„Wenn einer in die Irre geht, dann heißt das noch lange nicht, daß er nicht auf dem richtigen Weg ist.“
Hans Bemmann, Stein und Flöte (1983)
Oh diese Oligoamoren! Ein ganzer Monat Vorarbeit und Feldstudien. Auswählen einer ethnologisch relevanten Gruppe. Richtmikrofon, Aufnahmetechnik und schließlich ein perfekt errichteter, sorgfältig abgetarnter Unterstand ganz in der Nähe ihres allabendlichen „Feuers der Geschichten“. All das, nur um den oligoamoren Eingeborenen eine weitere ihrer grandiosen Legenden abzugewinnen, von denen ich ja weiß, daß sie voller Sinnbilder für die Führung verbindlich-nachhaltiger Mehrfachbeziehungen stecken.
Und dann DAS! Ausgerechnet in dieser Nacht (in der wissenschaftlich relevanten Nacht!) erzählt da einer am Feuer doch tatsächlich das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“. Ja, wirklich! Das aus der Bibel, Lukas-Evangelium, Kapitel 15. Diese total verstaubte Homecoming-Geschichte, bei der es mir hier jetzt sogar zu peinlich ist, sie noch einmal komplett hinzuschreiben. Kann ja jede*r wortwörtlich in der Bibel nachlesen – oder im Internet.
Die ganze Vorbereitung für die Katz, die Feldforschung ruiniert, Erkenntnisgewinn: Null. Die Oligoamoren sind nicht einmal christianisiert. Eigentlich habe ich bisher noch gar nicht herausgefunden, woran sie so glauben – religiös meine ich. Wahrscheinlich ohnehin so ein Potpourri, zusammengetragen von all denen, die es im Laufe der Jahrzehnte zu diesem entlegenen Eiland geschafft haben. Wäre ja auch wieder typisch für die Oligoamoren – wo die doch so auf Potentialvereinigung und „mehr als die Summe der Teile“ stehen…
An Schlaf ist jedenfalls nicht zu denken, ich wälze mich unruhig auf meinem Feldbett hin und her und kann es immer noch kaum fassen. „Verlorener Sohn“ pfff…
Der Horizont färbt sich schon rötlich und kündigt den Beginn des neuen Tages an, da bin ich immer noch wach. Ich hocke vor meiner Büchersammlung, die ich eigens mit auf die Insel habe schaffen lassen. Aber auf Biblisches war ich eigentlich am allerwenigsten vorbereitet und ich habe kaum Literatur zu dem Thema dabei.
Aber dort – links bei den paar Werken zu Religion und Weltanschauungen, da steht ein Bändchen, dessen Umschlag einen Rettungsring zeigt. „Das Schweigen Gottes – Glauben im Ernstfall“ von dem Pfarrer und Professor Helmut Thielicke (erschienen 2000); ich meine dunkel, daß der etwas zu diesem Gleichnis geschrieben hat. Ich ziehe das dünne Taschenbuch hervor und finde tatsächlich auch alsbald die betreffende Stelle:
„Der junge Mann ging wohl weg, um sich selbst zu finden.
Damit man sich selbst finden kann, muß man manchmal eigene Wege gehen. Zu Hause, in der Atmosphäre seines Elternhauses, mußte er ja immer tun, was der Vater wollte oder was die häusliche Sitte erforderte. Da fühlte er sich abhängig. Er konnte nicht tun was er wollte, sondern er konnte nur tun, was sich eben gehörte. Und darum gehörte er nicht sich selbst, sondern er gehörte den Gepflogenheiten seines Elternhauses. Da er außerdem nur der jüngere Bruder war, kam er erst recht nicht zu eigener Entfaltung.
Darum ging er weg, um sich selbst zu finden. Man könnte auch sagen: Er ging weg, um die Freiheit kennenzulernen.
Und diese Freiheit, die ihn lockte und die ihm versprach, daß er nun einmal ganz »er selbst« sein dürfe, diese Freiheit erschien ihm als Freiheit von allen Bindungen.“
Ich pfeife durch die Zähne und sehe mich sogleich ertappt um – gut, daß ich meine Gefährtin nicht geweckt habe. Leise sage ich es in 12 Stunden zum zweiten Mal: „Oh diese Oligoamoren!“ Deswegen also gefällt ihnen diese Geschichte so gut… Weil es darin auch wieder um das Spannungsfeld zwischen Verbindlichkeit und Freiheit geht, welches ich in Eintrag 7 schon einmal beleuchtet hatte…! Neugierig geworden lese ich weiter, was der Professor schreibt:
„Nun aber berichtet die Geschichte etwas Merkwürdiges:
Sie sagt uns nämlich, der verlorene Sohn habe all sein Gut mit unrechten Freunden, zweifelhaften Frauenspersonen und anderem üblen Gelichter vertan, sei schließlich an den Bettelstab gekommen, von allen verlassen worden und habe zu guter Letzt die Schweine hüten und aus dem Schweinetrog essen müssen.
