Eintrag 50 #politisch

Die Schultern, auf denen wir stehen – Teil 4

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Die besten Geschichten aber schreibt die Wirklichkeit selber – oder vielmehr: Es ist die Wirklichkeit, die ihren Ausdruck in Geschichten findet, wiederum Impulse aus diesen aufnimmt und schließlich zu einem unglaublich bunten Teppich verwebt.
Diese vierteilige Artikelserie möchte ich der Geschichte der Oligoamory widmen, insbesondere ihren faszinierenden Wurzeln und ihrem wichtigsten Wert, der Selbsterkenntnis.

Politisch Sein

Wer die vorigen drei Einträge [ 123 ] dieser Serie gelesen hat, könnte bis hierher vielleicht noch versucht sein, die Poly- und Oligoamory als ein Ergebnis der überbordenden Phantasie zweier kruder Schriftsteller und der schillernden Visionen einiger obskurer Sonderlinge abzutun.
Der Eventualität einer solchen zweifelhaften gedanklichen Zuflucht möchte ich allerdings mit diesem Artikel begegnen, denn die gesamte Entwicklung, die bis zum heutigen Tage zur Realisation von Poly- und Oligoamory führte, war von Anfang an keinesfalls ein Zufallsprodukt – und sie war, ebenfalls von Anfang an, stets politisch.

Bereits Teil 1 (Eintrag 47) habe ich mit dem Hinweis auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingeleitet, welche mit ihrer zunehmenden religiösen Gewissensfreiheit den Menschen immer häufiger die Möglichkeit zu einem gleichermaßen spirituellen wie auch psychologischen Auf-Bruch aus bislang eng tradierten Strukturen bot.
Die ersten Personen, die in dieser Art von einem „erweiterten geistigen Horizont“ profitierten, waren, wie erwähnt, damals zunächst Mitglieder einer gebildeten bürgerlichen Mittelschicht – und aus dieser sollten auch die ersten mutigen Personen hervorgehen, die die neu errungene „Gedankenfreiheit“ auf vielerlei Weise zur Anwendung brachten.
Als Autor dieser Zeilen würde ich sagen, daß buchstäblich „die Zeit reif war“, denn nach der fast fieberhaften Industrialisierungswelle des 19. Jahrhunderts begann in einigen Kreisen gebildeterer Schichten die Erkenntnis zu reifen, daß die hektischen technischen wie strukturellen Umwälzungen in den Leben hunderttausender von Zeitgenossen problematische geistige wie gesamtgesellschaftliche Spuren zu hinterlassen begonnen hatten: Viele Menschen fühlten sich durch Landflucht und Verstädterung unbewußt entwurzelt und erlebten sich oft als bloße „Erfüllungsgehilfen“ undurchschaubarer maschinisierter Prozesse, was zu einem allgemeinen Gefühl von Entfremdung und Selbstverlust noch beitrug. Vielfach zu beobachtende Folgen waren Merkmale von (städtischer) Verelendung und erhöhtem Konfliktpotential, wie z.B. durch Alkoholismus, Gewaltausbrüche, div. „Geisteskrankheiten“ und Radikalisierung mittels „Banden-/Gruppenbildung“.
Die intellektuelle Antwort der Jahrhundertwende auf diese Erscheinungen fiel entsprechend vielfältig aus: In Parlamenten wurden die ersten Arbeitsschutzgesetze diskutiert; politische Strömungen begannen nationalistische Identifikationsideen anzubieten; die gerade erst aufblühenden Wissenschaften von Psychologie und Psychoanalyse versuchten, sich den neuartigen mentalen Phänomenen zu stellen (u.a. „Neurosen“, „Hysterie“, „Manien“, „Psychosen“); alternative Orientierung bietende, esoterische Gruppen entstanden (wie in Eintrag 48 dargestellt – aber z.B. auch Spiritismus und Theosophie); und aus dem Bewußtsein, daß die aufgelaufenen Entwicklungen vermutlich in erster Linie die Schwächsten einer Gesellschaft besonders betreffen würden (Arme, Kinder, Frauen) entstand die Keimzelle von Wohlfahrts-, Fürsorge- und Reformbewegung. Alle Personen und Organisationen, die hier anzusetzen versuchten, mußten jedoch erkennen, daß der „weibliche Wirkungskreis von „Heim/Herd/Kinderbetreuung“ nahezu gar nicht von den strukturellen Umbrüchen der Jahrhundertwende erfasst worden war, sondern daß bei den betroffenen Frauen sogar noch durch den traditionellen Nimbus „entsagungsvoller Selbstaufopferung der Familie zuliebe“ vor allem eine erhöhte Arbeitsbelastung bei vollständiger wirtschaftlicher Abhängigkeit festzustellen war.
Diese Erkenntnis wurde zur Geburtsstunde der 1. Welle des Feminismus, als gutsituiert Frauen in Wohlfahrtsorganisationen wahrnahmen, daß eine Veränderung der Lage ihrer weniger privilegierten Geschlechtsgenossinnen nur über eine gesamtgesellschaftliche Berechtigung und Teilhabe – alle Frauen betreffend – zu erreichen sein würde.
Es war die große Zeit der sg. „Suffragettenbewegung“, die ab 1903 über ein Vierteljahrhundert die Existenz und die Wahrnehmung weiblicher Belange und Bedürfnisse entschlossen und nachhaltig an die Öffentlichkeit brachte. Die daraus resultierende verstärkte Präsenz von Frauen an Universitäten und Regierungsinstitutionen, ihre vermehrte Würdigung als Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen und Künstlerinnen und ein daraus hervorgehendes, gesteigertes weibliches Bewußtsein, was sich in Politik, Spiritualität, Literatur und Forschung niederzuschlagen begann, war darum, wie ich eingangs sagte kein Zufall. Es war der Beginn der längst fälligen „Göttinnendämmerung“ (siehe dazu Teil 2 – Eintrag 48).
Die erste Welle des Feminismus endete mit zwei Weltkriegen, die ihrerseits auf verdrehte Weise und durch Not hervorgerufen – was berufliche Berechtigung und gesellschaftliche Bewegungsfreiheit anging – für Frauen weltweit zu einem deutlich vergrößerten Spielraum beitrugen.
Die restaurativ maskulinistische Gegenbewegung der darauffolgenden 50er Jahre des 20. Jahrhunderts (USA: Truman/Eisenhower-Ära; BRD: Adenauer-Zeit) kassierte jedoch anschließend zahlreiche dieser neu errungenen Freiheiten wieder – „Heim/Herd/Kinder“ wurden erneut als der „eigentliche Wirkungskreis“ der Frau proklamiert.

