„Das war doch gar nichts…“
Meine Lieblingsmenschen und ich teilen zahlreiche Beziehungswerte, die aus der Polyamory hervorgegangen sind – und die selbstverständlich auch für die Oligoamory gelten.
Ich habe sogar einen eigenen Eintrag zu Beginn dieses bLogs dazu verfaßt: So haben wir u.a. Verantwortlichkeit für unser Handeln, Verantwortung für unsere Gesamtbeziehung, Verbindlichkeit hinsichtlich der Anerkennung unserer Werte, Integrität, Verläßlichkeit, Konsens, Gleichberechtigung, Transparenz, Aufrichtigkeit, Loyalität in – und Identifikation mit unserem Beziehungsmodell verabredet.
Insbesondere für meine Nesting¹-Partnerschaft sind diese Kernbereiche wichtig, alle unsere Absprachen – aber vor allem unsere gemeinsame Sicht, wie wir uns ein Leben in Mehrfachbeziehung vorstellen, beruhen darauf.
Die oben aufgezählten Werte, die auch in meinem Eintrag „Der Stein der Oligoamoren“ scheinbar recht gewichtig daherkommen, spielen hingegen in unserem Alltag keine ständig im Vordergrund befindliche Rolle. Sie bilden vielmehr das unsichtbare Gerüst unseres gemeinsamen „Emotional-Vertrags“ – also unsere „Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“
Und auch dieser „Vertrag“ ist nichts, was bei uns in irgendeinem Aktenordner in mehrfacher Ausführung unterschrieben abgeheftet ist – es ist vielmehr das aus vielen abgleichenden Gesprächen und Erlebnissen gewonnenes Bekenntnis für unser Zusammenleben – und auch ein bißchen unsere Blaupause und Vision für unser Herangehen an und Agieren in Mehrfachbeziehungen.
Eine Verständigung auf bestimmte Werte und ebenfalls ein sich daraus ergebender „Emotionalvertrag“ sind so etwas wie ein Geländer, welches hoffentlich haltgebend ist, wenn Mensch sich daran entlangtastet – was ja speziell in Situationen wichtig ist, die nicht alltäglich, gewohnt oder vertraut sind.
Und zu diesen Situationen zählen in Mehrfachbeziehung z.B. die, in denen ein neuer Mensch dazukommt.
Die Beziehungsanteilshaber*innen, die sich gerade neu verlieben, haben zu Beginn oft den Kopf in den Wolken – die „Bestandspartner*innen“, die dieses Geschehen aus der 2. Reihe miterleben, möchten wiederum aus recht nachvollziehbaren Gründen wissen, welchen Status dieses erste „Anbandeln“ denn nun gerade hat: Ist das lediglich ein Flirt – oder der Auftakt dazu, daß demnächst ein ganzer neuer Lieblingsmensch zum Beziehungsnetzwerk hinzukommen wird? Und sind da bloß erst Sternchen in den Augen – oder wird schon ein Einzug an Tisch und Bett diskutiert?
Auf manche Leser*innen mag die formulierte Bandbreite vielleicht übertrieben klingen – gleichzeitig bildet sie recht zutreffend das mögliche Spektrum an Entwicklungen ab, wenn Liebesbeziehungen für mehr als nur eine Partnerschaft offen sind.
Wodurch den oben erwähnten gemeinschaftlichen Absprachen und Werten also doch ein gewisses Gewicht zukommt.
Schluß mit der Theorie – und her mit einem sehr persönlichen Beispiel:
Ich lernte Annika kennen, die ein ziemlicher Wirbelwind war, vielleicht in punkto Bedürftigkeit ein wenig ein kleinerer Zyklon.
Was Sexualität angeht mag ich es nämlich z.B. lieber langsam. Alle meinen erfolgreichen, langjährigen Beziehungen hatten mit einer eher allmählichen Einlassung auf dieses Thema begonnen, von einem ausgedehnten persönlichen Kennenlernen über vorsichtiges Herantasten an das Zulassen ausgetauschter Zärtlichkeit bis hin zu irgendwann geteilter, wirklicher Sexualität nach Wochen.
Äh, Moment.
„Wirkliche Sexualität“…, was ist denn „wirkliche Sexualität“?
Ist das wichtig?
Doch, ich denke schon, das das wichtig ist – gerade in Hinsicht auf unsere übrigen Lieblingsmenschen. Denn geteilte Sexualität ist sicherlich in mehrfacher Hinsicht ein einigermaßen relevanter Vertrautheits-Marker, dessen Bedeutung in Mehrfachbeziehungen in zwei Richtungen weist:
Zum einen natürlich für die beiden Personen, die Sexualität – in welcher Form auch immer – konkret miteinander teilen. Offensichtlich haben ja die beiden Personen entschieden, daß sie diesen Bereich intimen zwischenmenschlichen Austauschs nun in ihrer Beziehung haben – und (er)leben! – wollen.
