Eintrag 46

(Er)Kenne Dich selbst*

Neulich hörte ich in einem Gespräch zweier älterer Damen auf dem Wochenmarkt den Satz: „Na, wenn die beiden einander lieben, dann ist das doch schon mal ein guter Anfang…“
„Tja“, dachte ich so bei mir, „mit der Liebe ist das fast so eine Sache wie mit dem Huhn und dem Ei: Manchmal ist es schwer festzustellen, was Anfang, Mitte oder vielleicht schon Ende ist – und was wem vorhergeht oder zugrunde liegt…“
Da ich aber lieber auf meinem bLog philosophiere als auf dem Wochenmarkt, seid Ihr es, liebe Leser*innen, die ich hier dazu wieder in meine Gedankenwelt mitnehme:

Am Ende von Eintrag 14 zitierte ich die folgenden vier Sätze ¹ :
Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.


Ich würde diese Feststellungen gerne noch einmal genauer unter die oligoamore Lupe nehmen, da sie für mich sehr stark das enthalten, was die Grundlage einer stabilen Liebesbeziehung ausmacht.

Für insbesondere bemerkenswert halte ich die Formulierungen „eigene(s) Selbstverständnis“ und „Kernselbst“. Denn diese Begriffe heben hervor, daß stabile Intimität und Nähe nicht ohne eine grundlegende Selbstzurkenntnisnahme sowie eine überwiegende Akzeptanz seiner selbst möglich sind.
Die Schlußfolgerung scheint banal: Ist doch klar – wie soll ich anderen vertrauen, wenn ich mir selbst nicht vertraue?

„Absolut!“, stimme ich da als Reiseleiter auf dem entlegenen Eiland der Oligoamory zu. Exakt das ist der Grund, warum ich bei so vielen Gelegenheiten die »Lust zur Selbsterforschung« betone, ohne deren Basisarbeit jegliches Beziehungsgebäude, welches wir darauf zu errichten versuchen, ein eher wackeliges Erdgeschoss behalten wird. Bzw. genau genommen einen „wackeligen Keller“, der quasi ein buchstäbliches Symbol des Unbewußten mit seinen unsichtbaren Truhen unserer Ängste und Abwehrmechanismen ist (siehe auch Eintrag 35).
„Ängste und Abwehrmechanismen“ sind, was unsere Beziehungsfähigkeit angeht, die entscheidenden Stichwörter, denn unsere Liebsten könnten uns soviel Bestätigung, Rücksicht, Empathie und Zuneigung entgegenbringen wie sie wollten – nichts davon hätte einen nachhaltigen Wert für uns, wenn wir nicht zuallererst in der Lage sind, solche Empfindungen überhaupt anzunehmen.
Wenn wir uns unserer eigenen Beweggründe nicht ausreichend klar sind (z.B. weil wir bisher davor ausgewichen sind, sie eingehend zu reflektieren) oder wenn wir mehr oder weniger bewußte Unaufrichtigkeiten als Teil unseres Beziehungsmanagements aufrechtzuerhalten versuchen, werden schon allein Selbstschutzgründe allzu weitgehende Einlassungstiefe in eine Beziehung verhindern. Denn wenn wir nicht geradewegs narzisstische Persönlichkeitsmerkmale haben (die häufig mit pathologischer Empathieunfähigkeit einhergeht), gäbe es dadurch immer einen Teil in uns, der im Wissen um unser inkohärentes Verhalten die allertiefste soziale Angst nähren würde: Daß wir es eigentlich (doch) nicht wert sind.

Wenn wir in dieser Art irgendwo in unserem tiefsten Inneren selbst glauben, „daß wir es nicht wert sind“, dann ergibt sich daraus ein Problem, Zitat: „wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben“. Demzufolge das (nicht-)Erleben unsere „Wahrnehmung“ beeinflusst. Und wenn unsere Wahrnehmung aufgrund von unvollständigem Selbstwert Mängel aufweist, dann werden wir, was „Liebe und Zuneigung“ von unseren Liebsten angeht – trotz deren bestem Ansinnen – statt Sicherheit und Fülle immer nur Unsicherheit und Mangel empfinden.
Und Unsicherheit begründet genau den von mir in Eintrag 42 beschriebenen, durch Stress aufrechterhaltenden Alarmzustand des „auf dem Sprung Seins“.

