Eintrag 32

Dunkle Klänge¹

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Wenn die kleinen Kinder zu Bett gegangen sind und auch jene Menschen, die noch reinen Herzens sind, sich längst in ihre Koje gekuschelt haben – dann beschwören die Erzähler am düster flackernden Feuer der Geschichten in manchen Neumondnächten eine furchteinflößende Gestalt herauf. Allein ihr Name schlägt die meisten Zuhörer in zähneklappernden Bann; ihr Schicksal, diese Welt auf der Suche nach den Energien der Lebenden zu durchstreifen läßt auch bei den hartgesottensten Oligoamoren das Blut erstarren.
Daß es diese Wesen dennoch gibt, mußte ich selber an einem unheilvollen Neumondtag am Ende eines kalten Oktobers erfahren, als mir folgende Geschichte so wiederfuhr, wie sie an den Feuern der Oligoamoren mit abergläubischem Flüstern seit jeher erzählt wird…

Der Nissratz betrat mein Haus unerkannt und in Begleitung seines liebsten Spielzeugs.
An meinen Tisch gebeten sprach der Nissratz zunächst wenig und wenn, mit gedämpfter Stimme. Dann stellte er meist leise Fragen und überhaupt schien er seine Umgebung und die Teilnehmer der Tischgesellschaft dabei intensiv zu mustern. Sein Spielzeug – obwohl dazu fähig – sprach wenig bis gar nicht. Der Nissratz machte mir Komplimente über meine Kaffeetafel und zu meiner Einrichtung und betrachtete dabei eingehend meine umfangreiche Bücherwand.
Der Nissratz meinte, daß es heutzutage recht schwierig geworden sei, Menschen für den eigenen Stamm zu finden, da sei es eine Wohltat ähnlich Gesinnten zu begegnen.
Ich sprach weiter mit dem Nissratz und seinem Spielzeug, dabei redete jedoch hauptsächlich ich und der Nissratz lauschte und wohl auch sein Spielzeug, jedenfalls schwieg es im Wesentlichen.
Nach einiger Zeit fragte der Nissratz, ob ich denn so mit meinem Leben zufrieden sein könne. Innerlich ärgerte ich mich ein bisschen, denn ein wenig hatte der Nissratz einen Punkt getroffen, der wohl nicht gerade wund – aber doch etwas empfindlich war.
Ich antwortete, daß ich mit meinem Leben im großen und ganzen zufrieden sei, wie ich es mir eingerichtet hätte, daß aber doch gelegentlich die ein oder andere Zutat in zu geringem Maße vorhanden sei, um stets vollumfänglich zufrieden zu sein. Da wir von Gemeinsamkeiten und vom eigenen Seelenstamm gesprochen hatten, erläuterte ich, daß ich es so z.B. manchmal als frustrierend empfand, daß in der übrigen Welt vielfach die verbindliche Mitmenschlichkeit und Menschenfreundlichkeit geringer ausgeprägt seien, als ich es mir manchmal für mich wünschen würde.
Der Nissratz erklärte daraufhin, daß doch wohl nichts da draußen in der Welt mehr menschenfreundlich sei und er dieser Welt darob den Rücken gekehrt habe. Wie überhaupt die Menschen vor allem bloß danach streben würden, über alles Kontrolle auszuüben. Für ihn sei deshalb nur noch maßgeblich, was die Natur vorgebe, er lebe hauptsächlich zurückgezogen und für sich selbst (sowie künftig für seinen noch zu schaffenden Stamm). Meine Frage, was es denn seiner Meinung nach sei, was die Natur vorgebe, verblüffte den Nissratz für einen kurzen Moment sichtlich, doch dann lobte er sogleich mein Interesse. Er beschrieb, daß naturgemäß vor allem bedeute, alles, ja, wirklich alles zuzulassen, insbesondere sämtliche Gefühle, wie auch immer diese beschaffen sein mochten. Selbstverständlich, sagte er, gäbe es zu diesem Thema eine Menge zu vertiefen und auszuführen, was er dann bei Gelegenheit für mich bereitwillig tun wolle.

