Von Kopf bis Fuß
Es war bereits der US-amerikanischer Erzähler und Satiriker Mark Twain der erkannte: „Schlagfertigkeit ist etwas, worauf du erst 24 Stunden später kommst.“
Kein neues Phänomen also – und das ist zumindest ein wenig tröstlich, denn neulich war ich mal wieder in einer solchen Situation, in der situative Schlagfertigkeit ausgezeichnet gewesen wäre, die entsprechende argumentative Abgeklärtheit dazu aber wiedermal einige Stunden hinterherhinkte…
Es war eines dieser weihnachtlichen Gespräche in gemächlicher Runde, mit einigen Menschen, die man eher periodisch trifft, die man vom Sehen kennt – und die von einem Psychologen wie Robin Dunbar vermutlich samt und sonders in den großen Kreis der „Bekannten“ eingeordnet worden wären.
Da saß ich also mit einer solchen „Bekannten“ zusammen. Sie: WG-erfahren, durchaus auch mit gelegentlichen nicht-monogamen Ereignissen im Leben vertraut. Und dann dreht sich das Thema irgendwann natürlich doch um meinen bLog, um die Oligoamory – und um mich.
Und ob es nun am Glühwein lag oder nicht, im Zeitalter sozialer Netzwerke sollte man als Autor besser stets auf gutgemeinte Kommentare zum eigenen Werk (welches die eigene Person leider zu oft mit einschließt) vorbereitet sein, denn genau dank der erwähnten Netzwerke ist heute der Beruf des Kritikers quasi unser aller täglich zweites Brot geworden – und wir werden in sozialen Medien, in Foren, auf Vergleichsportalen und Kundenplattformen doch auch regelmäßig dazu aufgefordert.
Eifrig übe man sich daher auch in der guten Kommunikation, mit solch‘ (konstruktiver?) Kritik angelegentlich umzugehen.
Meine Bekannte sprach also: „Weiß Du, Oligotropos, irgendwie finde ich Deine ganze Oligoamory sehr seltsam, sie fühlt sich für mich irgendwie nicht richtig an. Nach meiner Erfahrung ist es doch so: Da ist man in einer Beziehung und stellt irgendwann fest, daß da noch jemand weiteres ist, den man gutfindet und den man lieben möchte. Und eigentlich versucht man dann doch erst ab diesem Punkt mit diesem Thema umzugehen und sucht nach Lebens- und Liebensweisen, die das möglicherweise abbilden könnten. So, aus dem gelebten Leben heraus, von unten her. Deine Oligoamory, die scheint mir da total verkehrt, so vom Kopf auf die Füße gestellt. Und überhaupt: Ich habe ja schon erwähnt, daß ich auch diesbezüglich dieses ganze Datingverhalten als total künstlich und steif empfinde. Sollte es nicht so sein, daß sich Beziehungen einfach so ergeben, je nachdem ob Menschen kompatibel sind oder nicht? Du z.B. mit Deiner oligoamoren Suche. Das kommt für mich immer ein wenig steif und irgendwie sehr bemüht rüber – auf jeden Fall nicht so richtig im Flow. Ich fände es sehr schwierig, so eine Sache auf diese Art anzugehen…“
WHÄM!
Nun, ich saß ja direkt daneben – und wenn ich auch nicht schaffte, wirklich schlagfertig zu sein, so gelang mir immerhin eine selbstehrliche Ich-Botschaft. Denn ich konnte meiner Bekannten antworten, daß die Oligoamory in meinem Fall ja das Ergebnis meiner persönlichen Reise durch die Welt ethischer Non-Monogamie gewesen war, bei der ich mich und meine Bedürfnisse schon recht gründlich kennengelernt hatte. Und so seien in die Oligoamory bereits einige meiner Erkenntnisse darüber eingegangen, was ich in einer Beziehung für mich brauchen würde – und wo es mir auch wichtig sei, potentiell beteiligten Personen sofort und aufrichtig darüber ins Bild zu setzen (da ich z.B. weiß, wie schnell ich mich selbst in Wunschbilder und Projektionen verrenne).
