungsdingen doch nach wie vor in der Dimension denken, welche als die „soziale Rolltreppe“ bekannt ist.
Zur Erinnerung: Die „soziale Rolltreppe“ ist der Lebensentwurf, der von der derzeitigen Mehrheitsgesellschaft überwiegend gelebt wird – und daher meist auch der, welcher von den derzeitigen sozioökonomischen Strukturen in der Regel unterstützt wird. Aktuell ist dies z.B. unser westlicher Lebenslauf, welcher aus Kindergarten, Grundschule, weiterführender Schule, Ausbildung und/oder Studium und Berufseinstieg besteht; in die letzten Phasen dieses Werdegangs fällt dann meist die Partnerfindung, vielleicht auch schon der Beginn der Familiengründung… – und mit diesen ersten grundlegenden Festsetzungen starten wir meist nach wie vor in unser weiteres Leben (und unterscheiden uns darin nicht besonders von den Generationen vor uns). Das Bild der „Rolltreppe“ – statt des eines „Förderbandes“ z.B. – legt zusätzlich nahe, daß es sich bei der zurückzulegenden Entwicklung normalerweise um ein stetes „aufwärts“ oder „besser“ handelt (oder wenigstens handeln sollte), so wie sie der Idee von Leistungsgesellschaften häufig zugrunde liegt.

In Eintrag 12 erwähne ich den häufig zitierten, widerständigen Ausruf „Ich bin keine Nummer, ich bin ein freier Mensch!“ ¹, mit dem wir meist darauf hinweisen wollen, daß wir in unserem Leben trotzdem die Steuerleute unseres selbstgewählten Kurses sind – und würden unsere Biographien eventuell auch oberflächlich betrachtet langweilig normativ daherkommen…
Ja, schon… Aber dann – genau genommen – doch auch wieder nicht.
Denn die „soziale Rolltreppe“ ist schon sehr lange in Betrieb, länger als alle von uns hier leben, sie umgibt uns weitestgehend bis heute – und das „macht“ selbstverständlich etwas mit uns.
Und da dies hier ein BeziehungsbLog ist, insbesondere: Es macht etwas mit uns bezüglich der Art, wie wir „Beziehungen denken“.

An dieser Stelle muß ich selbst etwas vorsichtig sein, weil die Grundlagen jener Einflüsse, welche unser menschliches Liebes- und Partnerwahlverhalten beeinflussen, aus meiner Sicht immer noch nicht gut genug erforscht sind. Soziologische Betrachtungen, wie z.B. in Friedemann Karigs Kompilation „Wie wir lieben“ (Aufbau Taschenbuch 2018) oder evolutionäre Herangehensweise wie die von Christopher Ryan und Cynthia Jethá in „Sex – die wahre Geschichte“ (Klett-Cotta 2016)² scheinen zunehmend darauf hinzuweisen, daß Homo sapiens darin durchaus strategisch flexibler und vielfältiger ist, als die derzeit auf unserem Planeten vorherrschenden Gesellschaftsformen nahelegen mögen. Gleichzeitig war das monogame Partnerschaftsmodell über viele Jahrhunderte auf genau diesem Planeten über viele Jahrhunderte (beinahe mehr ein, zwei Jahrtausende…) überaus erfolgreich, wovon derzeit 8.075.200.000 Erdenbürger Zeugnis ablegen (Stand April 2023).

Und ich selbst muß persönlich vorsichtig sein, weil ich als bLogger nicht fremdwesenartig in einer Untertasse unsere Erde als neutraler Beobachter umkreise, sondern den gleichen Mechanismen und Regeln hier unten unterworfen bin wie ihr alle anderen auch.

In Eintrag 84 postuliere ich die Verbindung zwischen zwei Personen als das „kleinste Polykül“ – als kleinste Untereinheit von Beziehung(en) gewissermaßen.
Es scheint, als ob wir als Menschen doch eng an dieses erstanfängliche „Junge trifft Mädchen“ [oder Junge trifft Junge oder Mädchen trifft Mädchen oder Divers trifft Junge, Divers trifft Mädchen, Divers trifft Divers…] gebunden sind.
Ein monogames Modell macht es in so einem Moment leicht, weil der anhängige Emotionalvertrag der Monogamie in den AGB „Exklusivität“ beinhaltet, so daß sich die beiden Beteiligten sowohl zunächst als auch fürderhin voll aufeinander konzentrieren dürfen – ja, modellseitig sogar müssen.

Wer hingegen den Schritt in das Möglichkeitenuniversum von Mehrfachbeziehungen hineingewagt hat, hat damit irgendwann – wenigstens gedanklich – genau diese beschriebene Exklusivität…, tja, was…? Abgelegt? Wegdefiniert? Ich sage hier an dieser Stelle mal mit Bedacht: …zumindest abgemildert, gemäßigt, reduziert.
Denn aus den oben genannten und auch aus den in Eintrag 84 dargelegten Gründen glaube ich nicht, daß Exklusivität ein Merkmal ist, welches wir in unseren menschlichen, romantischen Intimbeziehungen vollkommen verleugnen können [oder gar in ihr Gegenteil „Beliebigkeit/Austauschbarkeit“ verkehren können, was zumindest nach oligoamoren Maßstäben in Sachen Liebe und verbindlich-nachhaltigen Beziehungen keinen Sinn ergäbe (siehe auch Eintrag 3)].
Die Exklusivität ist also trotz Abmilderung, Mäßigung oder Reduktion noch da. Und damit müssen wir uns auch in Mehrfachbeziehungen dieser Tatsache immer noch stellen.
Ein Umstand, der in der Poly- und Oligoamory manchmal vergessen oder verdrängt wird und der dadurch regelmäßig in Beziehungen für Leid sorgt.

So gibt es z.B. das „Einhorn-Phänomen“. Das vielgesuchte „Einhorn“ ist insbesondere für ein in Mehrfachbeziehungen noch unerfahrenes, häufig heterosexuelles Paar (aber nicht nur) ein scheinbar „einfacher Einstieg“: Eine (oftmals weibliche) Person, die bisexuell ist und damit romantisch wie intim mit beiden Partner*innen des Kernpaares kompatibel ist. Eine Art „Passepartout“, bei dem doch wenig Drama zu erwarten sein sollte…
Die Schattenseite der legendären Suche nach dem Einhorn – oder gerade dem Finden eines Einhorns – ist, daß dieses in dieser Konstellation überwiegend der bislang angesammelten biographischen Exklusivität des Kernpaares gegenübersteht. Dies betrifft einmal die Anspruchsebene: Das Kernpaar hat sich schon länger vorher auf die passenden Merkmale und Kriterien, die das Einhorn erfüllen sollte, bloß miteinander geeinigt; zum anderen betrifft es die Schutzrechte des Individuums: Das Einhorn ist eben nur solange ok, wie es seine Rolle unterschiedslos und konstant gegenüber beiden Beteiligten des Kernpaares erfüllt. Ist dies nicht mehr der Fall (und emotional identische Beziehungen sind menschlicherseits doch bei Licht betrachtet höchst unwahrscheinlich) gefährdet das Einhorn entweder seine Beziehung zu einem der Partner (durch ungleiche Zuteilung von Zuneigung) oder gar die Beziehung des Kernpaares (weil sich eine*r der Partner*innen stärker zum Einhorn hingezogen fühlt als zum Kernpartner).
Womit meist in jedem Fall das Einhorn zurück in den Wald gejagt wird, um den exklusiven Frieden der Kernbeziehung nicht weiter zu gefährden bzw. wiederherzustellen.

Oder es gibt das sogenannte „Cowboy/Cowgirl/Cowdiverse-Phänomen“: Bei einem (Kern)Paar verliebt sich ein*e Beteiligte*r in eine weitere Person, der/die/das andere Beteiligte jedoch nicht. Die hinzukommende Person beginnt nun eine intensive romantische Beziehung zu dem einen Beteiligten, so daß sich die andere Person des ursprünglichen Kernpaares bald wie das sprichwörtliche „5. Rad am Wagen“ (also genau genommen wie das 3. Rad…) vorkommt; trotz vieler Beteuerungen des Gegenteils irgendwie abgehängt und nahezu ausgeschlossen. [Ein „Cowboy“ stellt in der „klassischen“ Polyamorie eigentlich eine Person dar, die sich aus einer „Herde“ polyamorer Menschen eine Person quasi wie mit einem Lasso einfängt und zurück in die Monogamie zieht – aber in Konsequenz trifft die Erscheinung und das Erleben hier ja auf den nichtverliebten Teil des Kernpaares zu].
Wieder ist es auch in diesem Fall scheinbar die Exklusivität, welche eine Beziehung gefährdet bzw. gefährdet ist, ein insgesamtes Miteinander sabotiert und auf jeden Fall zu einem empfundenen Ungleichgewicht führt.

Ich schreibe „scheinbar“, weil ich glaube, daß die meisten von uns hinsichtlich „Exklusivität“, die ja als „Keimzellenleim“ für jede zwischenmenschliche Beziehung notwendig ist, sowohl in ihrem Ausleben als auch in ihrem Erleben noch zu sehr der oben erwähnten althergebrachten „sozialen Rolltreppe“ unterworfen sind.
Wir übertreiben gewissermaßen, weil wir es nicht anders gewohnt sind – und es daher auch nicht so sehr viel besser können.
„Exklusivität“ so besagt es das Internet-Wörterbuch „Woxikon“, kann mit „Ausschließlichkeit“ und sogar mit „Unbedingtheit“ synonymisiert werden. Nach meiner Beobachtung verhalten wir uns auch in Mehrfachbeziehungen noch häufig genau so, als ob wir solcherlei Sinngehalt wie eine Art inneres Gebot für uns in Anspruch nehmen. Das wird gerade dort besonders sichtbar, wenn es zu Konflikten kommt: Wir verteidigen unser eigenes Vorgehen mit Zähnen und Klauen, dabei reduzieren wir das Geschehen fast immer auf „eine harmonische, zu schützende Beziehung“ auf der einen Seite und „das zerstörerische, eifersüchtige, neidvolle, kleinliche (etc…) Andere“ auf der anderen. Plötzlich wallen in uns seltsame Beschützer*inneninstinkte auf, wir fordern für uns Uneingeschränktheit ein – oder wir pochen auf vereinbarte Regularien und angestammte Rechte…

Insbesondere „Dreierkonstellationen“ gelten in Mehrfachbeziehungskreisen daher oft als besonders gefährdet und krisenanfällig. Wenn in einer so engen Konfiguration Exklusivität erst ihre Sprengkraft mit ihre rein ausschließenden oder beharrenden Wirkung entfaltet, ist es fast immer fatal.