Wenn also in seinem Aufbruch ein gewisser idealistischer Schwung gelegen und wenn ihn so etwas wie die Sehnsucht nach der Freiheit getrieben haben mag, so ist er bald kläglich gescheitert. Er suchte die Freiheit und sah sich bald geknechtet an seine Triebe, an seinen Ehrgeiz, an die Angst vor der Einsamkeit, der gegenüber ihm jede*r noch so obskure Gefährt*in recht war; er war geknechtet an das Geld, mit dessen Hilfe er seinen Leidenschaften frönte.
Und also war er nicht frei, sondern er war auf eine neue Weise gebunden. Aber diese Bindung war schrecklicher als alles, was er einmal als häusliche Bindung beklagt hatte.
Was war passiert? Nun ganz einfach dies, daß er sich im Gegensatz zu dem, was er sich vorgenommen hatte, eben selber nicht fand, sondern daß er sich verlor.
Als er sich selber suchte, da meinte er, er würde sich finden, wen er einmal alle seine Anlagen und Gaben zur Entfaltung brächte. Tatsächlich hat er sich dann in der »freien« Fremde ja auch entfalten können. Aber was war es, was sich da als seine »geprägte Form« nun »lebend entwickelte« ?
War es das sogenannte bessere Ich, waren es seine idealistischen Motive, die da zum Zuge kamen?
Vielleicht war das alles auch dabei. Aber jedenfalls entwickelten sich bei seiner Selbstentfaltung auch die dunklen Seiten seines Wesens: Trieb, Ehrgeiz, Angst, Wollust. Indem er sich selbst entfaltete, wurde er gerade an das verknechtet, was sich an dunklen Gewalten in ihm meldete und sich eben mitentfalteten. So saß er schließlich im greulichsten Elend einer Tagelöhnerschaft. So war er plötzlich der letzte Knecht.“
Über dem Eiland der Oligoamory geht die Sonne auf – aber ich habe heute keine Augen für dieses Naturschauspiel. Ich sitze da, mit dem Buch in der Hand, wie vom Donner gerührt. Was sich mir nach diesen Zeilen offenbart hat, hat mir den letzten Zweifel genommen, warum die Oligoamoren diese Geschichte so faszinierend finden, daß sie sie in ihren eigenen Geschichtenkanon integriert haben.
Was ich zunächst nur für ein Sinnbild zu dem bekannten Zwiespalt zwischen Verbindlichkeit und Freiheit hielt, entpuppt sich bei tieferer Reflektion als bedeutende Parabel hinsichtlich unserer Motivation und inneren Aufgestelltheit in Sachen (Mehrfach)Beziehung.
Denn da wird ja zu Beginn auch oft von dem „Aufbruch“ (z.B. in die Polyamory) gesprochen. Und so ein verheißungsvoller Aufbruch ist es dann doch auch oft, voller Sehnsucht nach einer neuen Freiheit und voller Idealismus.
Bis – ja, bis wir manchmal schmerzhaft bemerken, daß wir uns selbst auch bei so einem Aufbruch immer „mitnehmen“. Und daß wir – so wie der „verlorene Sohn“ – wohl in neuen Beziehungs- und Gemeinschaftsformen zwar unser Potential entfalten – aber eben buchstäblich unser GANZES Potential: Sowohl das, was im Licht (also bewußt) ist – als auch unsere verschatteten Anteile (was in der Psychologie das „Unbewußte“ genannt wird, und das Anteile enthält, die wir selber nicht gar so gerne an uns wahrnehmen wollen).
Und das, ich weiß es selbst, kann einem die Beziehungssuppe gerade zu Anfang ganz schön versalzen, wenn man plötzlich von persönlichen Unsicherheiten, alten Ängsten, schlecht erlernter Kommunikation, Selbstüberschätzung oder lauernder Bedürftigkeit gebeutelt wird und eigentlich „nur“ auf der Suche nach Freiheit und liebenden Verbindungen war…
Der Zwiespalt zwischen Freiheitswunsch und Ver-Bindung – ja, darum geht es. Nicht aber, wie ich zu Anfang glaubte, im Außen – sondern tief in uns selbst.
Es ist nicht mehr viel Text im Kapitel übrig, darum lese ich rasch, was der Professor für sich aus der Geschichte ableitet:
„Nun passiert die zweite Merkwürdigkeit:
Als er so im Elend des Knechtsdaseins sitzt, da sehnt er sich nach der Freiheit, die er als Kind im Elternhaus genossen hatte. Nun weiß er auf einmal, daß sie wirkliche Freiheit war. Ja, er weiß noch mehr: Er weiß nämlich plötzlich, daß Freiheit nicht etwa Bindungslosigkeit ist (die hat sich ja gerade als Knechtschaft entlarvt), sondern daß die Freiheit nur eine besondere Form der Bindung ist.