Der Volksmund sagt ja bereits: „Man muß auch die Fähigkeit haben, mal ein Kompliment annehmen zu können.“ In unseren Liebesbeziehungen geht dieses „Annehmen-Können“ weit über bloße Komplimente hinaus. „Annehmen-Können“ ist dort nämlich die Grundvoraussetzung für Akzeptanz und integratives Verhalten (z.B. Eintrag 33). Also größtmögliche Akzeptanz und Integration unserer eigenen Liebsten und in zweiter Linie eventuell wiederum deren Liebsten.
Ist aber bereits unsere Fähigkeit sowohl zur Selbst-Annahme als auch zum „Annehmen-Können“ noch geschwächt, dann leben wir sehr nahe an dem Reflex, bei potentiell auftretenden Schwierigkeiten sofort weitmöglichst von uns weg zu zeigen – und damit eventuelle „Schuld“ (also „Ursächlichkeit“!) immer den anderen Beteiligten zuzuordnen.

[An dieser Stell ist es mir wichtig, hier kurz auf die gesellschaftspolitische Dimension von guter Beziehungsführung hinzuweisen. Denn noch funktionieren die allermeisten soziopolitischen Modelle (Staaten, Kommunen, Familien, etc.) weitestgehend aufgrund dem Prinzip einer „Schuldgemeinschaft“.
Mit sich selbst also zuvorderst für „Klar Schiff“ zu sorgen, ist in dieser Hinsicht damit sogar ein Beitrag zu einer friedlicheren Welt.
Sind Menschen in ethischer Non-Monogamie, wie Poly- oder Oligoamory darum also „entwickelter“ als Leute in monogamen Beziehungen? Nein, das glaube ich nicht, gerade weil das Maß für „Beziehungsfähigkeit“, wie ich hier skizziere, an der Wurzel nicht eine Frage des gewählten Beziehungsmodells, sondern der Reflektionsfähigkeit des Individuums ist.
Da Monogamie die anerkannte Hauptbeziehungsform des derzeitigen Systems (mit seiner Mentalität der „Schuldgemeinschaft“) ist, mag es dort höchstens bislang „einfacher“ sein, Mißstände leichter zu ignorieren bzw. „jemand anderem“ anzuhängen.]

„Selbstzurkenntnisnahme“ ist auf diese Weise also auch ein wesentlicher Bestandteil des „Selbstvertrauens“. Wesentlich – um den Satz von oben noch einmal umzukehren – denn wenn ich mir selbst nicht vertraue, dann kann ich (auch) den anderen nicht vertrauen.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel nannte „Vertrauen“ einmal den „mittleren Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“, also gewissermaßen eine „Hypothese künftigen Verhaltens“ betreffend. Diese müsse sicher genug sein, um „praktisches Handeln darauf zu gründen.“ ²
Was unsere (Liebes)Beziehungen angeht, empfinde ich das als eine ganz ausgezeichnete Beschreibung. Wir Menschen „vertrauen“ im Alltag nämlich überraschend häufig zahllosen Umständen, die wir als „sicher genug“ erachten: Wir steuern Gefährte durch die Gegend, die zu Geschwindigkeiten weit jenseits von 100 km/h fähig sind, oder wir setzen uns rückwärts auf Stühle, die wir in diesem Moment gar nicht mehr sehen können (!) – felsenfest von der Tasche überzeugt, daß diese doch exakt da sein werden, in dem Moment, in dem unsere Hinterteile sich in Höhe der imaginierten Sitzfläche befinden…
Grundsätzlich also scheinen bestimmte Arten von „Vertrauen“ gewissermaßen doch zur zweiten Natur des Menschen zu gehören, ohne welches weitgehende Prozesse des Alltags unmöglich oder wenigstens sehr umständlich geraten würden.