Zusätzlich fatal: Wenn wir die Abmilderung, Mäßigung oder Reduktion von Exklusivität in unseren (Mehrfach)beziehungen als Bedrohung unseres Selbst erleben.
Die erwähnte anfängliche Exklusivität aus Eintrag 84, die den inneren Magnetismus zwischen zwei Menschen fördert, ist grundsätzlich etwas ganz wichtiges: Dadurch erleben wir nämlich, daß wir gemeint sind.
In der monogamen Welt, in der die meisten von uns aufgewachsen sind, ist Exklusivität aber oft als ein Versprechen gehandhabt worden, als eine Art Belohnung, die uns in unserer (künftigen) Partnerschaft zuteil werden würde.
Und eine Belohnung ist Teil eines Systems, in welchem Leistung eine Rolle spielt.
Viele von uns stammen aus Lebenswelten, in denen wir in unserem aufwachsen wenig Zuspruch für unser Kernselbst erfahren haben. Oft sind wir beliebig oder austauschbar behandelt worden und konnten genau dadurch manchmal nicht ohne Selbstzweifel erkennen, ob wir gemeint waren. Vielfach waren wir uns unserer wunderbaren Einzigartigkeit in unserem ganzen Tun und Sein, unserer gesunden Exklusivität also, nicht wirklich sicher. Statt dessen mussten wir mit besitzergreifenden, ängstlichen oder sogar abweisenden Erziehungs- bzw. Bindungsstilen zurechtkommen, in denen wir häufig mit angepasstem und/oder erwartetem Verhalten in Vorleistung gehen mussten, um überhaupt positive Resonanz zu erhalten (siehe auch Eintrag 14).

Wenn wir uns daher eines Tages in polyamoren Umständen wiederfinden, können wir mit solch einer ungünstigen Vorprägung schnell Probleme bekommen. Eine monogame Beziehung verspricht uns in ihren AGB die Sicherstellung von Exklusivität in unserer einzugehenden Partnerschaft, worunter wir, mit einem schlecht aufgestellten Kernselbst allzu leicht verstehen, daß eine monogame Partnerschaft uns endlich die erhoffte Einzigartigkeit und damit die Anerkennung unseres individuellen Seins garantiert.

Auch in der Poly- und Oligoamory, wie ich ebenfalls in Eintrag 14 herausarbeite, müssen wir, damit diese gelingen können, Bestätigung, Vertrauen, Akzeptanz, Empathie und Zuneigung erfahren können. Aber dort ist es eben genau nicht die Aufgabe der Exklusivität, dies sicherzustellen.
Exklusivität in Mehrfachbeziehungen, dient dort – so wie ich die bLoggerin Sacriba in Eintrag 84 zitiere – vielmehr dazu, vertrauliche Räume für Verletzlichkeit und Authentizität zu schaffen und um dadurch Energie zu (re)generieren, die dann der Gesamtbeziehung wiederum zugute kommen kann.

In einem Polyamory-Forum, welchem ich angehöre, kam auf diese Weise vor gut einem Monat die Frage auf, ob Mehrfachbeziehungen als Gesamtbeziehungen einen verbindenden „Zweck“ bräuchten – in etwa so wie ein Verein oder eine Stiftung.
Ich glaube, daß das in gewissem Sinne zutrifft, es ist das, was ich in vielen meiner Einträge „das gemeinsame Wir“ nenne.
Dieses „gemeinsame Wir“ kann indessen sehr unterschiedlich gestaltet sein; da ist es mehr wie mit dem häufig strapazierten Werbespruch „[…] ist ein Gefühl“ (setzt bitte darum bei […] euer Ding ein).
Genau aber dieses Gefühl des „wir sind da irgendwie alle zusammen drin“ ist gleichzeitig wichtig, wenn es der oben erwähnten problematischen Auffassung und Anwendung von Exklusivität in Mehrfachbeziehungen vorbeugen soll: Mehrfachbeziehungen sind eben kein Kuchen, wo Beteiligte sich unbeobachtet „ihr Stück“ herausschneiden können, um es dann womöglich noch irgendwo anders zu verzehren.

Der Umgang mit Exklusivität in Mehrfachbeziehungskontexten wird also immer ein Prüfstein für den Zustand der Gemeinschaftlichkeit als Gesamtbeziehung sein.
Für die meisten von uns wird jedoch vermutlich der Umstand schwerer wiegen, daß dieser Umgang mit Exklusivität insbesondere immer wieder ein Prüfstein für unsere eigene innere Aufgestelltheit sein wird: Ob wir über ein gut etabliertes Kernselbst verfügen, ob wir gelernt haben, unsere Bedürfnisse zu bekunden, ob wir an uns selbst glauben.
Oder ob wir regelmäßig heftig an dem klammern, was wir für uns festzuhalten suchen, weil uns noch so vieles fehlt, uns nie gegönnt wurde; wir uns selbst relativiert und aufgelöst erleben, solange Exklusivität noch als Kompensation für unsere Wertschätzung und Einzigartigkeit herhalten muß.

Das heutige Schlußwort überlasse ich dem amerikanischen Anwalt, Schriftsteller, Trans-Aktivisten und außerordentlichen Professor Dean Spade, der sagte:
»Für mich geht es darum, Beziehungen zu schaffen, die auf einer tieferen und realeren Vorstellung von Vertrauen beruhen. So dass Liebe nicht durch Exklusivität definiert wird, sondern durch tatsächlichen Respekt, Fürsorge, die Verpflichtung, mit freundlichen Absichten zu handeln, Verantwortlichkeit für unsere Handlungen und den Wunsch nach gegenseitigem Wachstum.«



¹ Weiterhin gilt: Das Zitat stammt nicht ursprünglich aus einem Songtext von Iron Maiden, sondern aus der Fernsehserie „Nummer 6“ von 1967.

² Original: Christopher Ryan, Cynthia Jethá – „Sex at Dawn: How we mate, why we stray, and what it means for modern sexuality“; Harper Perennial 2011


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Eintrag 87

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche…

„Eins, zwei, drei im Sauseschritt eilt die Zeit – wir eilen mit.“ So dichtete einst Wilhelm Busch – und, kaum zu glauben aber wahr, der Oligoamory-bLog ist nun schon vier Jahre alt geworden!

Für mich als Vater des Geburtstagskinds eine mit Stolz erfüllende Gelegenheit, noch einmal über einen der verschlungeneren Pfade durch die Landschaften ethischer Mehrfachbeziehungen zu schreiben.

Einer dieser schmalen Pfade, den sich fast alle Beteiligte regelmäßig entlangbewegen müssen, führt nämlich durch ein tückisches frostiges Tal, welches ich geradezu als „Zwiespalt“ bezeichnen würde, und zwar zwischen der Abwägung persönlicher Freiheit auf der einen Seite und unserer Sehnsucht nach verlässlicher Verbundenheit auf der anderen.
Mehrfachbeziehungsmodelle wirken auf den ersten Blick ja auch häufig vor allem deswegen so attraktiv, weil sie uns zu versprechen scheinen, daß in ihnen für uns als Teilnehmende mehr von Ersterem (also der persönlichen Freiheit) bei gleichzeitigem erhöhtem Zweiteren (unserem Verlangen nach [mehr] Verbundenheit) zu erlangen ist – auf jeden Fall wenigstens stärker, als dies in (nur) einer monogamen Verbindungen herbeizuführen wäre.

Sehr viele Personen, die ich kennengelernt habe, und die sich mit Ideen oder gar der Umsetzung von Mehrfachbeziehungen beschäftigen, haben sehr regelmäßig schon an irgendeiner anderer Stelle in ihrem Leben Kontakt zu – hm, ich nenne es mal: „alternativem Potential“.
Das muss nichts Gewaltiges sein. Aber oftmals sind es kleine bis hin zu etwas größeren Entscheidungen gegen das, was in der überwiegenden Normal-Gesellschaft gewöhnlich oder vorwiegend gebräuchlich ist. Und dies kann alles mögliche sein: Das Babytragetuch, der Kauf von Bio-Lebensmitteln, Engagement in einer karitativen Organisation oder einem politischen Gremium, alternative Spiritualität, Identifikation mit einer Subkultur (Teilnahme an besonderen Festivals diverser Musikgenres, Mittelaltermärkte oder auch BDSM-Partys), Beteiligung an Gemeinschaftswohnformen oder Tauschringen, bis hin zum Gestalten aktueller Kunst und Kultur.
Vielfach haben sich Menschen also hier schon in bestimmten Bereichen ihres Lebens „frei gedacht“ von einem „so tun es alle“.

Grundsätzlich ist dies für mich eine äußerst erfreuliche Entwicklung, die für mich auch zur Geschichte von Mehrfachbeziehung im 20. Jahrhundert, so wie ich sie z.B. in meinem vierteiligen historischen Rückblick [Teile 1 | 2 | 3 | 4 ] dargestellt habe, paßt.
Allerdings haben sich erst während der Lebenszeit unserer eigenen Eltern (oder wenn ihr Generation Y, Z oder Alpha angehört: unserer Großeltern) viele patriarchalische Institutionen aufzulösen begonnen [z.B. lockerte in Deutschland die Ärzteschaft erst Ende 1970 ihre restriktive Haltung gegenüber der „Pille“, welche endlich ein Meilenstein zur reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen auch hierzulande wurde; erst 1976 (!) sogar trat das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft, demzufolge es danach keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung in der Ehe mehr gab und Frauen nun auch ohne Erlaubnis des Mannes Erwerbstätigkeit aufnehmen durften].
Dadurch hat das Streben nach (mehr) Freiheit insbesondere unter solchen noch sehr lang etablierten Obrigkeitsstrukturen z. T. zu einem Effekt des gelegentlichen Überschießens geführt, den ich manchmal etwas besorgt betrachte – denn: „gewohnt“ in Freiheit zu agieren sind wir alle, Frauen, Männer und Diverse, genau genommen noch nicht.

Was ich damit sagen will ist, daß wir „Freiheit“ dadurch unter bestimmten Umständen in unseren Beziehungen gelegentlich wie eine Art uns zustehendes „Abwehrrecht“ gegen jegliche wahrgenommene Bevormundung, gegen jedwede gefühlt ungerechtfertigte Haftbarmachung – aber darum leider bisweilen auch zu leichtfertig gegen manche echte Verantwortlichkeit ins Feld führen.

Verwunderlich ist das eigentlich alles gar nicht. Denn was unsere Liebe angeht, da wollen wir doch „ganz wir selbst“ sein, dort spüren wir, das diese maßgeblicher Teil von dem ist, was ich hier auf dem bLog so oft unser „Kernselbst“ nenne.
Womit wir zu der anderen Seite des tückischen Tals, des Zwiespalts, kommen – unserer Sehnsucht nach verlässlicher Verbundenheit. Denn in unserem Kernselbst würden wir keine Liebe benötigen, wenn wir als „soziale Tiere“ nicht diese Bezogenheit, diese Hinwendung zu anderen menschlichen Wesen ebenfalls in uns trügen.