Es folgte eine Pause in der Konversation, denn wir brachen zu einem Spaziergang „zum Gedanken ordnen“ auf, den der Nissratz allerdings gerne allein mit seinem liebsten Spielzeug – und ich also mit meiner Gefährtin und ihrem Pferd absolvierte.
Ich war verwirrt – was war dies für eine eigentümliche Begegnung? Mir fehlten Anhaltspunkte und Informationen an allen Ecken und Enden, denn über den Nissratz und sein liebstes Spielzeug hatte ich bisher fast nichts erfahren (das Spielzeug hatte gelegentlich mit strahlenden Augen genickt, schien aber sonst von sich aus nichts beitragen zu wollen…) – ich hingegen kam mir ein wenig, tja, ausgefragt vor. Deshalb sah ich der „Zweiten Halbzeit“ des Nachmittags entgegen, in der ich hoffte, mehr von meinen erstaunlichen Besuch in Erfahrung zu bringen.

Als wir vom Spaziergang heimkehrten, begann der Nissratz als erstes sogleich mein Haus zu erkunden, unaufdringlich – aber auch ungefragt.
Als es mir gelang, meinen Besuch nach der „Besichtigung“ an den Tisch zurückzulotsen, war es aber erneut der Nissratz, der nun zielstrebig den Gesprächsfaden in die Hand nahm – um ihn auch bis zum Ende nicht wieder niederzulegen.
Der Nissratz bekundete, daß die „erste Halbzeit“ ihn schon fast erschöpft hätte. So viele Worte seien gesprochen worden, wie er sie mit seinem liebsten Spielzeug sonst am ganzen Tag nicht wechseln würde. So viele Informationen – dabei hielte er, der Nissratz – und auch sein liebstes Spielzeug – doch das Schweigen und die Stille für das höchste Maß aller Dinge. An manchen Tagen würden sie kaum ein Wort miteinander wechseln…
Dennoch schlug der Nissratz zum Wiedereinstieg eine gemeinsame Feedbackrunde vor, die er selbst sogleich eröffnete. Er fühle sich bei uns willkommen und sicher, so betonte er. Noch einmal unterstrich er, wie selten es heute sei, überhaupt Menschen zu finden, die ähnlich Werte, wie er, der Nissratz, schätzten. Wohl sei ihm aufgefallen, daß wir gelegentlich ins Wort zu fallen versuchten, was nicht sehr achtsam sei – doch ansonsten bescheinigte er uns eine gedeihliche Atmosphäre die tiefgründigeren Menschen angemessen sei. Besonders das Stichwort „Hochsensibilität“ hätte ihn berührt, denn hochsensibel, daß seien er und sein liebstes Spielzeug ganz sicher auch. Er wäre dahingehend auch sehr neugierig zu ergründen, was uns wohl widerfahren² sei, daß wir „hochsensibel geworden“ seien, doch dafür würde sicher ein andermal noch Raum sein – denn bei ihm gäbe es dazu selbstverständlich auch eine ausführliche Geschichte seiner Fährnisse, die hier jetzt zu umfänglich wäre.
Nun war es an dem liebsten Spielzeug, die Rückmeldung zu geben und artig formulierte das Kleinod des Nissratz eine Variation seiner Worte, insbesondere ebenfalls Wohlgefühl und Behagen betonend.
Als die Reihe an mich kam, wollte der Nissratz wissen, wie ich mich fühle. Ich erwiderte aufrichtig, daß ich in einen Zustand zunehmender Verwirrung und widerstreitender Ambivalenz hinsichtlich des Verlaufs des Nachmittags geraten wäre und nicht wüßte, wie ich mich adäquat äußern sollte. Der gewandte Nissratz griff sogleich nach, indem er mich direkt fragte, in welchen Anteilen ich Angst, Trauer und Zorn in mir spüren würde.
Ehrlich antwortete ich, daß ich Angst in Form einer Unvertrautheit mit der plötzlichen Intensität der heutigen Situation empfinden würde, daß ich meistens eine begleitende Traurigkeit in mir trüge (auch heute) – aber daß ich keine Wut finden würde, lediglich die beschriebene Verwirrung.
Der Nissratz nickte wissend und erklärte, daß er solche Angst angesichts seiner Präsenz oft erleben würde, ein vertrauter Effekt, den die Kraft seiner Gegenwärtigkeit häufig hervorrufen würde.
Der Nissratz erläuterte, daß dies die gelegentlich Wirkung aller entwickelten Menschen sei, mir meine Angst jedoch darum zu nehmen sei, würde ich anstreben, dem Nissratz gleich zu werden, wozu er mir beihelfen und heilen wolle.
Daher bot der Nissratz mir nun an, eine Beziehung mit ihm zu führen. Er wolle darin nicht nur mein Partner, sondern auch mein Therapeut, mein Mentor, mein Priester und mein Heiler sein. Als ich sagte, ich würde ihn in diesen Eigenschaften permanent in Frage stellen, erklärte er großzügig, daß er sich auch dieser Herausforderung gewachsen sähe und ich ihn dahingehend beruhigt auf das Härteste prüfen könne. Der Nissratz erläuterte, daß nämlich alle entwickelten Menschen schließlich zu Heilern würden. Auch er und sein liebstes Spielzeug seien Heiler*innen. In dieser Eigenschaft ließen sie „sich finden“, von jenen Menschen, die bedürftig seien und Gesundung ersehnten. Sogar seinen Wohnraum und seine Lebenszeit bot mir der Nissratz nun an, bekräftigte, daß er all dies stets jenen Seelen widmen würde, die seine Hilfe bräuchten – egal ob für Tage, Wochen oder längere Zeit. Sein liebstes Spielzeug nickte zustimmend.
Als ich sagte, ich wäre auf der Suche nach verbindlich-nachhaltigen Beziehungen, nicht jedoch auf der Suche nach einer Therapiebeziehung und könne solches nicht mit mir vereinbaren, da wischte der Nissratz meine Bedenken fort, in dem er mich darauf hinwies, daß für ihn nur noch pure „Beziehungen“ im Universum existieren würden – und diese enthielten immer alle Qualitäten zusammen.
Als ich einwandte, ich hätte dann Schwierigkeiten zu erkenne, wann er dann als mein Liebster und mein Freund oder wann er als mein Lehrer und mein Therapeut zu mir sprechen würde, wiederholte er, daß es da bei entwickelten Menschen keinen Unterschied mehr gäbe und zeigte sich bekümmert ob meines so hinderlichen wie kleinlichen Misstrauens.
Der Nissratz bot mir darum zu meiner Erdung und zum Fassen von Urvertrauen seinen Körper zur Umarmung an, was ich gemäß seiner Vorannahme ablehnte.
Der Nissratz bot mir zu meiner Erdung und zum Fassen von Vertrauen nun sein liebstes Spielzeug an (ohne zuvor von diesem Konsenz eingeholt zu haben), was ich zu seiner sichtbaren Konsternation erneut ablehnte.
Als ich begründete, ich würde nicht so schnell mit mir fremden Menschen irgendeine Form von Körperlichkeit herstellen, denn es sei wie in der Geschichte vom „Kleinen Prinzen und dem Fuchs“, daß man einander erst „zähmen“ müsse um nach und nach ein Mißtrauen abzubauen und das Vertrauen herzustellen – da belehrte mich der Nissratz, daß Mißtrauen auch nur ein anderes Wort für Angst sei. Und Angst würde begrenzen und unfrei machen und sei darum wider die Natur.