Diese Rückentwicklung löste maßgeblich die zweite Welle des Feminismus aus, welche dieses Mal allerdings auf eine breite Schicht ausreichend gebildeter Mitstreiterinnen in vielen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft aufbauen konnte. Dadurch entwickelte sich als Ausgangspunkt der zweiten Welle eine Herangehensweise, die zuvorderst auf die Schaffung einer gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung und eines aufzurüttelnden Problembewußtseins (Englisch: „Consciousness-raising“) gerichtet war. Diese „Bewußtseinsbildung“ löste in Folge wiederum eine erhöhte Wahrnehmung zahlreicher Mißstände hinsichtlich Berechtigung und Autonomie in den unterschiedlichsten Bereichen aus, so daß neben feministischen Belangen gleichzeitig Fragen der Bürgerrechte, von Rassenunterschieden, des Wettrüstens und internationaler Stellvertreterkonflikte (u. a. Vietnam, Palästina, Afghanistan) und ebenfalls der zunehmenden Umweltzerstörung in den Fokus rückten. Die „Bewußtseinsbildung“ berührte aber auch den individuellen Bereich, da in dieser Weise eine ganze Generation sich jetzt über den Begriff eines übergreifenden „Erwachens“ in intellektueller wie zugleich spiritueller Weise zu definieren begann.
Im Verbund mit verbesserten Kommunkationsmöglichkeiten erleichterte dies eine rasche solidarische Vernetzung verschiedenster Protestbewegungen und alternativkultureller Initiativen: Farbige Musikerinnen wie Aretha Franklin und Mahalia Jackson forderten Respekt und (Welt)Frieden, Künstlerinnen wie Yoko Ono oder Joan Baez prangerten soziale Mißstände an, „Neue Hexen“ und neopagane Priesterinnen wie Starhawk und Shekhinah Mountainwater blockierten kerntechnische Anlagen.
Zusätzlich zu diesen überpersönlichen Belangen geriet durch die Marktgenehmigung wirksamer medikamentöser Verhütungsmittel (Erstzulassung „Antibabypille“ USA 1960) ein weiteres weibliches Hauptanliegen zu einem der Kernthemen der „Zweiten Welle“, nämlich die Frage sexueller Autonomie. Obwohl das Augenmerk hier zuerst auf reproduktiver Selbstbestimmung lag, erweiterte sich dieses Thema sehr schnell zu einer Frage insgesamter sexueller Wahlfreiheit und Selbstgestaltung.
Durch die oben erwähnten übergreifenden Solidaritäts- und Vernetzungsmerkmale des Zweite-Welle-Feminismus begünstigt, griff diese Frage schon am Ende der 60er Jahre auf die bis dahin überwiegend in einen sozialen blinden Fleck verdrängte Queere und LGBT-Community über.
Nach meinem Verständnis war damit ein wichtiger (Zusatz)Effekt des Zweite-Welle-Feminismus, daß dadurch ab 1969 auch die LGBT-Bewegung ihren fälligen Prozess von Bewußtseinsbildung, Wahrnehmung, Berechtigung, gesamtgesellschaftlicher Teilhabe und Akzeptanz einleiten konnte (der, wie beim Feminismus selbst, bis heute noch nicht abgeschlossen ist).

