Eintrag 37 #Transparenz

Glasklar

Gerade erst habe ich mich in Eintrag 35 mit dem „richtigen Zeitpunkt“ beschäftigt, „wann“ bestehenden Partner*innen und Liebsten von dem potentiellen Aufblühen einer neuen Liebe berichtet werden sollte. In diesem Eintrag möchte ich diese Frage mit der wichtigen Idee der „Transparenz“ ergänzen.
„Transparenz“ gehört bereits zu den Grundbegriffen, die in der Polyamory häufig genannt werden (siehe hier); ein Grundwert der Oligoamory – den ich schon in Eintrag 3 benenne – ist sie auf jeden Fall.

„Transparenz“ ist ein etwas eckiges Wort, was einem außerhalb der ethischen Nicht-Monogamie im Kontext von Beziehungsführung eher selten begegnet. Transparenz – das kennt man eigentlich besser aus politischen Zusammenhängen, aus dem Finanzsektor oder dem behördlichen Arbeiten. Aber eben auch in den dortigen Bereichen, so sagt Wikipedia, bedeutet Transparenzein für erstrebenswert gehaltener Zustand frei zugänglicher Informationen und stetiger Rechenschaft über Abläufe, Sachverhalte, Vorhaben und Entscheidungsprozesse“.
Transparenz“, die gibt es aber auch im Lexikon der Psychologie, wo es heißt: „unmittelbares und ehrliches Zeigen eigener innerer Stimmungen sowie Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit verbaler Mitteilungen. Transparenz hat eine große, das soziale Zusammenleben regulierende Bedeutung. Sie hilft, Vertrauen zu bilden, Mitmenschen besser einzuschätzen, Bindungen zu stiften und zu festigen und gemeinsame Aktivitäten zu synchronisieren.“

Womit ich als Autor also sagen will: Ohne Transparenz ist eine um allseitige Aufrichtigkeit und Informiertheit bemühte Beziehungsbildung und -führung schwer vorstellbar.
Denn was ist denn die Aufgabe, genauer: die Funktion von Transparenz in einer Mehrfachbeziehung?
Die Autoren des Buches „More Than Two – A Practical Guide to Ethical Polyamory“ (2014), Franklin Veaux und Eve Rickert schreiben dazu in ihrer „Beziehungs-Grundrechteerklärung“, daß darin drei Ideen miteinander verknüpf seien, die für ethische Mehrfachbeziehungen fundamental seien – Einverständnis, Aufrichtigkeit und Handlungsfähigkeit; in ihren Worten:
Beim Einverständnis geht es um dich: Um deinen Körper, deinen Geist, deine Entscheidungen. Dein Einverständnis ist erforderlich, um zu dem Zugang zu erhalten was dir gehört. Die Menschen um dich herum haben Handlungsfähigkeit: Sie brauchen nicht dein Einverständnis, um zu handeln, denn du besitzt ja nicht ihre Körper, Geister oder Entscheidungen. Wenn jedoch ihr Verhalten sich mit deinem persönlichen Raum überkreuzt, dann benötigen sie dein Einverständnis.[…]
Aufrichtigkeit ist darum ein unentbehrlicher Teil jedes Einverständnisses. Denn du musst deinen Partner*innen die Möglichkeit zu informierten Entscheidungen geben, um mit dir in einer Beziehung zu sein. Wenn du lügst oder ausschlaggebende Informationen zurückhältst, dann nimmst du deinen Partner*innen die Möglichkeit zu echtem Einverständnis mit der Beziehung. […] Du solltest [auf diese Weise] niemanden zwingen, eine Entscheidung so zu treffen, wie du es willst; denn wenn du lügst oder wichtige Informationen zurückhältst, dann verweigerst du ihnen ihre Berechtigung zu wissen, daß sie eine Entscheidung hätten treffen können. Was also auch sg. „Auslassungslügen“ beinhaltet, denn eine „Auslassung“ liegt vor, wenn Information verborgen werden soll, die, wenn sie der anderen Partei bekannt gewesen wäre, für sie relevante Information enthalten hätte.
Handlungsfähigkeit ist daher ebenfalls mit Einverständnis verknüpft. […] Wir fordern euch auf, eure Partner*innen zu achten und euch selbst zu fragen, ob ihr ihre Freiheit der Wahl respektiert – selbst auf die Gefahr hin, daß ihre Entscheidungen euch wehtun könnten, selbst wenn sie sich für etwas entscheiden, was ihr selber nicht wählen würdet – denn es gibt auch kein echtes Einverständnis, wenn wir diese Freiheit der Wahl nicht haben.
Menschen zu ermächtigen, ihre eigenen Entscheidungen zu fällen, ist indessen der beste Weg, auch die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Denn Menschen, die sich machtlos fühlen, können unberechenbar werden. Wenn wir aber unsere Bedürfnisse kommunizieren, und andere befähigen, daß sie dazu beitragen können, dann wird das in jedem Fall erfolgreicher sein als der Versuch, sie mit Informationsbeschränkung oder Zwang dazu zu bewegen
.“