Als ich antwortete, daß „Angst“ doch hauptsächlich etwas Persönliches sei, weil man doch meistens, auch wenn man um die Anfälligkeit einer anderen Person besorgt wäre, vor allem Angst um sich selber hätte – weil man hauptsächlich darum bekümmert wäre, wie man selber mit den Folgen dieser Anfälligkeit zurechtkommen müsste – da bezweifelte der Nissratz dieses sogleich.
Denn auch er, so betonte er ausdrücklich, würde sich z.B. seinerseits sehr vor dem Verlust seines liebsten Spielzeuges fürchten. Wie gesagt sei er ja hochsensibel und jeder hätte darob eine zentnerschwere traumatische Vergangenheit – nicht nur seine Zuhörer, nein auch er und sogar sein liebstes Spielzeug.

Der Nissratz diagnostizierte nun, daß ich zunächst mein physisches Mißtrauen abzulegen hätten. Bei unserem nächsten Treffen würde er dazu einen kleinen Worshop mit Berührungen anleiten.
Ob er denn nicht verstanden hätte, wandte ich abermals ein, daß Berührungen bei mir erst nach einer Periode des miteinander Zeitverbringens und des Vertrauensaufbaus stimmig seien?
Nun war es am Nissratz, wahrhaft ungnädig zu werden: Von Berührungen durch ihn wäre ja gar nie die Rede gewesen. Aber in meiner Verwundetheit sei es ja offensichtlich, daß ich sein selbstloses Angebot nur in dieser Weise hätte auffassen können, obwohl er es keinesfalls so gemeint hätte.
Die Geduld des Nissratz schien durch meine Sprödigkeit gegenüber der durch ihn verheißenen Gesundung allmählich erschöpft. Und tatsächlich spürte auch ich einen überraschend heftig aufkommenden Widerwillen gegen meine Gäste und die ganze mittlerweile recht eigenartig entgleiste Veranstaltung, die sich da an diesem Nachmittag abzuspielen begonnen hatte.