Die Formulierung „Sehnsucht nach Verbundenheit“ habe ich übrigens mit einigem Bedacht gewählt, da ich glaube, daß wir in diesem Verlangen einerseits recht idealisiert über uns urteilen und andererseits, wie Wikipedia sagt, gleichzeitig gelegentlich mit dem ängstlichen Gefühl verbunden sind, „den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können“.
Was „im Fall der Fälle“ bedeutet, daß wir durch unsere Sehnsucht nach Verbundenheit recht schnell in ein dramatisches Agieren geraten können, welches – um ein Bild zu wählen – einer Person, die auf einer gefrorenen Wasserfläche im Eis einbricht, nicht unähnlich ist.

Wie und warum kommen wir überhaupt auf’s Eis?
Fast immer ist es unser Idealismus: Wir schaffen das schon! Wir können doch wohl einen solide zugefrorenen See überqueren. Uns wird dabei schon nichts zustoßen, sind wir doch Kenner von Wetter, Eisbeschaffenheit und ganz speziell von diesem See!
Auf die Beziehungsebene übertragen möchte ich hiermit ausdrücken, daß wir meistens mit einem idealisierten Bild von uns selbst losziehen. Einer Selbstbeschreibung, bei der wir vielleicht sagen würden: „Ich sehe mich als einen Menschen, der (auch in Mehrfachbeziehung!) verbindlich und loyal handeln wird. Dazu habe ich ein Set Orientierungspunkte in mir, die mir wichtig sind und innerhalb derer ich mich daher bewegen werde.“
So kann doch wenig schiefgehen, denken wir – und es geht hinaus auf den See.

Manchmal haben wir in diesem Augenblick schon unser Selbstbild sowohl hinsichtlich unserer Verbindlichkeit als auch unserer Orientierungspunkte verlassen. In Eintrag 9 schrieb ich über den „Emotionalvertrag“ der hinter jeder intimeren zwischenmenschlichen Beziehung steht. Und entweder, dieser „Vertrag“ läßt zu, daß eine Beziehung von allen daran Beteiligten als „offen“ (für weitere Verbindungen) aufgefaßt wird – oder wir haben es ausgelassen uns dieser allseitigen Gleichbewertung zu versichern, weil…, ja, weil uns unsere persönliche Freiheit gerade wichtiger war. Bzw. weil wir unserer persönlichen Freiheit in diesem Moment einen höheren Stellenwert eingeräumt haben als der Verbundenheit zu einer/einem bereits vorhandenen Partner*in.
Wodurch sich in diesem Fall sofort ein tiefer, unheilvoller Riß auf dem See bilden wird, sobald wir unseren Fuß bloß daraufsetzen. Denn egal, was von dort geschieht, ethisch im Sinne von transparent, von gleichberechtigt oder gleichwürdig wird es ab jetzt von hier aus schon nicht mehr weitergehen.
Unsere Sehnsucht nach mehr Verbundenheit hat uns vorgegaukelt, daß wir diesen See schon überqueren könnten – die Voranstellung unserer persönliche Freiheit hat dabei aber sämtliche unserer eigenen Sicherheitsventile (die ich oben Orientierungspunkte nannte) platzen lassen; ja klar, können wir jetzt noch den See betreten – aber auf dem nun eingeschlagenen Kurs werden wir eben nicht mehr verbindlich oder loyal sein, diesen Teil unseres eigentlich für uns in Anspruch genommenen Selbstbildes haben wir in dem Prozess fallen lassen.
Natürlich kommt es da auch ein bißchen auf unsere persönliche Resilienz und unser Ego an (also auf unsere Dickhäutigkeit, würde der Volksmund sagen) – aber solch eine Abscheidung eines Teils von dem, was wir bis vor kurzem noch als Teil unserer Identität beansprucht hatten, wird an kaum jemandem mittelfristig spurlos vorüber gehen. Vom zwickendem Gewissen, eventuell Katzenjammer, bis hin zu echter Reue und massivem Scham (vor allem vor uns selbst) können die Folgen reichen, speziell in dem wahrscheinlichen Fall, daß wir es nicht über den See schaffen werden (sprich: das es mit der weiteren/zusätzlichen Beziehung [auch/trotzdem] nicht gelingt).

Ich habe mich jetzt in meinen Beschreibungen gerade schon ein wenig hinreißen lassen hinsichtlich des Umstands, daß sogar die Öffnung einer Beziehung nicht klar vereinbart ist.
Wie steht es um den See, wenn das aber so ist – also vereinbart?
Nun, dann begeben wir uns dementsprechend mit dem Selbstbild „Ich sehe mich als eine Person, die verbindlich und loyal hinsichtlich all ihrer Verbindungen handeln wird.“ auf den See, sprich in eine weitere Beziehung hinein.

Mensch! Die MÖGLICHKEITEN die wir nun auf diesem See haben!
Diese schwindelerregende Perspektive, der Sauerstoffschock, der ungeahnte Schwung den diese neue Erfahrung bietet…
Eis sieht auf der Oberfläche ja auch zu cool aus, glatt, verlockend und glänzend – und sehr leicht vergessen wir, daß darunter auch Gefahr droht…
Sehr schnell ist es geschehen, daß exakt in diesem zu Kopfe steigenden Moment unser persönliches Freiheitsstreben unsere eben noch wacker dirigierte und selbst durch das Beziehungsmodell abgesicherte Sehnsucht nach (mehr) Verbundenheit sabotiert – und aussticht.
Dazu gesellt sich ein Phänomen, welches speziell in Mehrfachbeziehungskreisen als „NRE“ („New Relationship Energy“, zu Deutsch in etwa: „Neubeziehungs-Energie“) bekannt und gelegentlich gefürchtet ist. Die englische Wikipedia konkretisiert: »Neubeziehungs-Energie (oder NRE) bezieht sich auf einen Gemütszustand, der zu Beginn sexueller und romantischer Beziehungen auftritt und typischerweise mit erhöhten emotionalen und sexuellen Gefühlen und Erregung einhergeht.«
„Neubeziehungs-Energie“ kann für die hinzukommende Beziehung also prinzipiell auch etwas Gutes bedeuten – aber leider ist sie manchmal bereits das Kennzeichen brechenden Eises.

Was genau hat uns daher auf den See geführt?
Wenn unsere „Sehnsucht nach (mehr) Verbundenheit“ einen erhöhten Bedürftigkeitsanteil enthält (und das ist, weil wir eben noch keine „gewohnten Freiheitsanwender*innen“ sind, gar nicht so unwahrscheinlich), dann besteht die Gefahr, daß in dem Moment, wo sich für uns die schiere Möglichkeit einer weiteren intimen/romantischen Beziehung abzeichnet, wie in meinem ersten Beispiel wir unsere Sicherheitsventile sprengen. Wir „wollen“ so dringend aufgrund unserer inneren Bedürfnislage (bzw. eben irgendeiner dortigen „Unterdeckung“) eine weitere Beziehung – und würden dafür blind – und durch reichlich NRE-Hormonen zusätzlich enthemmt – auch hier einen Teil unseres eigentlich von uns in Anspruch genommenen Selbstbildes fallen lassen, nur um uns irgendwie bloß diese Beziehung sicherzustellen.
Das Eis bricht.

Es geschieht etwas, was viele Bestandspartner*innen in Mehrfachbeziehungen, auch noch in „ethischen“ wie der Polyamorie, zu regelmäßig erleben: Die geliebte Person scheint nicht nur plötzlich überwiegende Teile von Gefühlen, Zeit und substantiellen Ressourcen der neuen Beziehungsperson zuzuwenden, nein, Einwendungen, Kummer, Hinweise auf bestehende Verbindlichkeiten und Verpflichtungen werden mit dem (ausgesprochenen – oder auch impliziten) Hinweis auf die persönliche Freiheit weggewischt, relativiert, vielleicht verlacht oder mit Hinweis auf fehlende Mitfreude, besitzergreifendes Verhalten und monoamore Kleinlichkeit sogar als „unberechtigt“ verurteilt.
Daß Bestandspartner*innen an diesem Punkt ihre gerade im Eis einbrechenden Lieblingsmenschen buchstäblich „nicht wiedererkennen“ ist hier absolut verständlich: Denn bis vor kurzer Zeit hat sich der Lieblingsmensch ja noch zu Werten und Idealen seines „Kernselbst“ bekannt (und danach verhalten) die jetzt plötzlich nicht mehr festzustellen sind.

Sind wir die Person, die solcherart ins Eis eingebrochen ist, dann wird es schwer uns „zu retten“. Da wir gerade den für uns selbst noch sicher geglaubten Boden unter den Füßen verloren haben, merken wir, daß wir „ins Schwimmen“ geraten…
Die neue Beziehung, die aber noch gar nicht wirklich etabliert ist, wollen wir um jeden Preis behalten, die bereits vorhandene(n) nicht lassen, denn die haben uns bis eben noch den Halt des festen Ufers geboten – uns so zerschlagen wir im Namen der persönlichen Freiheit (weil wir ungestüm versuchen Herr*in der weggleitenden Lage zu bleiben) immer mehr von dem Eis um uns herum, so daß sowohl die Gefahr besteht, daß wir wirklich untergehen – als auch das Risiko wächst, daß wir von außen nicht mehr erreichbar sind und das letzte an „Substanz“, was uns mal mit dem Ufer verbunden hatte, auch noch zerstören.

Sehr regelmäßig wird in poly- und oligoamoren Kreisen immer noch der persönlichen Freiheit und der unbedingten „Offenheit“ des Liebens ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt, in einer Weise, wie man sie vermutlich dem höchsten und alle anderen Karten schlagenden Trumpf in einem Kartenspiel beimessen würde. U.a. in meinem Eintrag 28 (Freiheit der Liebe) und Eintrag 67 (offen Lieben) beschreibe ich, warum diese Herangehensweise aus meiner Sicht nicht dazu beiträgt, auf Augenhöhe beruhende, vertrauensvolle und wertschätzende (Mehrfach)Beziehungen zu etablieren.