Freiheit habe ich nur, wenn ich im Einklang mit meinem Ursprung lebe, wenn ich also – so heißt das dann ohne Bild – im Frieden bin. Und als er sich darum zur Heimkehr entschließt, da ist das kein moralischer Entschluß, der ihn auf die lockende Fremde verzichten ließe – mit Ach und Krach und mit jenem moralischen Kater, wie er solche Entschlüsse zu begleiten pflegt –, sondern da ist es eine Wende, die von Freude erfüllt ist. […]
Das liegt daran, daß der Mensch seinem Wesen nach eben nicht eine geprägte Form ist, die sich nur lebend zu entwickeln brauchte, die also alles an Keimanlage in sich trüge, sondern daß er eben ein Wesen ist, daß sich nur dann verwirklicht, wenn es in seine Mündigkeit hineinwächst, und das sich gerade verfehlt, wenn es sich als ein isoliertes Ich und gleichsam als einen Solisten der Lebenskunst sucht.“
Still sitze ich da, ein bißchen erschüttert.
Ich begreife, daß „Der verlorene Sohn“ für die Oligoamoren nichts weniger ist als ein uraltes, menschheitsumfassendes Thema.
Welches sich die Menschen überall auf der Welt seit undenklichen Zeiten in Legendenform erzählen, um sich daran zu erinnern. Es ist die selbe Geschichte, welche die Protagonist*innen durchleben müssen, ob im sumerischen „Gilgamesch-Epos“ (2600 v.Chr.), ob in der griechischen „Odyssee“ (800 v.Chr.), ob in den Märchen „Frau Holle“ oder „Das Wasser des Lebens“ (die von den Gebrüdern Grimm ab 1815 verschriftlicht wurden) – oder ob in der „StarWars-Saga“ (ab 1977) oder ob in den „Harry Potter-Geschichten“ (ab 1997).
Es ist das Thema der „Nachtmeerfahrt“, bei der die Heldin oder der Held sich auf eine abenteuerliche Reise begeben, die sich aber genau genommen zu einer Fahrt in das eigene Innere der Psyche entwickelt – und bei der die Helden mit ihren dunklen Aspekten in Form von Leidenschaften, Zwängen und Bedüftigkeiten konfrontiert werden.
Und auch dies berichten all diese alten und neuen Mythen: Kein*e Held*in bleibt von dieser Nachtmeerfahrt unberührt, einige erliegen sogar ihren Herausforderungen, in jedem Fall durchlaufen alle tiefgreifende Veränderungen.
Wenn
wir also in die Gewässer rings um den seltsamen Kontinent der
Offenen Beziehungen aufbrechen, zwischen den Inseln des
vielgestaltigen Archipels der Polyamory kreuzen und dabei vielleicht
auch einen Blick auf das entlegene Eiland der Oligoamory erhaschen,
dann sind auch wir vielleicht aufgebrochen, um Freiheit, Abenteuer
und möglicherweise Vergnügungen zu finden. Wir werden dort aber
auch all den Monstern und Ungeheuerlichkeiten begegnen, die wir
unerlöst mit uns bringen und dabei heraufbeschwören werden.
Unsere
Suchwanderung nach gelingenden Beziehungen, unsere persönliche
Queste zum Auffinden unserer Zugehörigen, unseres Soultribes, ist
damit zugleich eine Reise, die uns mit der Übernahme von
Verantwortung für uns selbst konfrontieren wird. Mit
Selbsterkenntnis sowieso – eigentlich müsste ich vielmehr sogar
sagen mit „Selbstanerkenntnis“– denn der „Aufbruch in
Mehrfachbeziehungen“ gehört sicher zu einer der grundlegendsten
Weisen, sich mit seinen eigenen Stärken und Schwächen zu
konfrontieren.
Aber die Oligoamoren würden diese Legenden nicht auch deswegen lieben, wenn sie nicht auch trotz allem den möglichen Preis so sehr schätzen würden. Wie der Professor oben am Ende etwas altmodisch sagte: Das Hineinwachsen in die eigene Mündigkeit – und das Erleben von Freiheit in Verbundenheit.
Statt nun „Amen“ zu sagen möchte ich lieber zwei Zitate anhängen, die für mich persönlich das Ganze immer schon sehr berührend ausgedrückt haben.
Das eine stammt ursprünglich von dem französischen Magnetiseur Louis Alphonse Cahagnet (1805-1885) und ist in der Wicca-Religion durch die Hohepriesterin Doreen Valiente (1922-1999) als Teil der „Weisung der Göttin“ bekannt geworden:
„Denn wenn du das, was du suchst nicht in dir selbst findest, dann wirst du es auch niemals außerhalb von dir finden“.
Noch schöner – und tröstlicher – hat es für mich dann nur noch der deutsche Schriftsteller und Philosoph Georg Philipp Friedrich von Hardenberg [aka Novalis] (1772-1801) in seinem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ gesagt:
„Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause. Immer nach Hause.“
Danke an Joshua Earle auf Unsplash für das Foto!