Und was das Dating anging, so sagte ich, daß, wenn man in einer südniedersächsischen Kleinststadt zwischen Weser- und Leinebergland leben würde, man sich schon ein wenig strecken müsse, um mit wenigstens Ähnlichgesinnten in Kontakt zu kommen, da die Menge an fakultativ kompatiblen Menschen bei unter 1000 Einwohnern, mit einem Altersdurchschnitt von 60+, doch vermutlich eher klein sei…
Wie dem auch sei: Auch im Nachhinein bin ich mit den von mir gegebenen Antworten zufrieden. Wirklich schlagfertig waren sie allerdings nicht. Denn Stunden später (wann auch sonst!) dachte ich: „Jetzt weiß ich, was mich an der Kritik gestört hat. Und ich hätte antworten sollen: ‚Sorry – aber Oligoamory ist nicht etwas, was man macht, sondern etwas, das man ist !‘, genau.“
An dieser Stelle muss ich nun etwas ausholen, denn treue Leser*innen dieses bLogs könnten seit Eintrag 1 wissen, daß auch ich eines schönen Tages einmal recht plötzlich mit den Herausforderungen ethischer Nicht-Monogamie konfrontiert war – und ursprünglich auch kein Konzept dazu in der Tasche hatte, um damit umzugehen. Ich muß allerdings sagen, daß ich mir gewünscht hätte, wenigstens über irgendeine Art von Geländer zu verfügen, an dem ich mich in den folgenden Wochen und Monaten hätte entlang tasten können. Und immerhin erhielt ich nach einem dreiviertel Jahr auch einen wunderbaren Hinweis auf das Buch „More Than Two – A Practical Guide to Ethical Polyamory“ von F. Veaux und E. Rickert, welches meinem Beziehungsnetzwerk und mir half, erste Wege durch den Dschungel unserer Fragen und Befindlichkeiten zu schlagen. Aber bis dahin hatten wir mit „Try and Error“ im Heimwerkermodus auch schon eine Menge schmerzhafter Patzer fabriziert, die wirklich mit ein klein wenig mehr „Rahmen“ vermeidbar gewesen wären – abgesehen davon, daß man sich auf weiter Flur auch nicht so allein mit seinem (Mehrfach)Beziehungswunsch vorgekommen wäre.
Stichwort „Beziehungswunsch“: In vielen Foren und Gremien wird anhaltend darüber debattiert, ob ein Hang zu Mehrfachbeziehungen bei manchen Menschen nun angeboren oder erworben sei.
Ich sage: Ich glaube, diese heiß umstrittene „Theorie des Ursprungs“ ist für unsere gelebten Beziehungen nicht so sehr wichtig. Wenn ich allerdings auf mein eigenes Leben schaue, dann kann ich für mich durchaus auf eine kleine Historie putziger Dreier- und Viererkonstellationen verweisen (vor allem in Beziehungsablöse- oder -wechselsituationen). Diese Proto-Mehrfachbeziehungen hatten damals zwar alle keine langen Bestandszeiten – aber dennoch legen sie, wenn ich es wage mir diesbezüglich ehrlich ins Gesicht zu sehen, deutlich Zeugnis davon ab, daß ich wohl schon zumindest seit längerer Zeit eine gewisse Präferenz (oder Tendenz) in Richtung Mehrfachkonstellationen hatte und habe. Ob demgemäß „angeboren“ oder „erworben“, es ist auf jeden Fall ein Thema, welches sich als Spur in meinem Leben regelmäßig wieder auffinden läßt: Also ja, ich BIN das auch, es macht mich aus, es ist ein Faktor, der meinem Denken und Handeln immanent ist. Natürlich hätte ich mit Mitte 20 da noch nicht „oligoamor“ dranschreiben können. Aber wären mir Philosophien ethischer Non-Monogamie, wie sie in queeren, alternativen oder neopaganen Kreisen schon länger kursieren bekannt gewesen, dann hätte ich deutlich früher wenigstens den Begriff „polyamor“ für mich angenommen.
Denn in dem Sinne glaube ich nicht, daß Mehrfachbeziehungen etwas sind, was einem „einfach passiert“. Und viele Menschen aus dem queeren Spektrum würden mir möglicherweise zustimmen, daß, wenn man eine bestimmte Neigung, ein bestimmtes Sehnen in sich fühlt, früher oder später der Tag kommen wird, an dem eine innere Haltung eben nicht länger unterdrückt werden kann, sondern sich schon irgendwie ihren Weg nach draußen suchen wird. Genau dann – so würde ich es mir wünschen – wäre es ja gerade kolossal hilfreich, wenn es schon irgendeine Form von Orientierung, Auswahl oder Hilfe gäbe, eben diese persönlichen Neigungen oder Haltungen einordnen bzw. wenigstens benennen zu können.
Zu genau dieser Handlungshilfe sehe ich mich mit meiner Oligoamory aufgefordert – ein bunter Menüpunkt unter vielen zu sein, der eine Vorstellung, eine Ausrichtung präsentiert, auf daß er anderen Menschen als möglicher Anhaltspunkt für ihre eigene Beziehungsphilosophie und Lebensweise dienen kann.