Sich Bahn brechende persönliche Freiheit ist in menschlichen Nahbeziehungen wie ein scharfer Granatsplitter, mit dem Potential viel Schaden anzurichten bis hin zur Zerstörung der betroffenen Beziehungen. In Eintrag 42 argumentiere ich, daß in unseren vertrauten Beziehungen unser persönliches Freiheitsstreben daher in persönliche Verantwortlichkeitsübernahme eingebettet sein muß.
Für unsere Bestandspartner*innen sind solche „Selbstentäußerungsereignisse“ (wenn wir uns im fiebrigen Bemühen um eine andere Beziehung von eigentlich wichtigen Teilen unseres Selbst entäußern) wie oben beschrieben, beängstigende und häufig auch verletzende Vorgänge.
Wir können als fehlbare – und gelegentlich bedürftige – Menschen vermutlich nie völlig verhindern, daß sich solches ereignet.
Was wir aber tun können ist, daß wir aus eigenem Antrieb zu unserem Kernselbst zurückfinden, Verantwortlichkeit für unser Handeln übernehmen und uns damit für die Menschen die uns kennen – und nicht zuletzt auch für unser eigenes Identitätsgefühl! – dem wieder Profil geben, was uns wichtig ist und uns ausmachen soll.
Unsere Sehnsucht nach Verbundenheit – so unerfüllt oder schon erfüllt sie in diesem Moment gerade ist – wird es uns danken. Denn am Ende des Tages zählt in unseren Herzen nicht, welche Teile von uns wir um den Kampf für die persönliche Freiheit geopfert haben, das hält uns weder warm noch zufrieden.
Am Ende des Tages wollen wir zu unseren Liebsten zurückkehren, wollen uns an ihrem Wiedererkennen mitfreuen, wenn sie uns wahrnehmen.
Und wir wollen beim Blick in den Spiegel ganz ungeteilte Freude an uns selbst haben, daß wir idealistisch, etwas verrückt und sicherlich auch mit ein paar nicht immer ganz berechenbaren Eigenheiten unterwegs sind. Daß wir aber nach allem trotzdem einen beruhigenden Sinnzusammenhang, eine echte Souveränität verleihende Schlüssigkeit zwischen unserem idealen Selbst, welches wir gerne wären, und unserem tatsächlich wahrgenommenen Selbst, welches wir hier und jetzt gerade sind, erkennen können¹.
So bestätigend wie beruhigend.

…oder wie Johann Wolfgang von Goethe in seinem „Osterspaziergang“ (aus dem Drama Faust ), dessen erste Zeile mir als Überschrift dieses Eintrags diente, es am Ende des gleichen Gedichts beschrieb:

»Zufrieden jauchzet groß und klein.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!«


¹ psychologisches Konzept der sg. Kohärenz nach Carl Rogers

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Eintrag 86

Liebst Du mich (noch)?

Du sagst, du liebst den Regen,
aber du öffnest deinen Regenschirm
wenn es regnet.

Du sagst, du liebst die Sonne,
aber du suchst dir einen schattigen Fleck
wenn sie scheint.

Du sagst, du liebst den Wind,
aber du schließt die Fenster
wenn er weht.

Deshalb habe ich Angst,
als du sagtest
dass du mich auch liebst.

(anonym. türkisches Gedicht, „Korkuyorum“ [dt.:“Ich habe Angst“])

Wenn die Frage „Liebst Du mich (noch)?“ gestellt wird, sagt die Psychologin und Paartherapeutin Ursula Nuber, dann stehen dahinter eigentlich tiefere Fragen wie z.B. „Warum liebst Du mich?“, „Was liebst Du an mir?“ oder auch „Warum bist Du mit mir zusammen?“.
Für liebende Menschen – für uns und unsere Partner*innen also – ist es darum wichtig, wenn wir darauf eine gute Antwort, nein, nicht nur „hören“, sondern mit unserem ganzen Dasein erleben und empfinden dürfen.
Denn Antworten wie die Folgenden hat vermutlich jede*r schon einmal in der Hektik des Alltags zurückbekommen: „Na klar…!“, „Natürlich, sonst wäre ich ja jetzt nicht hier…“ oder sogar „Warum fragst Du, das weißt Du doch!“.
Solcherlei rasche „Beschwichtigungen“, die ja oft ohne viel Nachdenken erwidert werden, können heikel sein, denn wenn die fragende Person sich ihrer Sache tief im Inneren wirklich ganz sicher wäre, hätte sie höchstwahrscheinlich doch nicht gefragt…
Dies sieht auch Ursula Nuber so, die lange Jahre Chefredakteurin der Zeitschrift „Psychologie Heute“ war und sich als Praktikerin in ihren Büchern darüber hinaus mit Bindungsstilen in Partnerschaften und den Dynamiken in Langzeitbeziehungen auseinandersetzt.¹
Ihre wichtigsten Erkenntnisse kann ich hier auf diesem bLog für ethische Mehrfachbeziehungen sämtlich unterstreichen, da ihre Erscheinungen mir in den letzten Jahren auf meiner Reise durch die Sphären der Poly- und Oligoamory regelmäßig begegnet sind.
Zusätzlich habe ich allerdings festgestellt, daß Mehrfachbeziehungen offensichtlich die Fähigkeit haben, in Partnerschaftsdingen nicht nur wie ein Brennglas, sondern auch in gewisser Weise wie ein Zeitraffer zu wirken, so daß bestimmte Umstände in romantischen Mehrpersonenkonstellationen gelegentlich deutlicher – aber vor allem schneller – zu Tage treten, als es bei herkömmlichen Paarbeziehungen der Fall ist.

Interessanterweise ist eine der Stellgrößen, die zu der „Brennglaseigenschaft“ beitragen, gerade das Vorhandensein von mehreren Beziehungsbeteiligten, da diese Vielfalt in gewisser Weise für uns als Menschen – wie in meinem Eintrag 83 der Psychotherapeut Dr. Dietmar Hanisch sagt – ein „Stressor“ ist. Gleichzeitig wissen wir dank der modernen Stressforschung, daß „Stress an sich“ erst einmal keine Aussage darüber erlaubt, ob wir dies als anregend und positiv im Sinne von sg. „Eustress“ erleben – oder eben als überfordernd und belastend, so wie das Wort „Stress“ überwiegend im Alltagsgebrauch verwendet wird: als negativer „Distress“.
Die Stressforschung gibt damit zugleich eine Antwort auf die Frage, wie es sein kann, daß manche Menschen unter dem gleichen Stress über sich hinauswachsen und sogar zu altruistischen Akten für die Gemeinschaft fähig sind, während andere zu den berüchtigten „Hamstern“ und Eigenbrötlern werden, die nur noch das eigene Wohl und Überleben im Sinn haben.

In ihrem Buch „Sag mal, liebst du mich eigentlich noch?“¹ läßt die Autorin Ursula Nuber den schweizerischen Psychotherapeuten und Paarforscher Guy Bodenmann zu Wort kommen, der erklärt: »Unter [Di]Stress vernachlässigt man die Pflege der Liebe. Man nimmt sich zu wenig Zeit füreinander, wird unachtsam, verliert Positivität, ignoriert eigene Bedürfnisse und die der anderen. [Di]Stress macht egozentrisch, intolerant und dominant.«

Frau Nuber ergänzt jedoch, daß es eben in Beziehungsdingen hier nicht vorrangig um den „von außen“ generierten Stress geht, der die Beteiligten unter Druck setzt, sondern um den in der Beziehung „hausgemachten“, der wesentlich zersetzender sein kann – und letztendlich über Auflösung oder Bestand der Beziehung entscheidet.

Die beiden wesentlichsten Aspekte, die hierbei eine Rolle spielen, und die auch bei Frau Nuber allenthalben zu finden sind, lauten aus meiner Sicht:

1. Wertschätzung

Die wahrscheinlich häufigste Klage, die ich in zahlreichen persönlichen Gesprächen – aber auch immer wiederkehrend in den sozialen Netzwerken – hinsichtlich ungünstig verlaufender Mehrfachbeziehungen gehört habe, läßt sich auf die Wurzel „mangelnde Wertschätzung“ reduzieren. Das ist keine Kleinigkeit, sondern das Beziehungsgift Nr. 1 schlechthin, lautet mein Lieblingszitat auf diesem bLog doch:
»Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«²

Neben dem oben genannten, erst einmal „neutralen Stressors“ der Mehrpersonenkonstellation könnte es in Mehrfachbeziehungen möglicherweise ein Problem sein, daß wir die Verliebtheit bzw. Liebe darin als etwas zu selbstverständlich sehen, weil sie ja gerade von mehreren Seiten scheinbar so reichlich eingebracht wird. Dadurch ist die Verführung hoch, die „Erhaltung“ dieses gemeinsamen Schatzes vielleicht ebenfalls zu sehr als Selbstverständlichkeit anzusehen – und dadurch zu vernachlässigen.
Als Kennzeichen solcher Vernachlässigung identifiziert Psychologin Nuber fünf Punkte, die vermutlich jede*r, der*die*das jemals in Beziehung war, nachvollziehen kann:
Erstens die rasch nachlassende Wertschätzung für das oben zitierte „Kernselbst“ der anderen Beteiligten. Einander das Ego zu stärken und eben nicht als Selbstverständlichkeit – oder, wie der Schauspieler Anthony Hopkins es einmal formulierte, als bloße „Lebensdreingabe“ – behandelt zu werden ist eine der wichtigsten Säulen einer jeden Beziehung.
Zweitens nennt Frau Nuber die „fehlenden Gesten der Liebe“, womit sie keine Galadinner oder Traumurlaube meint, sondern die schlichten Zeichen der Verbundenheit; speziell die kleinen Rituale, die im Alltag Zusammenhalt symbolisieren.
Drittens bezeichnet sie mit „fehlendem Verständnis“ die Unwilligkeit zum Perspektivwechsel hin zu den berühmten „Mokassin der Anderen“, in deren Schuhe man sich gelegentlich stellen sollte. Gerade hier sei ein wichtiges Werkzeug verborgen, nicht nur Empathie zu üben (was nicht allen von uns leicht fällt), sondern vor allem erst einmal gerade nicht eigener Selbstbezogenheit zum Opfer zu fallen (!).
Als Viertes zählt sie „fehlenden Respekt“ auf, womit sie die unter Erstens erwähnte fehlende Wertschätzung dahingehend erweitert, daß innerhalb einer Beziehung oft sehr schnell Respektsgrenzen fallen gelassen werden, die man locker befreundeten oder gar fremden Personen gegenüber nie überschreiten würden, sowohl verbal z.B. als auch im Verhalten.
Dies mündet beim Punkt Fünftens in dem Ausdruck „zu viele Verletzungen“ die sich oft schon nach kurzer Zeit auf diese Weise zugefügt werden.

Auf diese Weise verflüchtigen sich in einer Beziehung möglicherweise bereits nach kurzer Zeit für die Beteiligten die ursprünglichen Gefühle von Geborgenheit, Vertrauen und Freundschaft, welche nun einem sich verdichtenden „psychischen Smog“ weichen (ein Konzept des australischen Psychotherapeuten Russ Harris). Dieses Phänomen beschreibt einen Zustand, in dem ich bereits etliche in Turbulenzen geratene Polyküle (auch meine eigenen!) erlebt habe: Ein verunsichertes und verzweifeltes Suchen nach echtem Kontakt, bei dem sich die Beteiligten aber in einem dichten Nebel aus Gedankenkarussellen, starren Haltungen und Verletzungsbefürchtung bewegen und so stattdessen immer öfter zusätzlich erneut schmerzhaft aufeinanderstoßen.
Infolge sinkt das Selbstwertgefühl zusätzlich, die Atmosphäre wandelt sich von einem Ort der Nähe zu einem Ort des Mißtrauens und die Isolation der Beteiligten schreitet fort.