„Abflug!“ stieß da plötzlich das liebste Spielzeug – nahezu erstmals wahrhaft hörbar – hervor.
„Ich glaube auch, daß hier eine Zeit zur Besinnung angebracht scheint“, bilanzierte der Nissratz schnarrend, sich erhebend und mit langen Schritten der Ausgangstür zustrebend.

Bittere Resignation und resignierte Bitterkeit sprachen aus den Blicken und Worten des Nissratz mit denen er mich bedachte, als er sein großäugig blinzelndes liebstes Spielzeug unsanft vor sich her zum Ausgang stieß: „Dann einen deprimierenden Abend noch!
Die letzten Worte des Nissratz, schon auf der Treppe, sprachen davon, wie schade es sei, daß ich wohl keinen Ort für meine Tränen finden würde.

Als der Nissratz fort war fühlte ich mich seltsam vorgeführt und beschämt. Eine Weile klebte dieser Zustand an mir, wich aber mit der Zeit, als ich nach und nach erkannte, welch oligoamores Schreckgespenst da der vermummte Neumond in mein Heim gespült hatte – und daß ich es glücklich gebannt hatte.

Und so schreibe ich es heute für Euch hierher, den Lebenden zur Warnung und zur Mahnung:
Habt Acht vor dem Nissratz, seiner Schlangenzunge, seinen Schmeicheleien und tausend Versprechungen. Habt Acht um Eures Selbst willen, um Eure Bedürftigkeiten und Ängste, daß Ihr Euch darin annehmt und gut Freund seid – auf daß Ihr niemals in Gefahr kommt dem Nissratz als Nahrung zu dienen für lange Zeit in seinen Verstecken und Winkeln unter dem ahnungslosen schwarzen Mond.
Schürt stets Euer Feuer, liebt Euch selbst und Eure Liebsten und steht fest zusammen, dann wird der Nissratz einen Bogen um Euer Haus machen, ein schauerliches Flüstern nur bleiben, weiterzuerzählen an einem kalten Tag Ende Oktober…




¹ Diesen Titel habe ich wegen dem „Dunklen Dreiklang“ (auch „Dunkle Triade“) gewählt und dem zentralen Merkmal dieser Geschichte („Der Name ist ein Anagramm“, hätte Grace Cardiff in Rosemary’s Baby gesagt).

² Unter den vielen Theorien zu Herkunft und Ursprung von Hochsensibilität gibt es die kontroverse These, daß Hochsensibilität ein stimulierbares Merkmal sei, daß sich insbesondere durch Traumatisierung in der Kindheit herausbildet.

Danke an Joachim/Max und Anke für die Inspiration und
Dank an „The Yorck Project (2002): 10.000 Meisterwerke der Malerei “ (DVD-ROM) und das darauf befindliche gemeinfreie Bild des Altmeisters Michelangelo Merisi da Caravaggio – , distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148809

PS: Wenn man bedenkt, daß sich diese Geschichte in etwa so zugetragen hat, weil ich ursprünglich das „liebste Spielzeug“ auf einer Datingplattform für ein Treffen angeschrieben hatte, welches dann in seinem Verlauf die Grundzüge zu diesem Eintrag hervorbrachte, dann muß man auf jeden Fall sagen, daß einem in der Welt des Online-Datings doch viel „Interessantes“ geboten wird…

PPS: Ich entschuldige mich ausdrücklich dafür, diese Geschichte – und insbesondere die Gestalt des „Nissratz“ – mit überwiegend maskulinen Pronomen besetzt zu haben. Nissratzen gibt es in jeder Form, in jedem Geschlecht oder Gender und wir tun gut daran, um auf der Hut zu sein, dies zu beherzigen.
Ich habe diese fiktive Geschichte für mich so erzählt, wie sie meinem Erzählduktus als Autor am besten entsprach.

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