Aus heutiger Sicht scheint es bizarr faszinierend, daß ausgerechnet das Eintreten für allumfassende sexuelle Autonomie den politischen Zweite-Welle-Feminismus im Sex War der 80er Jahre im Streit um die Einstellung der Bewegung zu Themen wie Sexpositivität, Pornographie, BDSM und der Rolle transsexueller Frauen beendete.
Die „Dritte Welle“ erhob sich ab 1990 somit aus der Erkenntnis, fürderhin konsequent Sexismen jeglicher Art entgegenzutreten.
Unterdessen hatten aber auch schon zahlreicher Menschen mit non-heteronormativen und non-monogamen Bedürfnissen und Hintergründen längst begonnen, aufgrund der Erfordernisse ihrer alltäglichen Lebenswirklichkeit, selbst nach lebbaren und lebensfähigen Umgehensweisen zu suchen.
Wer nun meinen Teil 3 – Eintrag 49 aufmerksam gelesen hat, kann leicht erkennen, daß „Polyamory“ in dieser Weise direkt ein Ergebnis einer solchen bedarfsorientierten Herangehensweise war – bezogen auf einen Bedarf, wie er zu der Zeit in neopaganen Kreisen bestand.
Dieser Bedarf, über rein sexuelle Autonomie hinaus zusätzlich noch über Unabhängigkeit und Gedankenfreiheit hinsichtlich der Ausgestaltung individueller Beziehungs(gestaltungs)konzepte zu verfügen, existierte allerdings nicht nur im alternativspirituellen Neuheidentum.
Auch die queere und die sexpositive Community (zu letzterer auch zunehmend die BDSM-Szene zählte) benötigte neue und progressive Beziehungsmuster, die einer promiskuitiven Sexualitätsauffassung Rechnung trugen.
Meiner Deutung nach ist die Beziehungsphilosophie der Polyamory mit ihrer eklektischen Herkunft (d.h. „bestehend aus Elementen unterschiedlicher Systeme“) aus alternativer Spiritualität, humanistischer Psychologie und integrativem Feminismus allerdings genau darum geeignet, auch in Teilen wesensverschiedenen Bedürfnislagen eine (Beziehungs)Gestaltungsgrundlage zu bieten:
Ein klassisches „Ménage à trois“ hat vermutlich anders gelagerte Anforderungen als eine BDSM-Spielbeziehung mit fünf Beteiligten oder ein egalitäres Netzwerk aus asexuell Liebenden.
Dennoch dreht es sich heute in jedem dieser Fälle noch immer um die selben Grundsätze, denen sich auch der Feminismus in allen seinen Phasen verpflichtet sah: Bewußtseinsbildung, daß ein Handlungssbedarf beseht; Wahrnehmung der Bedürfnisse der Betroffenen; ihre allseitige Berechtigung hinsichtlich selbstbestimmter Teilhabe und letztendlich uneingeschränkte Akzeptanz ihres so-Seins.

Und exakt in dieser Hinsicht empfinde ich „Polyamory“ (und damit natürlich auch meine eigene Konzeption der „Oligoamory“) als Beziehungsphilosophie nach wie vor als politisch – denn, wie ich schon oft genug betonte, ist „Oligoamory nicht etwas, das man macht, sondern etwas, das man IST “.
Und wenn der deutsche Politologe und Historiker Christian Graf von Krockow sagte, daß „Politik die stete Auseinandersetzung zwischen der Veränderung oder der Bewahrung bestehender Verhältnisse“ sei, dann haben mir die Gedanken und Lebensentwürfe von Kipling, Heinlein, Maslow, der Zell-Ravenhearts, der Suffragetten, der Blumenkindern, und die der Menschen im Stonewall bewiesen, daß Veränderung immer wieder notwendig – und Anpassung an diese Veränderung stets möglich ist.