Zum anderen für alle anderen Lieblingsmenschen und Partner*innen im Polykül; nämlich mit dem Signal, daß neben der notwendigen Vertrautheit hier nun eine konkrete, physisch intime Verbindung erwachsen ist, die neben einer eindeutigen Vertiefung der Ebene, was die Art der liebenden Verbindung angeht, auch im Zweifel gesundheitliche und sogar rechtliche Auswirkungen auf alle anhängig Beteiligten haben kann.
[Ok, ich weiß, es gibt Menschen, die geteilter Sexualität keine so große Bedeutung beimessen – aber Mensch mag es drehen und wenden – im Hinblick auf erweiterte Sexualität in einer Beziehung, die aus mehr als nur zwei Personen besteht, ist eine Ausdehnung des sexuellen Betätigungsfeldes doch in jedem Fall in ihren Konsequenzen verhältnismäßig konkret.]
Also gut, was ist denn nun „wirkliche Sexualität“?
In ihrem Polyamory-Ratgeber „More Than Two“ ² legen die Autoren Eve Rickert und Franklin Veaux nahe, in Mehrfachbeziehungskontexten eher mit einer sehr weiten Begriffsbestimmung zu arbeiten, da ein enormes Potenzial für Unfrieden oder Verletzungen bestünden, wenn zwischen Menschen die Definitionen von „Sex“ nicht übereinstimmten. Im Zweifel sei „Sex“ also eigentlich alles, was in das Feld Küssen, Knutschen, Streicheln mit oder ohne Kleidung, Rummachen, Austausch sexueller Fantasien, Text- oder Cybersex, Telefonsex, erotische Massage, Masturbation im selben Raum, gegenseitige Masturbation, Oralsex, Analsex, bis hin zum konkreten Kontakt von Geschlechtsorganen fällt.
„Oligotropos, das ist ja eine ziemlich rigide Herangehensweise – und was hat das jetzt mit Annika und deinem persönlichen Beispiel zu tun?“
Ok – Annika also…, …hatte, als sie mich kennenlernte, ihrerseits schon einen längeren Zeitraum keinen Sex mehr gehabt (das fand ich aber erst später heraus).
Nach dem ersten Treffen küssten wir uns, merkten, daß da Potential für mehr war; ich freute mich auf diese Reise (von der ich annahm, sie würde meinem üblichen Script folgen…) und berichtete nach dem Treffen transparent meiner Nestingpartnerin von meinen Fortschritten.
Meine Nestingpartnerin kannte mich gut und sagte dazu ok, nur wolle sie gerne über weitere Schritte auf dieser „sexuellen Reise“ informiert werden, damit sie wüßte, wie weit unsere neue Beziehung gediehen wäre.
So weit so gut…
Schon beim zweiten Treffen gruben sich Annikas Hände aber bereits tief in meine Hose, was mich ziemlich überrumpelte (und gar nicht scriptgemäß war…) und ich befand mich schon bald mehr in der Waagerechten unter ihren Schenkeln auf dem Sofa, neben dem ich eben noch den Tee kredenzt hatte, –wohingegen Annika emsig ihre Erkundungen fortsetzte und auch mit Körperkontakt nicht sparte.
Ich fand das alles etwas abrupt, etwas zu schnell – aber ein Teil von mir genoss es nichtsdestoweniger – aber nach dem Treffen war mir das alles etwas peinlich, nicht zuletzt vor mir selbst.
Mein Kopf fand das alles „nicht richtig“ – schaffte es aber auch nicht so recht, den Mund dazu einzuschalten – und überhaupt war ja „gar nicht wirklich etwas passiert“, speziell, weil ich es nicht so richtig schön und entspannt gefunden hatte, wie ich es mir von einem gemütlichen Kennenlernen gewünscht hätte.
Beim nächsten Treffen mit Annika war diese aus ihrer Sicht gut vorbereitet, denn sie trug lediglich noch ein einteiliges Kleid und Schuhe. Nach gar nicht so langer Zeit war davon beim dritten Treffen das meiste ausreichend wegarrangiert und Annika mit ihren Auswickelkünsten auch bei mir tüchtig fortgeschritten, währen sie schon an der Sofakante erwartungsfroh zwischen meinen Beinen hockte…
Ich blende hier mal aus, um die Jugendfreiheit dieses bLogs noch einigermaßen zu gewährleisten. Und gebe zu, daß ich einen Teil freiwillig-unfreiwilliger Mittäterschaft in mir trug, der zu dem begierig-lustvollen Streben der Annika schlicht deswegen beitrug, weil es mir so eine Freude machte, sie bei ihrem Freudengewinn mitzuerleben.