Spätestens jetzt wird klar, wie die Frage „Liebst Du mich (noch)?“ ein Indikator dafür ist, daß beteiligte Personen mit sich hadern, ob sie in der Beziehung noch gesehen werden, ob sie noch wichtig sind – bzw. sogar ob sie noch „richtig“ sind.

Der Schlüssel an dieser Stelle ist, ob es den Beteiligten in einer (Mehrfach)Beziehung gelingt, für sich eine positive und stärkende Antwort auf die Frage zu finden, was denn ihre Identifikation mit der Gesamtbeziehung ausmacht:
Gemäß den drei Autoren meines zu Beginn dieses Abschnitts eingebrachten Zitats, Cohen, Underwood und Gottlieb², bedeuten Nähe und Intimität – also „sich als geliebt zu empfinden“, daß man Respekt erfährt, daß es eine Atmosphäre der Offenheit gibt, in der wir Resonanz erfahren für unsere Sorgen, Wünsche, Freuden und Ängste, wo wir umfassend „gehört“ werden.
Die Psychologin Ursula Nuber nennt auch hier fünf Punkte:
Erstens die diesem Abschnitt als Überschrift dienende Wertschätzung, in dem Sinne, daß es durchaus in jeder Beziehung wichtig ist und wichtig bleibt, warum jemand geliebt wird – und das diese Frage ebenso wenig banal wie jede ihrer möglichen Antworten ist. Ausschlaggebend ist, daß die Frage gestellt werden darf – noch mehr aber, daß sie immer mal wieder auch ohne ausgesprochen zu werden eine individuelle – eben auf das Kernselbst der anderen – zielende Antwort erfährt.
Zweitens, daß es dazu eben Aufmerksamkeit benötigt, die wirkliches und echtes Interesse signalisiert, wozu die berühmte wahrhafte und aktive Kommunikation von miteinander Sprechen und Zuhören stattfinden muß. Wir müssen erkennen wollen, wie es unseren Lieblingsmenschen geht – und wir möchten das für uns selbst doch auch, um uns als wahrgenommen zu empfinden.
Drittens, wie oben auch Cohen, Underwood und Gottlieb beschreiben, müssen wir uns gegenseitig in unseren Stärken unterstützen. Das mag wie ein schwaches Werkzeug klingen – ist es aber nicht, da genau dies unser Erleben garantiert, wenn wir unterstützt werden, daß wir so registrieren definitiv mehr als „nur eine Lebensdreingabe“ für den Spaß der anderen zu sein.
Viertens: Quasi als Erweiterung von Drittens nennt Frau Nuber „Solidarität“. Womit präzise die meiner Meinung nach wichtigsten (Mehrfach)Beziehungsqualitäten Verbindlichkeit, Berechenbarkeit und „sich sicher sein können“ gemeint sind. Dieser bLog würde ohne diese Werte keinen Sinn ergeben.
Fünftens und Letztens: Empathie, mit der Frau Nuber aber vor allem „emotionale Nähe“ bezeichnet und die sie mit dem Satz „Hier, bei Dir / bei Euch bin ich richtig.“ in Worte fasst.

2. Veränderung zulassen

Nächsten Monat wir das Oligoamory-Projekt fünf Jahre alt, Euer Oligotropos ist neulich 50 Jahre alt geworden…
Auf der Startseite dieses bLogs schrieb ich einst einige Zeilen über die Wahl des Oligoamory-Symbols aus Herz und Doppelspirale – aber über die Auswirkungen dieser Doppelspirale habe ich in meinen Einträgen bisher noch längst nicht so viel gesagt wie über die Auswirkungen des allgegenwärtigen Herzens. Die Doppelspirale die ich ja als Kennzeichen für Zeit und Endlichkeit gewählt habe, steht damit auch für Veränderung, der wir gemäß Ursula Nuber in unseren Beziehungen oft einen zu untergeordneten Stellen wert einräumen – falls überhaupt.
In einem Gespräch mit dem Journalisten Ben Kendal, der unter anderem der Einbecker Morgenpost sein Interview³ zur Verfügung stellte, erläutert die Psychologin, warum wir daher viel zu häufig noch mit einem wenig förderlichen, romantisch verbrämten, statischen Bild der anderen beteiligten Personen an unsere Beziehungen herangehen.
Dies kann nämlich einerseits dazu führen, daß wir bestimmte Charakterzüge einer Person, die wir zu Beginn einer Beziehung schätzen, irgendwann als nervtötende oder entwicklungshemmende Eigenheiten ablehnen. Berühmte Beispiele sind ja der „stille Fels in der Brandung“, der eines Tages als maulfauler Kommunikationsverweigerer wahrgenommen wird. Ebenso wie das Gegenstück des lebhaften „Social Animals“, dessen animierender Aktionismus und Extroversion mit der Zeit zu einem Zerrbild aus Unruhestifterin und Nervensäge zerrinnt.
Andererseits, und da benennt Frau Nuber doch eine – vielleicht von uns manchmal verdrängte – unumstößliche Tatsache: Menschen verändern sich ihr Leben lang – und sie verändern sich auch in ihren Beziehungen, womit sich demgemäß dann ebenfalls diese Beziehungen verändern.
Die Psychologin rät daher, danach zu streben sich in seinen Unterschiedlichkeiten anzunehmen und eben nicht mit „Rettungsphantasien“ oder „Bestandsforderungen“ darauf zu reagieren. Es sei wichtig, dahingehend die Erwartungen an die Beziehung zu überprüfen, denn Beziehungen müssten „sich bewegen dürfen“, um bestehen zu können.
Wörtlich sagt sie: »Nur weil wir jetzt glücklich sind, heißt das nicht, dass das immer so bleiben wird. Sie müssen damit rechnen, dass es Herausforderungen geben wird. […] Jeder Mensch muss sich darauf einstellen, dass sich Partnerinnen und Partner in einer Art und Weise entwickeln können, mit der er nie gerechnet hätte. […] Gleichzeitig zieht man in einer solchen Situation oft Bilanz: Möchte ich mit diesem Mann oder dieser Frau noch weitere Jahre leben?«
Auf den Untersuchungen der US-amerikanischen Psychologin Judith Wallerstein aufbauend, die in ihren Studien Langzeitbeziehungen erforschte, erklärt Ursula Nuber, daß „glückliche Beziehungen“ in der Lage sind, ihre Situation realistisch einzuschätzen, zwar von den „guten Zeiten“ zu schwärmen – aber auch „schlechte Zeiten“ zur Sprache zu bringen. Gerade diesen Beziehungen gelänge es, auch in schwierigen Zeiten festzuhalten und daran zu glauben, daß darin eine Entwicklungschance läge. „Glückliche Beziehungen“ würden ihr Beisammensein nie als „vollendetes Kunstwerk“ oder als selbstverständlich hinnehmen; Liebe sei ständig im Wandel und kein statisches Gebilde.
Frau Nuber resümiert, daß der Sinn einer Liebe also nicht das ist, was gesellschaftlich allgemein als „glücklich“ angepriesen wird, sondern vielmehr die gemeinsame Entwicklung der Beziehungsbeteiligten. Sei es den Beteiligten bewußt, daß der Sinn eines gemeinsamen Lebens darin läge, miteinander (auch manchmal unter Schmerzen) zu wachsen, könnten sie dadurch gestärkt jeder möglichen weiteren Hürde gegenübertreten.
Würde eine solche (Langzeit)Beziehung irgendwann einmal auf ihre Krisen zurückschauen, würden die Beteiligten nicht mehr wissen wollen „Sind wir noch glücklich?“, sondern „Ja!“ auf die Frage antworten, die da hieße „Hat unsere Beziehung noch einen Sinn?“. Denn dies sei die Frage, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sinnvolle Anhaltspunkte fürs gemeinsame Weitermachen liefern würde.

Wenn die Sonne scheint.
Wenn der Wind weht.
Und solange die Liebe währt.



¹ Ursula Nuber: „Der Bindungseffekt – Wie frühe Erfahrungen unser Bindungsglück beinflussen und was wir damit umgehen können“, Piper 2020 und „Sag mal liebst du mich eigentlich noch?“, Piper 2022

² S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“– A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000
Erstmals bei mir Eintrag 14, aber auch Eintrag 46 (zur Selbsterkenntnis), Eintrag 62 (über Beziehungsfähigkeit) und Eintrag 71 (über Polyamorie).

³ aus Einbecker Morgenpost Kompakt, Mittwoch 8. Februar 2023 –„Vor allem zählt Wertschätzung“; von Ben Kendal

Danke an Rebecca Scholz auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 85

Kleine Selbsterforschung

Auf welchen Schultern stehst Du?
In wessen Spuren gehst Du?
Mit welchen Augen siehst Du?
In welchen Büchern liest Du?

Mit welchem Segen lebst Du?
An welchen Plänen webst Du?
An welchen Orten weilst Du?
Und wessen Leben teilst Du?*