Das gegenseitige Vertrauen, was wir für stabile Liebesbeziehungen benötigen, ist nun aber tatsächlich etwas komplexer als, jenes, welches wir benötigen, um uns auf einen Stuhl zu setzen oder ein Auto zu steuern. Diese beiden Vorgänge sind eher einem situations- bzw. eigenschaftsbasierten Vertrauen zuzuordnen: Wir haben z.B. gelernt, daß Stühle sich normalerweise nicht heimlich von der Stelle bewegen, wenn unbeobachtet (Achtung Ausnahme: Sitzbälle!) oder wir wissen, daß Autos auch bei hoher Geschwindigkeit in Kurven spurtreu und haltbar sind, wenn sie regelmäßig gewartet werden.
Unter Menschen benötigen wir jedoch ein „identifikationsbasiertes Vertrauen“, welches gemäß dem US-amerikanischen Philosophen David Kelley aus den Komponenten Offenheit/Kommunikation, Empathie, Gemeinschaft und Sympathie besteht ³.

Wenn ich mich für gegenseitiges Vertrauen aber mit den anderen Beteiligten mittels Kommunikation, Empathie und Sympathie in Gemeinschaft „identifizieren“ (was aus dem Lateinischen wörtlich übersetzt „gleichsetzen“ heißt!) soll, dann bedeutet das, daß ich zuerst mir selbst gegenüber sehr freundlich gesonnen sein muß.
Denn um bei unserem Beispiel mit dem Stuhl zu bleiben: Ich kann mich doch nur dann zuversichtlich „fallen lassen“, wenn ich mich, ohne Kontrolle aufzuwenden, darauf verlassen kann, daß auch die anderen „mir freundlich gesonnen“ – meine „Freunde“ – sind.

Womit wir auch in diesem Eintrag nicht um den Autor Saint-Exupéry und seinen „Kleinen Prinzen“ herumkommen werden: Wenn die Psychologen Cohen, Underwood und Gottlieb in ihrem Eingangszitat schrieben, daß wir für das Erleben von Intimität und Nähe das Gefühl von Verständnis, Bestätigung und Rücksicht benötigen, dann kommt unweigerlich der Faktor „Zeit“ ins Spiel. Zeit für das, was „Saint-Exupéry Zähmung nannte.
Das Buch „Der Kleine Prinz“ ist nun meiner Ansicht nach genau deshalb so merkwürdig anrührend und gleichzeitig so verstörend kompliziert, weil diese „Zähmung“ immer zwei Bestandteile hat:
Zum einen die offensichtliche, langsame Annäherung und das Kennenlernen der Hauptbeteiligten in der potentiell zustande kommenden Beziehung.
Zum anderen aber auch die „Heldenreise“, die jeder Mensch allein mit sich selbst bewältigen muß, um eigene Stärken und Schwächen zu erkunden (siehe auch Eintrag 18).

Womit sich für mich der Kreis zum „eigenen Selbstverständnis“, sowie zu „Bewußtheit und Wertschätzung für das Kernselbst“ schließt:
Wahres Vertrauen ist (erst) dann entstanden, wenn ich wahrnehme, daß die anderen mich als die Person, als die Identität, wertschätzen, als die auch ich mich respektiere.
Und in diesem Moment wären wir auch wieder bei der wohltuenden Kohärenz (=Sinnzusammenhang/ Folgerichtigkeit) von innerem und äußerem Erleben angekommen, die unsere Gehirne als den erstrebenswertesten Zustand erachten (siehe auch Eintrag 21).
Kohärenz jedenfalls, die wiederum allen unserer übrigen Beziehungskompetenzen als Kompaß dienen kann, wodurch wir besser an einem gemeinsamen Gleichgewicht von allseitigem Wohlergehen und persönlicher Zufriedenheit mitwirken können.

Ob das dann (schon) Liebe ist? Das müßt ihr da draußen entscheiden.
Für mich jedenfalls ist es weit mehr als nur ein guter Anfang.



* Selbsterkenntnis (Wikipedia)

¹ S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“ – A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000

² Georg Simmel, Soziologie (1908); Gesamtausgabe, hrg. von O. Rammstedt, Bd. 11, 1992

³ David Kelley, Unrugged Individualism: The Selfish Basis of Benevolence, The Objectivist Center, 1996

Danke an Kristopher Roller auf Unsplash für das Foto.

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