Aber mein Geist stand mit hochgeschlagenem Kragen währenddessen irgendwo auf einer windigen Brücke im Nieselregen und dachte nur: „…so wollte ich das aber nicht – das ist gar nicht richtig, so ist das hopplahopp und belanglos…“
Und weil es für mich wiedereinmal irgendwie peinlich war – allein weil ich zum zweiten Mal gewissermaßen überfahren wurde und ich über meine eigene persönliche (Wohlfühl-)Grenze hinausging – und für mich Sexualität in diesem Sofakanten-Format unbequem, unzulänglich und gewissermaßen – konkret wie übertragen – unwirksam war, erging es mir danach wie einem gewissen US-amerikanischen Präsidenten 1998, als er vor der Weltöffentlichkeit sagte: „Ich hatte keine sexuelle Beziehung zu dieser Frau.“ (Original: “I did not have sexual relations with that woman“). Und so hielt ich es dann auch vor mir – und leider auch mit dieser Selbsteinschätzung in meiner Kommunikation.
Als mein Lieblings- und Nestingmensch nicht so viel später dann natürlich doch herausfand, was da in der guten Stube wirklich alles abgelaufen war, war sie selbstverständlich – und zu Recht – extrem vor den Kopf geschlagen, von mir enttäuscht und verletzt.
Und es kam zu einem Streit, bei dem ich selbst aber nach sehr kurzer Zeit feststellen mußte, daß ich zu meiner Rechtfertigung quasi nichts auf der Hand hatte.
Im Gegenteil. Ich erkannte bestürzt, daß ich unsere eingangs erwähnten Beziehungswerte und Übereinkommen – zum einen aufgrund einer leicht durchschaubaren kognitiven Verzerrung und zum anderen wegen der als allgemeingültigen Maßstab vorgezogenen Art meiner eigenen Auffassung der Lage – so ziemlich komplett ignoriert hatte.
Die kognitive Verzerrung ist schnell erklärt: Es handelt sich um ein Phänomen, welches im englischsprachigen Raum als „Shifting Baselines“ (etwa: „Verschiebung der Ausgangsposition“) bekannt ist. Am besten ist es mit dem Beispiel eines Kindes mit dem Bonbon-Glas illustriert: Ein Kind liebt Süßigkeiten – und in der Küche im Schrank befindet sich ein am Montag gefülltes Glas mit Bonbons. Das Kind nimmt sich jeden Tag ein paar Bonbons heraus – und zwar, wie es selbst meint, sehr geschickt und immer nur wenige, so daß der Füllstand im Bonbon-Glas sich nahezu nicht verändert. Dies tut das Kind jeden Tag – der Füllstand im Glas ist ja nach 24h für das bloße Auge kaum verändert. Am Samstag wird das Kind von der überraschten Mutter zu Rede gestellt, warum es denn heimlich das halbe Glas mit Bonbons geleert hätte…! Die Mutter hat natürlich die tatsächliche gesamte Füllstandsabnahme von Montag auf Samstag registriert – das Glas ist, kein Zweifel möglich, sichtlich nur noch zur Hälfte gefüllt.
„Shifting Baselines“ sind leider ein sehr gegenwärtiges und menschliches Phänomen unseres Alltags-Selbstbetruges (und spielt derzeit z.B. im Feld des Klimawandels eine bedeutende Rolle): Nur weil eine Position sich nur graduell verändert (geringfügiger alljährlicher Walfang in Japan und Island z.B.) und es lange Zeit so wirkt, als ob nahezu nichts passiert, ändert sie sich messbar ja dennoch – und die Auswirkungen sind nach einer gewissen Zeit erheblich und unleugbar (keine Wale mehr, da diese z.B. keine Paarungspartner mehr in den Meeren finden durch zu groß gewordene räumliche Distanzen).