In meiner letzten Neujahrsansprache im Januar 2022 habe ich uns alle vergangenes Jahr aufgefordert, in unseren Beziehungen bewußte und proaktive Entscheidungen zu treffen. Als ich soeben meinen Stromtarif mithilfe einer sehr freundlichen Servicemitarbeiterin anpasste, mußte ich lächelnd an diesen damaligen Aufruf denken, da ich ja im Falle meines Energieverbrauchs auch schlicht die brieflich angekündigte Preiserhöhung aus Bequemlichkeit hätte übernehmen können – mit dem exemplarischen Nebeneffekt, sich das restliche Jahr mit den kleinen Stimmchen im Kopf herumzuschlagen, daß ich mich doch rechtzeitig um eine Verbesserung meiner Konditionen hätte kümmern sollen…
Beziehungen sind da nicht anders: Entweder wir suchen regelmäßig die Punkte auf, bei denen wir glauben, daß dort noch etwas zu Gunsten der Beteiligten zu erreichen ist – oder wir verharren im behäbigen Eimer unseres Status quos, vorderhand bequem, aber um den Preis der erwähnten nagenden Stimmen und eines unwillkürlich fortgesetzten (und vermutlich weiter ansteigenden) Unbehagens.
Überhaupt drehten sich meine Einträge des Jahres 2022 sehr stark darum, wie präsent wir unsere Beziehungen zu führen in der Lage wären. Im Februar setzte ich mich z.B. dafür ein, uns selbst und unsere Beziehungen als vollumfängliche Verbundenheit zu betrachten, um zu verstehen, wie wir selbst mit unserem Wohl und Wehe, sowie mit unseren Entscheidungen dahingehend, darin bestehen. Dafür lieferte ich im März ein persönliches Beispiel, wie schnell eine aus eigener Befindlichkeit etwas selbstvergessen angestoßene Dominokette buchstäblich auf einen selbst zurückfallen kann. Im April beleuchtete ich genau jene Befindlichkeiten näher, die uns aus unserer biographischen Vergangenheit heraus manchmal sehr verführen, bestimmte Wahlen immer wieder in einer ähnlich ungünstigen Weise zu treffen, solange es uns nicht gelingt uns diesen mit Mut und Wohlwollen zuzuwenden. Wie man es hingegen mit Schwung falsch macht, dafür lieferte ich eine nicht nur ironisch gemeinte Achterbahnfahrt der Gefühle im Mai. Folgerichtig widmete ich den Juni-Eintrag dem „Nicht-Gelingen“, einhergehend mit der Ermutigung, darob nicht seinem inneren Hauptamtsleiter für Zweckpessimismus zum Opfer zu fallen. Dafür griff ich auch in meinem Lieblingsartikel des Jahres 2022 im Juli noch einmal die sieben wichtigsten Hauptaspekte der Oligoamory auf, betonend, daß „in-Beziehung-Sein“ immer eine ganz besondere Hingabe von eigentlich schon spiritueller Natur in sich trägt. Wie dieses „untereinander-Verbundensein“ in der Praxis aussehen würde, dem widmete ich die Einträge von August und September, nochmals unsere wechselnden Rollen in einem Gesamtbeziehungsgeflecht darstellend. Im Oktoberartikel schlug ich anschließend den Bogen zu Spiritualität und Queerness zurück; im November insbesondere auf die Herausforderungen eines polyamoren „Coming-Outs“ hinweisend – und warum wir leider manchmal „zurück in den Besenschrank“ streben. Daher ging ich im gerade zurückliegenden Dezember-Eintrag speziell auf die besondere Sorgfaltspflege hinsichtlich der „kleinsten Beziehungseinheit“ ein – nämlich dem Du und Ich.

Nachdem hiermit der traditionelle, oligoamore Jahresrückblick erfolgt ist, möchte ich statt einer zusätzlichen Neujahrsansprache lieber die britische Dichterin Sean R.J. Wilmot mit ihrer „Sanften Erinnerung für 2023“ zu Wort kommen lassen, in der sie sagt:

»Es erfordert Mut, alte Gewohnheiten zu durchbrechen, sich der Stimme in seinem Kopf zuzuwenden und zu sagen: „Ich werde nicht zulassen, dass du so mit mir sprichst.“
Denn es erfordert Courage, sich hinzusetzen und ein Gespräch mit seinen Irrtümern zu führen.
Wachstum ist unangenehm; es ist langsam und selten stetig, aber ich verspreche dir, dass nichts, was in voller Blüte steht, dir jemals sagen wird, dass es die Mühe nicht wert war.
Nimm dir einen Augenblick, um wahrzunehmen, wie weit du schon gekommen bist. Schau dir all die Brücken an, die du überquert hast, alles, was du bereits getan hast. Da gab es Zeiten, in denen du dachtest, die Welt würde untergehen, und dennoch hast du durchgehalten, um es zu überstehen.
Und ich weiß, dass du dir oft für die kleinen Dinge keine Anerkennung schenkst, aber auch in diesen Dingen liegt Stärke. Versuche dich daran zu erinnern, dass „für immer“ lediglich eine Summe aus vielen „gerade jetzt“ ist.
Du wirst niemals alles herausgefunden haben. Deinem Leben ist es also erlaubt, wie ein Kunstwerk aus der Renaissancezeit und zugleich wie ein Projekt in Bearbeitung auszusehen. Warte daher nicht erst bis der Tag perfekt ist, um aufzublicken und den Sonnenaufgang anzuschauen.«

Alte Gewohnheit läßt uns also nicht nur an unserem Stromtarif festhalten…
Unsere „Gewohnheit“ (Wiktionary: »Handlung, die zur Routine wurde und immer wieder, oft unbewusst, wiederholt wird.«) müssen wir folglich immer wieder herausfordern – und sie dafür zunächst einmal einigermaßen identifizieren. Der evangelische Theologe und Autor Klaus Nagorni hat in seiner „Kleinen Selbsterforschung“ – was auch der Titel des Gedichts ist, mit dem ich diesen Eintrag begonnen habe – dazu Fragen genutzt. Und es ist gut, wenn wir uns selbst Fragen stellen, denn diese haben die Chance, uns an den Rand unserer Komfortzone heranzuführen – und gewähren uns von dort eventuell einen (halbwegs) ungefährlichen Blick auf das, was jenseits liegt…

Für mich lautet eine der wichtigsten Fragen im Mehrfachbeziehungsuniversum immer wieder: „Warum möchte ich Mehrfachbeziehungen führen?“
Und die Frage die dahintersteckt lautet ja genau genommen: „Was für Bedürfnisse gibt es denn, bei denen ich glaube, daß ich sie mir durch das Führen mehrfacher (und paralleler) romantischer Liebesbeziehungen besser erfüllen könnte?
Für jemanden wie mich sind das höchst wichtige und spannende Fragen. Denn der Aufwand logistischer wie persönlicher Natur wird mit „mehr Beziehung“ in jedem Fall steigen – bzw. wie der US-amerikanische Psychater Scott Peck es freundlicher formulierte: „…es wird dadurch nicht weniger Probleme geben – aber dafür mehr Leben!“.
Ein genauer Blick auf unsere Bedürfnislage lohnt demgemäß auf jeden Fall.
Die „Fremdbedürfniserfüllung“ – die innerhalb polyamorer Kreise so häufig benannt wird [→„Ich bin polyamor, weil ich ja nicht mehr nur einem Menschen den Druck auferlegen will, für alle meine Bedürfnisse da zu sein, so wie in der Monogamie. Bloß ein Mensch allein könnte die auch niiiiiie erfüllen…“] – habe ich auf diesem bLog bereits mehrfach abgelehnt (vor allem Eintrag 58). Ob wir nämlich mit Charlie kitesurfen, mit Juri zum Tantrawochenende fahren oder mit Lou eine Vernissage besuchen: Niemals erfüllt eine*r dieser Partner*innen eines unserer Bedürfnisse – weder das nach dem Adrenalinkick, nicht das nach Erotik, noch das nach Ästhetik. Denn regelmäßig wird Marshall Rosenberg, der Vater der „Gewaltfreien Kommunikation“, der sich selbst in die Nachfolge des Bedürfnisforschers Abraham Maslow stellte, diesbezüglich falsch zitiert. Er verwendete nämlich zu keinem Zeitpunkt das Wort „erfüllen“ – sondern sagte stets „beitragen“. Was Charlie, Juri und Lou also maximal können ist „beitragen“. Und das bedeutet im Rückschluss: „erfüllen“ müssen wir Menschen, jede*r für sich, uns unsere Bedürfnisse schon selbst (!).

Das ist der Grund, warum ich der Selbsterkenntnis in der Oligoamory so einen hohen Stellenwert einräume (siehe Eintrag 46). Und damit ist es auch in unseren Beziehungen von größter Wichtigkeit, sehr sorgsam diese Verantwortlichkeit für unsere Bedürfnisse zu verstehen und zu übernehmen. Denn wie der erwähnte Marshall Rosenberg es einmal ausdrückte: »Wir verfügen nicht über einen magischen Gedankenlese-Rubin in unserer Stirn; niemand von uns kann vorausahnen, was der andere genau braucht; dies muss darum jedes Mal kommuniziert werden.«
Natürlich entzaubern diese Worte in einer gewissen unromantischen Weise die Hoffnung darauf, daß unsere Gegenüber schon erkennen, was uns fehlt (und also beschaffen), noch bevor wir es selbst richtig erfasst oder gar ausgesprochen hätten. Und auch darauf, daß es „Seelengefährten“ gibt, die uns so gut – oder noch besser – „lesen“ können, als wir es selbst vermögen. Gleichzeitig – und für ein gesundes Beziehungsleben ist diese Botschaft wesentlich bedeutsamer – erlaubt diese Erkenntnis auch, daß jedes vorauseilende Agieren in der vermeintlichen Bedürfnissphäre der anderen Beziehungsteilnehmer aufhören darf; und oftmals hat dies ja auch eine übereifrige, ja fast schon übergriffige und manchmal gar kontrollierende Wurzel in sich: „Bleib sitzen, Schatz, ich weiß schon, was Du brauchst…!“.

Uns also selbst zu fragen, was wir wollen, warum wir es wollen – und ob es gut für uns ist – sind wichtige Fragen.
Mittlerweile tief im Januar-Eintrag 2023 wird es darum an dieser Stelle höchste Zeit für ein persönliches Beispiel:

Von meinen eigenen Erfahrungen auf dem Dating-Planeten habe ich in den letzten vier Jahren verschiedentlich auf diesem bLog geschrieben. Im letzten Jahr ist durch eines meiner Dating-Abenteuer eine Verbindung entstanden, jedoch zeigte sich beim ersten Treffen keinerlei romantische Komponente. Da weder die andere Person noch ich wirklich als „Vieldater“ gelten können, haben wir uns beide ein bißchen darüber geärgert; „geärgert“ im Sinne von „etwas enttäuscht“.
Indessen: Es zeigte sich bei diesem ersten Treffen trotzdem, daß wir einander als Menschen sehr interessant, anregend und auch bereichernd fanden. Und wir beschlossen, wiewohl wir ja „eigentlich“ ein „klassisches Date“ mit der Hoffnung auf Stiftung eines romantischen Kontextes angegangen waren, daß wir uns auf den Versuch einer alternativ daraus hervorgehenden „Erwachsenenfreundschaft“ einlassen wollten. Liebe Leser*innen – soweit gute Neuigkeiten: Mittlerweile haben wir uns schon mehrfach wiedergesehen, schreiben uns Nachrichten, telefonieren ab und an.
Nun zu meinen Bedürfnissen.
Bedürfnisse, die sind eine heikle Sache, sie wirklich ganz genau zu (er)kennen. Mit ihnen ist es ein wenig wie mit dem Blick in die Speisekammer vor dem allabendlichen Fernseh-Tagesausklang auf dem Sofa. Da hat man so ein diffus unbefriedigtes Gefühl, daß noch irgendetwas fehlt, man noch irgendetwas zur (Er)Füllung braucht…, man schweift über die Regale und tief im eigenen Inneren erkennt man eigentlich: Das, was ich wirklich brauche, ist hier gar nicht drin. Tja. Darum wird man dann an dieser Stelle auch oft von seinem schwächeren Selbst gekapert, greift sich trotzdem eine Tüte Chips (oder Ähnliches) und zieht sich in die Fernsehsasse auf dem erwähnten Sofa zurück. Übersprungshandlung. Ersatzhandlung. Ein temporäres, nicht ganz passendes Pflästerchen für ein in Wirklichkeit ganz anders geformtes Loch.
Was hat das jetzt mit meiner neuen Freundschaft zu tun? Will ich mit diesem Beispiel sagen, daß die also (nur) ein Pflaster für mein Polyamory-Defizit ist? Nein, die Lage ist komplexer.
Tatsächlich spürte ich in mir – einige Wochen nach dem Auftakt unserer Freundschaft – eine merkwürdige Regung. Nämlich, daß in mir ein Bedenken umging, daß ich die Freundschaft als „nicht genug“ empfand. In der Tat war es in vier Jahren Dating das erste Mal, daß aus einem Date bei mir eine Freundschaft hervorgegangen war. Auch in der Vergangenheit hatte ich mich mit einigen anderen Datingpartner*innen bei vorherigen Erst-Treffen durchaus gut verstanden. Doch ohne aufkommende romantische Komponente war es damals eben immer dann dabei geblieben.
Und nun ertappte ich mich bei Gedanken, in denen ich meiner neuen Freundschaft einen „geringeren Stellenwert“ beiordnete als eben so einer „richtigen“ oligoamoren Liebesbeziehung. Und spannenderweise traten dabei auch meine beiden altbekannten „inneren Rollen“ auf den Plan, von denen ich bereits in Eintrag 21 berichtet hatte: So bemerkte ich, daß mein „Weißer Ritter“ zu überlegen begann, welche „Gefallen“ er meiner neuen Freund*in erweisen könnte und wie er in ihrem Leben „helfen“ wollte (glücklicherweise war meine neue Freundschaft eine sehr patente Person, die für derlei Ansinnen nur wenig Ansatzpunkte bot). Mein „Vampirlord“ hingegen rasselte laut mit seinen Ketten und forderte mich gierig dazu auf, dringlich der Natur der Beziehung eine romantische oder wenigstens erotische Komponente hinzuzufügen, auf daß auch er Nahrung finden würde.
Die heftige Aufwallung dieser beiden inneren Gestalten, die beide in meiner Vergangenheit geeignet waren mich bei Beziehungsanbahnung gelegentlich zu „überfahren“, ließ mich aufhorchen. Beide Anteile drängten auf eine „vollständige“ weitere Beziehung polyamorer Natur – wenigstens in einer Weise, wie ich Mehrfachbeziehungen schon einige Male angegangen war.
Was hatten die beiden dahingehend an einer „bloßen Freundschaft“ auszusetzen?
Um ihre Motivation zu ergründen, musste ich nun wirklich auf meine Bedürfnisebene hinunter, wo eine faszinierende Erkenntnis auf mich wartete:
Ich stellte nämlich fest, daß es einen Teil in mir gab, der der Überzeugung war, daß nur der Rahmen einer romantischen (polyamoren) Liebesbeziehung ausreichend sei, um wirklich (!) sicherzustellen, daß ich als Mensch in einer Beziehung tatsächlich gemeint, geschätzt, geliebt und anerkannt wäre.
Sämtliche anderen Beziehungsformen würden dies hingegen nicht gewähren können.
Und warum polyamor? Nun, weil das „innere Loch“ in mir offensichtlich dergestalt war, daß ich nach mehr „echter/garantierter“ Zuwendung als von nur einer Person strebte. Und da ein monogames Standardmodell ja nur eine „echte“ Beziehung im Rahmen meines Anspruchsmodells bieten würde, sollte es also die Polyamory sein, mit deren Hilfe ich mir einige meiner tiefsten sozialen Bedürfnisse erfüllen wollte.
Soziale Bedürfnisse, die da (alphabetisch) u.a. Akzeptanz, Anerkennung, Annahme, Aufmerksamkeit, Bedeutsamkeit, Beständigkeit, Freundschaft, Fürsorge, Geborgenheit, Gegenseitigkeit, Gemeinschaft, Harmonie, Intimität, Kontakt, Loyalität, Nähe, Unterstützung, Verbindung, Verbundenheit, Verlässlichkeit, Vertrauen, Vertrautheit, Wertschätzung und Zugehörigkeit heißen – und die bei mir wohl (auch biographisch bedingt) in einem Zustand immer wieder zu verspürender Unterdeckung sind.

Was das für mich, Oligotropos, heißt? Das werde ich Euch, meine werte Leserschaft, hoffentlich hier auf dem bLog immer weiter wissen lassen – dann dahingehend stehe ich ja damit gerade erst am Anfang eines Erkenntnisprozesses.
Was es aber auf alle Fälle jetzt schon bedeutet ist, daß ich in Kenntnis dieser Zusammenhänge noch mehr darauf achten werde, meinen Wunsch nach Mehrfachbeziehungen nicht zu instrumentieren.
Weder auf die eingangs erwähnte „bedürfnisverschiebende“ Art, indem ich vorhandene Partner*innen dafür einsetzen würde, möglichst viele „Flicken“ für die von mir identifizierten Bedürfnisdefizite abzugeben.
Noch aber vor allem in Bezug auf meine Grundherangehensweise an (Mehrfach)Beziehungen: In dem ich nun sorgfältiger berücksichtige, welche „Natur“, welchen dringlichen Inhalt einer Beziehung ich aus welchen inneren Ermangelungen herzustellen versucht bin.

Und ich finde durchaus nicht, daß dieser „Fund“ in mir gegen Mehrfachbeziehungen, Poly- oder Oligoamory spricht, weil ich vielleicht aus den „falschen Gründen“ auf dieses Modell verfallen bin.
Ohne meine Bewegung in Mehrfachbeziehungsräumen wäre ich in meiner Selbstanerkenntnis höchstwahrscheinlich niemals dazu gekommen, mich von dieser Seite so gründlich kennenzulernen.

Wichtig bleibt es vielmehr für alle von uns, wach zu bleiben und uns Fragen zu stellen, so wie Herr Nagorni es ganz am Anfang dieses Textes tut. Und uns beherzt der Antworten anzunehmen, denen wir bei unseren kleinen Selbsterforschungen begegnen werden – ganz unperfekt, und ohne dabei auf den Blick auf den Sonnenaufgang zu verzichten.
Ich wünsche uns dabei Geduld, Hingabe und Zuversicht: für unsere vielfältigen Beziehungen, unsere fantastischen Liebsten und für ein gutes neues Jahr.



* Danke an Klaus Nagorni für die freundliche und höchstpersönlich Erlaubnis der Wiedergabe seines Gedichts „Kleine Selbsterforschung“ auf diesem bLog (sämtliche Rechte beim Autor) und ebenfalls Dank an Marlon Trottmann auf Pexels.com für das Foto!

Eintrag 84

Dyadische Keimzellhypothese

In den weltweiten Schöpfungsmythen – insbesondere was die Schöpfung der Menschen angeht – kommt die Polyamorie irgendwie schlecht weg.
Das ist übrigens nicht nur bei dem nach eigenem Bekunden¹ „eifersüchtigen“ Gott der Israeliten der Fall – bei dem alle Religionsangehörigen vermutlich froh sein können, daß dieser überhaupt mehr als bloß ein Wesen und nur ein Geschlecht erschaffen hat, wo doch der vorderasiatische Jahwe/Jehova schon beinahe als Archetyp mono-theistischen und mono-normativen Schöpfens gilt…
Nein, von den Steppen Asiens bis zu den Küsten Papua-Neuguineas, von den Regenwäldern Südamerikas bis zu den eisigen Weiten der Nordpolaregion: Fast überall auf der Welt hat die Geschichte der Menschheit mythologisch mit zunächst einmal lediglich zwei Individuen begonnen, die da sex- und gendermäßig recht überwiegend als Frau und Mann benannt wurden.
Ok, manchmal war einer dieser beiden Partner*innen eine Göttin, die sich einen Mann „fertigte“, um dann nach dessen Beihilfe die Menschheit zu gebären oder ein müßiger Gott, der eine Frau erschuf um der Langeweile der Ewigkeit zu entgehen und mit ihr zum Stammvater der Menschheit avancierte.
Die wenigen Ausnahmen, in der es von Anfang an um „mehr als zwei“ ging – oder wo am Anfang gleich ein betriebsames Getümmel herrschte – muß man schon suchen, götterseidank gibt es aber auch diese:²

Richtig in die Vollen gingen beispielsweise die Götter der Maya, die wohl von vornherein gleich auf eine Vielzahl an Menschen zielten und nach desaströsen Versuchen unter der Verwendung von zunächst Lehm (vom Regen weggespült) und dann Holz (brüchig und illoyal) schließlich mit Maisbrei einen so gigantischen Erfolg erzielten, daß die Götter selbst alsbald vor dem schieren fruchtbaren Gewimmel ihrer Schöpfung Angst verspürten.

Deutlich differenzierter geht es da schon im hawaiianischen Schöpfungsgesang „Kumulipo“ zu. Dort führt die Göttin Laʻilaʻi eine Art proto-polyamore „offene Beziehung“ mit zwei Partnern, aus deren Verbindung drei (selbstverständlich göttliche) Nachkommen hervorgehen, die dann in bester Regenbogenmanier für sich beschließen, da sie geboren wurden, während ihre Mutter mit zwei Männern zusammen war, sich zu „Poʻolua“ (= „die, deren Ursprung im Dunkeln liegt“) zu erklären und die Abstammung von beiden Vätern zu beanspruchen

Wunderbar polyamor geradezu empfinde ich allerdings vor allem die Anfangsgeschichte der Kiowa-Apachen, die von ihrem Schöpfer Kuterastan erzählen, wie er erwachte und sich die Augen rieb. Als er über sich in die Dunkelheit blickte, füllte sich diese mit Licht und erhellte die Dunkelheit darunter. Als er nach Osten blickte, färbte sich das Licht mit dem Gelb der Morgendämmerung, und als er nach Westen blickte, wurde das Licht von den Bernsteintönen der Abenddämmerung durchdrungen. Als er um sich blickte, erschienen Wolken in verschiedenen Farben. Dann rieb sich Kuterastan erneut die Augen und das Gesicht, und als er sich den Schweiß von den Händen wischte, erschien eine weitere Wolke, auf der ein kleines Mädchen namens Stenatliha saß. Stenatlihas Name bedeutet übersetzt die Frau ohne Eltern. Kuterastan und Stenatliha fragten sich, woher die andere Wolke kam und wo die Erde und der Himmel waren. Nachdem sie einige Zeit nachgedacht hatten, rieb sich Kuterastan erneut die Augen und das Gesicht, dann die Hände, und aus dem Schweiß, der beim Öffnen der Hände floss, erschien zuerst Chuganaai, die Sonne, und dann Hadintin Skhin, der Pollenjunge. Nachdem die vier lange Zeit schweigend auf einer einzigen Wolke saßen, brach Kuterastan schließlich das Schweigen und sagte: „Was sollen wir tun?“ – woraufhin überliefert ist: Und gemeinsam begannen alle miteinander mit der Schöpfung…

Angesichts der erdrückenden Übermacht ausschließlich dyadischer (dyadisch = „aus zwei Einheiten bestehend“ / „den Austausch von zweien betreffend“) Schöpfungsmythen hingegen, bleiben dies dennoch eher bunte Randerscheinungen in einer Beziehungswelt, die offensichtlich ganz überwiegend zu Anfang vor allem für ein Zusammentreffen von erst einmal (nur) zwei Wesen angelegt war.
Wenn wir dahingehend mal den rein reproduktiven Aspekt – der in frühen Kulturen sicher eine wesentliche Rolle spielte (und der in der Mythologie so meist eine „höhere“ Rechtfertigung erhielt) – weglassen, bleibt dann trotzdem noch Weisheit übrig, die nicht nur für uns in der heutigen Zeit noch aktuell ist, sondern auch ein Anrecht hat, gleichwohl auf einem bLog über Mehrfachbeziehungen zu erscheinen?