Im oligoamoren Sinne hat „Transparenz“ damit immer zwei Dimensionen:

Zum einen den potentiell neu dazukommenden Liebsten gegenüber. Obwohl insbesondere in polyamoren Kreisen viel von „Erwartungsfreiheit“ die Rede ist (siehe Eintrag 2), sollten wir hier sehr realistisch und wirklich selbstehrlich sein: Selbstverständlich gibt es in uns allen gute persönliche Gründe, warum wir z.B. aktuell daten, gerne mehr bzw. neue Leute und Lieben in unserem Leben haben möchten – selbst wenn wir gerade „nur“ an einem Punkt in unserem Leben sind, wo wir das Gefühl haben, über die Kapazität zu verfügen, uns auf eine neue Beziehung einlassen zu können… Und auch was das „wie“ angeht, wäre es unredlich, wenn wir versuchen, mit „alles kann, nix muß“ zu operieren: Fast alle erwachsenen Menschen sind irgendwo in zumindest zeitliche Verpflichtungen, wie Arbeit, bestehende Beziehungen, Familie etc. eingebunden, was uns sehr selten „gänzlich frei“ in der Gestaltung weiterer, hinzukommender Beziehungen macht.
Gerade die „neuen Lieben“ sind also demgegenüber gemäß Veaux und Rickert in den Stand gleichberechtigter „informierter Entscheidungsfindung“ zu versetzen: Können und wollen sie sich mit dem „Gegebenen“ arrangieren? Ist der „weite Platz“ den wir ihnen aus unserer Sicht in unserem Herzen anbieten, aus ihrer Perspektive definitiv mehr als eine Nische im Gedränge?

Zum anderen sind da aber auch die lieben Menschen in unseren existierenden Bestandsbeziehungen. Und da diese schon jetzt bedeutende Strecken unseres Lebens teilen und dadurch mitgestalten, gehören diese damit bereits zu unserem persönlichen Dreiklang aus „Einverständnis, Aufrichtigkeit und Handlungsfähigkeit“ Wer jetzt nicht „Aber klar!“ sagt, der hat entweder schon eine dramatische Baustelle in seinen Bestandsbeziehungen oder eine höchst spektakuläre Auffassung seiner persönlichen Integrität. Denn: Transparenz, wie ich sie hier formuliere, ist auf die bestehenden Beziehungen übertragen ein Merkmal dafür, ob wir uns (überhaupt) wirklich mit unseren Bestandsbeziehungen identifizieren – also: Diese als Teil von uns und unserem Leben angenommen haben.
Und an dieser Stelle kommen wir zu der so oft umstrittenen „Treue in Mehrfachbeziehungen“. Wenn unsere Identifikation mit den von uns angenommenen Beziehungen und den damit übernommenen Verbindlichkeiten intakt ist, dann sind wir treu. Und zwar genau, wie auch Wikipedia es formuliert: „Treue (mhd. triūwe, Nominalisierung des Verbs trūwen „fest sein, sicher sein, vertrauen, hoffen, glauben, wagen“) ist eine Tugend, welche die Verlässlichkeit eines Akteurs gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder einer Sache ausdrückt. Im Idealfall basiert sie auf gegenseitigem Vertrauen beziehungsweise Loyalität.“ Und das Vorhandensein von Vertrauen sowie Loyalität bildet buchstäblich das Grundgestein, mit dem jede menschliche Beziehung steht oder fällt.

Transparenz wirkt auf diese Weise immer als Signal in zwei Richtungen:
Auch ohne einen bisher gemeinschaftlich gesammelten Vertrauensschatz kann ich einer neu hinzukommenden Person zumindest zu erkennen geben, daß ich es nach besten Kräften mit meinem Wertesystem in alle Richtungen ernst meine. Fragen hinsichtlich meiner Motivationen können mich dann möglicherweise immer noch verunsichern (denn nackte Selbstehrlichkeit ist etwas, was wir gesellschaftlich nicht unbedingt aus dem Alltag gewohnt sind) – aber sie können mich nicht mehr vollkommen aus der Bahn werfen, da es keine traditionellen „Kellerleichen“ mehr gibt, die bei unpassender Gelegenheit ein plötzlich völlig anderes Bild von mir enthüllen werden, als ich nach außen vorgespielt habe. Und auch wenn die potentielle Verbindung dann am Ende (doch) nicht zustande kommt, habe ich mich zu jeder Zeit auf ethisch sicherem Boden befunden: Nicht ich habe versucht eine hübsche Fassade zu verkaufen, sondern die andere Person hat sich frei aus ihren ureigenen guten Gründen für oder gegen mich entschieden.
Für meine Bestandspartner*innen demonstriere ich mit meinem transparentem Verhalten, daß ich eine „sichere Bank“ bin und ergänze damit den hier bestehenden Vertrauensschatz. Denn meine charakterliche Prägung mag wandelbar sein, aber sie ist nicht beliebig: Meine Integrität, meine „aufrechterhaltene Übereinstimmung meines persönlichen Wertesystems und der persönlichen Ideale mit meinem Reden und Handeln“ bleibt für mein direktes Umfeld nachvollziehbar. Und dies bedeutet, daß ich für meine bestehenden Lieblingsmenschen zugänglich bleibe, daß auch sie weiter mit ihrem Einverständnis, ihrer Aufrichtigkeit und Handlungsfähigkeit in einem gestaltbaren Dialog mit mir stehen. Was nicht weniger bedeutet, als daß unser vereinbarter Emotionalvertrag eben auf Augenhöhe ist.