In Beziehungen sind „Shifting Baselines“ daher das sprichwörtlich „schleichende Gift“. In meinem Fall mit Annika gab ich immer mehr nach und wich dadurch immer stärker von meinen eigenen Wünschen, Werten und Vereinbarungen ab. Aus Küssen wurde Gefumnmel, aus Gefummel wurde Genitalkontakt – und „Sex“ war genau genommen alles davon. Denn genauso hätte ich es selbst auch bewertet, wenn ich die sprichwörtliche Mutter angesichts des halbleeren Bonbon-Glases gewesen wäre. Hätte man mir ein Video mit einem Mann meiner Tätigkeiten auf dem Sofa vorgespielt, hätte ich von außen objektiv ohne zu zögern gesagt: „Ja, was da passiert, ist Sex.“ Aber stattdessen betuppte ich mich selbst, weil ich mich mit in ein Geschehen verwickeln ließ, in welchem ich meine eigenen Grenzen nach und nach ausverkaufte.
Die „Shifting Baselines“ sind das, womit vor allem ich und mein angeschlagener Selbstwert zurechtkommen muß – für meine Nesting-Partnerin wog das US-präsidiale Vorziehen meines eigenen Auffassungs-Maßstabs definitiv schwerer.
Denn noch einmal zurück zur Kameraaufnahme und der klaren Feststellung: Was da passiert, ist geteilte Sexualität.
Dies hätte bei den Geschehnissen der alleinige – und damit auch mein alleiniger – Maßstab sein dürfen. Denn dies war der einzige Informationsgehalt, um den mein Lieblingsmensch mich gebeten hatte: Transparent und aufrichtig mitzuteilen, inwieweit bei der Vertiefung meiner Beziehung mit Annika Sexualität bereits anteilig Einzug halten würde.
Dies war die Information, die für meinen Lieblingsmenschen wichtig war, damit diese sich ihrerseits darauf hätte einstellen können, ihrerseits informierte Wahlen hätte treffen können, Befindlichkeit, Besorgnis, Mitfreude hätte äußern können, ein Gespräch suchen – was auch immer.
Ich aber setzte meine eigene gefühlte Auffassung „Das war nicht so, wie es hätte sein sollen / Das war irgendwie nichts Richtiges…“ an die oberste Stelle – und habe sie damit um sämtliche dieser Optionen gebracht. Womit ich zugleich die Beziehungswerte „Gleichberechtigung“ und „Teilhabe“ über Bord gehen ließ. Exakt Werte, die auch mir sonst so wichtig sind.
In meinem Fall war es in der Tat Sexualität – aber es hätten auch (Mehrfach)Beziehungsthemen wie „einander persönliche Dinge erzählen“, „miteinander Zeit verbringen“, „zu Besuch sein (ja, auch Übernachten oder Urlaub machen)“, „Zeit mit den Kindern verbringen“, „sich Freunden oder Familien vorstellen (lassen)“ etc. sein können.
Bei all diesen Dingen haben wir vermutlich alle persönliche Vorstellungen, bei denen wir uns wünschten, wie und wann diese ablaufen sollten. Und vermutlich haben wir alle „Shifting Baselines“, wenn wir z.B. jemanden einmal vom Parkplatz abholen, nächstes Mal an der Haustür klingeln und beim dritten Mal auf einen Kaffee hereingebeten werden…
Aber es gibt jedes Mal dennoch nur ein konkretes, tatsächlich stattgefundenes Geschehen, so wie ein*e Beobachter*in, die nichts mit der Sache zu tun hat, es unausgeschmückt hätte wahrnehmen und beschreiben können.
Diese Version ist die Wirklichkeit – und gegenüber Zweiten oder Dritten – und speziell für den Erhalt derer gesamten Handlungsfähigkeit – ist sie das einzig Belangvolle, was zählt – und daher erzählt werden sollte.
Unser Chaos im Kopf mag uns in so manchen Situationen in Turbulenzen stürzen und auf zahlreiche Abwege locken. Auf manchen dieser Abwege kommen wir vielleicht günstiger mit dem Geschehenen klar und wir können mit unserer Rolle darin vor uns selbst besser leben.
Unsere Lieblingsmenschen aber brauchen für ihr Wohl unsere ungeteilte Integrität – und damit unseren Mut, uns der Wirklichkeit – auch wenn diese für uns unangenehm ist – zu stellen.
Oder, um es etwas leichtherziger mit dem US-amerikanischen Autor Ernest Cline und seinem Bestseller „Ready Player One“ zu sagen:
»Manchmal mag ich die Wirklichkeit nicht – aber es ist der einzige Ort, wo es etwas Geeignetes zu essen gibt.«
¹ „NestingPartner*in“: In Mehrfachbeziehungen eine Bezeichnung für die Menschen, mit denen man „ein Nest“ teilt – also eng zusammenlebt und auch viel Alltags-Zeit verbringt, z.B. in einer gemeinsamen Wohnstatt.
² Das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014
Danke an 愚木混株 cdd20 auf Unsplash für das Foto!