Klar – rhetorische Frage – ich meine nämlich durchaus, daß dem so ist.
Und tatsächlich wird dies auch innerhalb unserer polyamoren Lebensweise oftmals (an)erkannt.
In einem intensiven Austausch mit der bereits auf dieser Plattform hier zitierten bLoggerin Sacriba (die ihrerseits ebenfalls polyamor lebt) antwortete mir diese einmal auf meine eigene Aussage
»Ich stehe […] auf dem Standpunkt, daß „Verlieben“ bzw. „die erste Zeit“ durchaus Phasen von 1:1-Zeit benötigt. Für mich bildet da dieses 1:1 die „Minikeimzelle“ [einer Beziehung] – und in der „Kennenlernphase“ glaube ich, braucht’s das Aug-in-Aug-Miteinander auf diese Weise auch erst einmal…« Folgendes:

»Da stimme ich dir völlig zu, und möchte sogar noch ergänzen: Ich denke, dass immer wiederkehrende Zu-zweit-Zeiten / 1:1-Zeiten unerlässlich nicht nur für den Anfang, sondern auch für das Aufrechterhalten einer schönen, liebevollen Paarbeziehung sind. Als größtmögliche zwischenmenschliche Nähe ist die romantische Ebene sehr offen, und daher auch sehr verletzlich. Das gilt natürlich umso mehr für den Anfang. Je mehr Einflüsse von „Außen“ hinzu kommen, desto eher machen die betreffenden Menschen zu, und können sich auf dieser Ebene gar nicht mehr begegnen. Aus diesem Grund „erlöschen“ so viele monogame Paarbeziehungen, sobald Kinder hinzukommen: Neben der Erwerbsarbeit und Eltern-Sein mit den Kindern bleibt einfach nicht mehr genug Zeit und Energie für romantische Nähe, und nach einigen Jahren ist davon nichts mehr da.
Interessanterweise passiert bei vielen Menschen, die eine Mehrfachbeziehung tatsächlich ausprobieren, ein ähnliches Phänomen: Alle stecken erst mal ihre Zeit und Energie in den Aufbau des neuen gemeinsamen Systems. Und JA, das ist auch sinnvoll, denn das Zu-Dritt, Zu-Viert, wie auch immer, ist eine neue Struktur, welche Zeit und Aufmerksamkeit benötigt, gerade in der „Mehrfachbeziehungsbildungsphase“. ABER: Die Paarbeziehungen verschwinden durch dieses neue System nicht. Im Gegenteil, ein Polykül ist sogar als ein „Netzwerk aus zusammenhängenden romantischen Verbindungen“ definiert. Die Paarbeziehungen bleiben als Subsysteme weiterhin bestehen, und damit auch die Voraussetzungen, damit diese überwiegend schön sind und energiegebend wirken, wie eben eine Zu-Zweit-Zeit / 1:1-Zeit.«


Auch in dem Facebook-Forum Polyamorie & Polyfidelity – Die Kunst, mehrfach zu lieben (deutschsprachig) ergab sich erst diesen Monat unter einer Interviewanfrage mit dem Thema „Alltag in polyamoren Beziehungen“ dieser kurze Dialog:
Gruppenmitglied A: »Finde es so wichtig das Außenstehende ein wenig Einblick bekommen um vielleicht zu verstehen das es gar nicht so anders ist als Monogamie.«
Gruppenmitglied B: »Zu dieser Aussage fällt mir ein Aspekt ein. Im Grunde ist ja schon einiges anders als in der Monogamie, aber natürlich nicht alles und eins fällt mir da direkt ein: Auch Poly-Beziehungen sind 2er Beziehungen. Man hat zu allen Partnern eine individuelle Bindung (wie zu seinem einen Partner in einer monogamen Beziehung) und man braucht auch mit jedem Partner Zweisamkeit. Das finde ich das Schöne an der Polyamorie. Dass die Liebe einfach fließen kann, man nichts unterdrücken muss UND dass es trotzdem separate Lieben sind.«

Gerade die Aussagen der beiden Forumsmitglieder, die spontan und geradlinig ihre Gedanken ausgedrückt haben, freuen mich, weil ich ja hier selbst auf meinem bLog bereits in Eintrag 29 und auch wiederholend in Eintrag 72 geschrieben hatte, daß eigentlich die ganze Essenz meines Schreibens hier in dem schlichten Satz »Führt gute Beziehungen!« zusammengefasst sein könnte.
Die Mitglieder A und B oben erläutern mit ihren Aussagen gewissermaßen dieses „Konzentrat“ zweifach: Zum einen, in dem ausgedrückt wird, daß polyamore Beziehungen vom Grundsatz her ganz und gar klassische, romantische menschliche Beziehungen sind, wie alle anderen romantischen menschlichen Beziehungen auch. Zum anderen, daß die Grundstruktur von Mehrfachbeziehungen – die für themenfremde Personen ja gerade in ihrer „verstrickten Gemengelage“ so verrucht wirken – auf einen Nenner gebracht aus individuellen Einzelbeziehungen bestehen.

Ich möchte hier niemandem zu nahe treten, wenn sich z.B. nun eine Dreierbeziehung getroffen fühlen würde, die das Glück erlebt hätte, daß sich dort alle Personen mehr oder weniger zur gleichen Zeit ineinander verliebt haben. Ich würde tatsächlich auch zu solch einer Gruppe sagen, daß es lohnenswert ist, über die „Untereinanderbeziehungen“ der verschiedenen Mitglieder eines solchen „Dreiers“ einmal so nachzudenken, wie es oben die bLoggerin Sacriba getan hat.

Denn wenn ich „Führt gute Beziehungen!“ sage, dann meine ich das ein wenig wie der irische Autor, Kritiker und Aktivist George Bernard Shaw, der einmal schrieb »Liebe ist die Fähigkeit, den Menschen, die uns wichtig sind, die Freiheit zu lassen, die sie benötigen um so sein zu können, wie sie sein wollen. Unabhängig davon, ob wir uns damit identifizieren können oder nicht.«
Diese Fähigkeit, wenn wir mit dem entsprechenden Menschen eine romantische Liebesbeziehung teilen wollen, bezieht sich meiner Meinung nach nämlich immer auf ein Individuum. Ein Individuum von dem wir andersherum ja (hoffentlich) die selbe Fähigkeit zu unseren Gunsten entgegengebracht bekommen.
Mr. Shaw hat in prägnanter Kurzform formuliert, was längst auch wissenschaftlich erkannt wurde – und was ich bereits verschiedentlich auf diesem bLog zitiert habe; hier noch einmal, weil es so wichtig ist:
»Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«³

Also ist dieser „Prozess“ kein Selbstläufer und er ist obendrein – wie die bLoggerin Sacriba ganz richtig beobachtet hat – „sehr verletzlich“. Denn wir Menschen wählen aus natürlichem Selbstschutz sehr viel eher eine 1:1-Situation, um zunächst einmal lediglich angesichts einer Person unsere Schilde zu senken und Teile unserer Alltagsrüstung auf Vorvertrauensbasis abzulegen. Solch einen Prozess würden die allermeisten von uns ganz sicher erst in einem zweiten Schritt vor einer Gruppe wagen. Diese „Subsysteme“ also – um einen Begriff von Sacriba aufzugreifen, sind dadurch gewissermaßen die Maschinenräume gelingender Mehrfachbeziehungsführung. Sind diese gesund, d.h. jeweils auf Augenhöhe, aufrichtig, engagiert, vertrauensvoll, und wertschätzend, kann jene Energie erzeugt werden, die dann in einem eventuellen „Gesamtsystem“ zu kreisen beginnen könnte.

Möglicherweise war dieser Zusammenhang den Erzähler*innen der menschlichen Schöpfungsmythen latent – oder auch ganz wissentlich – klar: Abgesehen von der berühmten „guten Beziehung zu uns selbst“ sind wir in unseren menschlichen Verbindungen eben nicht „multitaskingfähig“. Dadurch kommt der Begegnung mit unserem jeweiligen direkten Gegenüber jedes Mal besondere Bedeutung zu – unsere ganze Aufmerksamkeit ist gefragt, Bewußtheit und die oben erwähnte „Aufeinanderbezogenheit“. Egal, ob in den Mythen die Menschenwesen aus Staub, Blut, Kieseln oder Schweiß entstanden – sehr rasch steht jedesmal fest, daß ein „Ich“ vor allem erst einmal ein „Du“ braucht, um sich selbst begreifen aber auch spiegeln zu können.
Mit jedem unserer Lieblingsmenschen jeweils eine eigenständige, vollständige und ganz und gar individuelle Beziehung zu führen ist also von erheblicher Bedeutung für ein gelingendes Partnerschaftsnetzwerk, welches auch zu Mehreren gelingen soll.
Die allererste Grundlage dafür, die Keimzelle, beginnt zwischen zwei Leuten.
Vielleicht war es genau das, was uns die Götter schon zu Anbeginn der Menschheit mit auf den Weg geben wollten.


¹ Die Bibel, Altes Testament – 2. Mose 20, 5: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ / 2. Mose 34, 14: „Denn Jahwe trägt den Namen «der Eifersüchtige»; ein eifersüchtiger Gott ist er.“

² Alle Beispiele entstammen der leider nur auf der englischen Wikipedia verfügbaren Sammlung List of creation myths und ihren dortigen Weiterleitungen zur Maya-Schöpfung, dem Kumulipo und zu Kuterastan.

³ S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“– A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000
Erstmals bei mir Eintrag 14, aber auch Eintrag 46 (zur Selbsterkenntnis), Eintrag 62 (über Beziehungsfähigkeit) und Eintrag 71 (über Polyamorie).

Danke an Morrisio Indra Hutama auf Unsplash für das Foto!