Eindrucksvoll, was die Konsequenzen von Transparenz betrifft – und darum von meiner Seite empfehlenswert – ist der Film „Thanks for Sharing – Süchtig nach Sex“ (2012) mit Gwyneth Paltrow und Mark Ruffalo in den Hauptrollen als die Charaktere „Phoebe“ und „Adam“.
Der Film handelt nämlich von jeweils einer Frau und einem Mann, die beide für sich ein Merkmal haben, welches eventuell für andere Menschen problematisch sein könnte: Phoebe ist eine als geheilt geltende Brustkrebspatientin, Mark wiederum hat gerade 5 Jahre erfolgreich seine Sexsucht per Gruppentherapie (analog Anonyme Alkoholiker) in den Griff bekommen. Letzteres ist daher auch für Mark der Grund, sich wieder mutig der Möglichkeit einer neuen Beziehungsaufnahme zu stellen, und alsbald hat er auch ein vielversprechendes erstes Date – eben mit Phoebe.
Als die Hauptcharaktere „Phoebe“ und „Adam“ zum ersten Mal aufeinander treffen, kommt es zu der für mich bemerkenswerten Szene:
Kaum haben sich die beiden begrüßt (und eine optische Sympathie ist recht offensichtlich), erzählt Phoebe als allererste Information über sich rundheraus ihre Brustkrebsproblematik. Dabei gibt sie zu, daß sie zwar als „Überlebende“ und als geheilt gelte, sie aber wüßte, daß für manche Menschen wegen einer statistischen Rückfallwahrscheinlichkeit doch in so einem Fall ein Problem bestehen könnte, weshalb sie diese Auskunft über sich lieber gleich am Anfang deutlich machen wolle. Mark Ruffalo spielt den „Adam“ in dieser Szene in einer gelungenen Mischung aus Überraschung und Mitgefühl. Und selbst als Zuschauer*in ist man in dieser Szene von einer seltsamen Mischung aus Perplexität, Überfahren-Sein und Verwunderung erfüllt: War das jetzt in dieser Art so spontan – und wahrlich sehr unumwunden – nötig? Man kann in der Filmszene beinahe im Gesicht von Mark Ruffalo lesen, wie der Charakter Adam scheinbar kurz eine beschwichtigende gesellschaftliche Floskel erwägt á la „Ach, Brustkrebs, das haben wir doch irgendwie alle…“, er dann aber tatsächlich erfasst, was Phoebe gerade wirklich gesagt hat – und er schafft es rechtzeitig noch, die Kurve zu kriegen, ernsthaft und verständnisvoll zu bleiben, sowie zu demonstrieren, daß er mit dieser Tatsache keine Schwierigkeiten hat.
Bei den Zuschauer*innen wirkt das „Das war jetzt aber außerordentlich selbstehrlich…-Gefühl“ gerade noch nach, während Phoebe nun erleichtert weiterspricht. „Na, los Adam“, denken wir Zuschauer*innen, „sie hat ihre Karten aufgedeckt, jetzt trau‘ dich auch – sie kann wohl damit umgehen, hat doch selber »Gebrauchsspuren«!“ Der Adam-Charakter ringt auch sichtlich für wenige Sekunden mit diesem guten Vorsatz, als Phoebe plötzlich auf ihren Bruder zu sprechen kommt, der Alkoholiker ist, weshalb sie niemals mit jemandem in irgendeinem Suchtkontext eine Beziehung führen wollte… AU! Natürlich wäre gerade jetzt noch ein letztes Mal der Moment für schmerzhafte Transparenz und den Mut zur Wahrheit beim Mark-Charakter gekommen (womit sich Mark ja Phoebe hätte trotzdem anvertrauen können, um 1. zu sehen ob anfängliche Sympathie über ihre alte Ressentiments siegen könnte und um 2. zu demonstrieren, daß er ja, wie Phoebe selbst, als „geheilt“ gilt…) – aber natürlich sind wir im Hollywood-Kino (welches ja manchmal doch auf’s echte Leben schaut): Mark schweigt, teils etwas überfahren, teils nun verunsichert – und ist so froh, endlich wieder ein Date zu haben, daß er ein wichtiges Detail seiner Persönlichkeit darin lieber nicht zur Sprache bringt. Das Drama, daß sich später draus ergibt, bildet den dann folgenden Film…

(Und darum gilt in der Oligoamory, wie in Eintrag 35, natürlich auch für die Transparenz: „zeitnah“ heißt „sofort“, bzw. „100% von Anfang an“. Ermächtigt Euch!)



Danke an Michael Fenton auf Unsplash für das Foto.

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