Wenn ich demgemäß dabei mithelfen kann eine „Art zu Fühlen“ oder eine „Ars Vivendi“ vom Kopf auf die Füße zu stellen: Herzlich gern – damit finde ich die Oligoamory gänzlich zutreffend beschrieben. Denn die Alternative, ein mißverständliches Ungefähr, mit einem erheblichen Mangel an Begriffen sich selbst zu beschreiben und zu verorten, davon gibt es in meinen Augen da draußen schon allzuviel.
Bliebe mir heute nur noch, die schlagfertige Antwort auf die Datingkritik zu formulieren. Und ich gebe zu, daß ich darüber noch einen Moment länger nachdenken mußte.
Bis mir einfiel, was meine Bekannte mir mit ihrer Rezension eigentlich durch die Blume verkündet hatte: Ein überraschend stereotypes heteronormatives Narrativ.
Denn genau genommen hatte sie zweierlei ausgedrückt: Zum einen, daß „wirkliche/echte“ Beziehungen sich stets nur durch eine schwer fassbare, romantische verklärte Komponente zu finden und zu bilden hätten – und zum anderen, daß überhaupt nur (monogame) Singles eine wirkliche „Berechtigung“ zum Daten hätten.
Alle anderen von uns, die weder durch Singletum, noch durch romantisch verklärte Umstände von etwaiger Beziehungsanbahnung begünstigt wären, müssten sich nach diesem Modell mit entsagungsvollem Warten und Schmachten bescheiden – denn jegliches proaktive Verhalten wäre ja zutiefst künstlich und „bemüht“.
Das ist in der Tat eine ziemliche Keule für jegliches queere und non-monogame Leben – und übrigens auch noch eine, in der verborgen ein häßlicher Nagel steckt. Denn so ähnlich wie in dem einstmals abfällig gewählten Wort „gay“ steckt für uns „Alternativdatende“ der Vorwurf darin, daß wir andernfalls wohl dauergeil oder dauerbedürftig sein müssten, wenn wir nicht in der Lage wären auf die kosmische Fügung einer romantischen Zufallsbegegnung zu harren.
Mit dem Biedermeiersprüchlein „Das Glück kommt zu dem, der warten kann“ hatte ich schon immer so meine Schwierigkeiten, denn es könnte auch mit „…und wenn nicht, dann hat es nicht sollen sein“ enden – und mit einer derart fatalistischen Haltung werden wir weder eine Gesellschaft noch unsere Umwelt umgestalten oder gar retten können. Was eine solche Haltung „erhalten“ möchte, ist eine von mir im vorherigen Eintrag kritisierte, angepasste und ängstliche Einstellung, die genau verhindern wird, daß wir unsere Flagge wehen lassen und uns trauen „Jemand zu sein“.
Wiewohl ich als hochsensible Person vermutlich nie ein echter Fan des (Online)Datings sein werde, so halte ich es dennoch für ein zeitgemäßes Werkzeug, insbesondere, da ich ein überzeugter Fürsprecher des bewußten und freien Willens bin. Und wenn dann (hoffentlich!) aufrichtige, informierte und mündige Menschen im Rahmen eines „künstlich“ herbeigeführten Dates aufeinandertreffen, dann werden sie es vermutlich ganz alleine schaffen, darüber zu entscheiden, ob sie sich als beziehungskompatibel empfinden, ob da „mehr“ zwischen ihnen ist – oder nicht. Und dazu braucht es keine höheren Mächte, keine Schicksalsergebenheit – und bestenfalls bloß ein ganz kleines bißchen Romantik.
Tja. Das wäre vielleicht schlagfertig gewesen – obwohl ich annehme, daß das Gespräch, welches ich in der Tat dann doch in aller Ruhe zu ende führen konnte, ansonsten eine noch durchaus kämpferischere Wendung hätte nehmen können.
Und da der englischer Aphoristiker und Essayist Charles Caleb Colton auch erklärte, daß „Schlagfertigkeit der höchste Grad des Verstandes sei, denn er ließe auf die rascheste und kühlste Weise Genius in einem Augenblick sichtbar werden, da die Leidenschaften erhitzt sind“, teile ich meine verspäteten Erkenntnisse heute lieber hier mit Euch, meine treuen Leser*innen, und wünsche Euch ein wunderbares, fulminantes, mutiges – und schlagfertiges – 2020!
Danke an TessaMannonen auf Pixabay für das Foto.