Großes PS:
Von den Hexencoven des Wicca über die engagierten Gruppen des Feminismus bis hin zu queeren Aktivist*innen der LGBT-Bewegung und hinein in die Niederungen polyamorer Lebensweise: All diese Communities, Gemeinschaften und Initiativen scheinen in den USA freier zu atmen, sind liberaler, häufiger auf Kooperation angelegt – und insgesamt wirken sie von ihrer Einstellung deutlich inklusiver als hierzulande, mit einer Herangehensweise, die untereinander eher einer Auffassung von „Leben und Leben lassen“ entspricht, sowie der Denkweise „Dein xyz ist nicht exakt mein xyz – aber Dein xyz ist ok und mein xyz ist ok und wenn es drauf‘ ankommt sind wir schließlich eh alle im selben Boot“.
Warum ist dies in Deutschland oft so sehr anders, im Land der Laubenkolonien, Hausordnungen und Gartenzäune, wo stets vor allem so streitbar wie unerbittlich die Unterschiede und das Trennende betont werden, selbst wenn Gruppen dem Namen nach der selben Philosophie angehören?
Ich Oligotropos glaube, daß dieser Unterschied im Gebaren leider in der sehr verschiedenen Grundaufstellung der gesamtgesellschaftlichen wie auch der gesamtpolitischen Struktur der USA im Gegensatz zu Mitteleuropa (und insbesondere zur Bundesrepublik Deutschland) besteht.
In den USA war der Kampf unterprivilegierter Gruppen stets auf „Berechtigung und Teilhabe“ ausgerichtet, egal ob es sich dabei um People of Color, religiöse Bekenntnisse, Geschlecht, sexuelle bzw. gendergerechte Orientierung oder um die Form individueller Beziehungsgestaltung handelte. Dank der Unabhängigkeitserklärung von 1776 (!) mit ihrer Zusicherung von „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ (dt.: „Leben, Freiheit und dem Streben nach Zufriedenheit“) war die Hervorbringung grundsätzlicher Freiheit für Individuen und Gemeinschaften in den USA von der ersten Stunde an Programm und festgeschriebenes Recht (wenn auch lange Zeit zunächst nur für weiße Männer).
Diese Ausgangslage war im „alten Europa“ und insbesondere in den höchst obrigkeitsstaatlichen Systemen, welche die Vorläufergebilde der BRD darstellten, eine völlig andere. Als ab Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts erstmals umfassend in vielen Bereichen für eine gesellschaftliche Liberalisierung gestritten wurde, mußten die beteiligten Gruppen nicht nur für ihre Berechtigung und Teilhabe eintreten, sondern zur selben Zeit ebenfalls erst einmal einem über Jahrhunderte tradierten und immer noch in weiten Teilen patriarchal geführten wie auch autoritären Staat die einhergehenden Freiheitsrechte abgewinnen.
Dieses Klima eines von allen Beteiligten in Teilen aggressiv (z.B. APO / RAF) geführten Freiheitsprozesses führte zu einem Ellenbogendenken und einer kategorischen Durchsetzungsmentalität, dessen Erbe uns hierzulande bis heute in allen gesellschaftspolitischen Diskussionen mit ihrer teils erschreckend kaltherzigen und oft kompromisslosen Diktion bis hinein in die sozialen Netzwerke begleitet.

Ethische Mehrfachbeziehungsführung – wie die Poly- und Oligoamory – sind jedoch, wie ich nun in den vier Teilen meiner Serie gezeigt habe, ein Ergebnis eines über fast einhundertfünfzig Jahre zurückreichenden Entwicklungsweges von Multikulturalismus sowie zugleich sozialem Pluralismus.
Möchten doch diese beiden bunten Fahnen auch für unser Land – und damit für uns alle – auf lange Zeit zu einem Schmuck und einem Ansporn zu verstärkt solidarischem, integrativem und vor allem friedlichen Handeln geraten.



Danke an Wikimedia Commons für die Zurverfügungstellung einer Bearbeitung des Plakats „We can do it“ von J. Howard Miller (Creative Commons 4.0 Lizenz)

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