Falsch verbunden?
#Noamory

Die Zahlenkombination 112 steht in Deutschland und vielen Staaten Europas für genau die Nummer, mit der ein telefonischer Notruf getätigt werden kann. Daher halte ich es für sehr passend, mit meinem 112. Eintrag Terrain zu betreten, der mit den leiseren und lauteren Alarmzuständen im Reich ethischer Mehrfachbeziehungen zu tun hat.
Denn so, wie es natürlich viele gute und sogar wunderschöne Gründe für das Entstehen solcher Vielfach-Partnerschaften gibt, gibt es leider auch manche, die ungünstig oder womöglich mittelfristig zerstörerisch sind.
Wie in allen romantischen Nah-Beziehungen geht es auch in Mehrfachbeziehungen grundlegend um Verbindung zwischen Menschen. Daher ist es wichtig, genau dieser Basis bereits Aufmerksamkeit zu widmen: Wie sehen diese Verbindungen aus – und warum gehen wir sie ein – bzw. warum tun wir es manchmal nicht?
Maßgebliche wissenschaftliche Erkenntnisse gibt es dazu seit dem Jahr 1940, als der britische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby den Grundstein für das legte, was später schlicht als „Bindungstheorie“ bekannt wurde, welche von zahlreichen Psycholog*innen und Verhaltensforscher*innen bis in die Jetztzeit hinein immer wieder erweitert und verfeinert wurde. Bowlby selbst verschriftlichte seine wichtigsten Erkenntnisse – um die es auch heute in diesem Eintrag gehen wird – zwischen den Jahren 1969 und 1980, die sich vor allem darum als maßgebend etablierten, weil es der US-amerikanisch-kanadischen Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth parallel dazu gelang, seine Befunde anhand praktischer Beobachtungen in zwischenmenschlichen Beziehungen zu bestätigen.
John Bolby war Kinderarzt und Kinderpsychater, so wie Mary Ainsworth Feldforscherin hinsichtlich der Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung war. Beide Persönlichkeiten untersuchten also zunächst menschliches Bindungsverhalten an seiner buchstäblichen Basis, der allerersten Beziehung, die jedes Menschenlebewesen eingeht, quasi noch vor seiner Geburt: Die Verbindung zur Mutter.
Daß wir allerdings von ihren Erkenntnisse heute hier auf einem bLog über ethische Mehrfachbeziehungen lesen und ihr gewonnenes Wissen nicht nur medizinisch-pädiatrischen Fachkreisen vorbehalten blieb, verdanken wir dem faszinierenden Umstand, daß wir Menschen „lernende Wesen“ sind. Lernende Wesen, so erkannten nämlich Bowlby und Ainsworth, die mittels dieser „ersten aller Beziehungen“ Wesentliches hinsichtlich jeder ihrer darauffolgend aufgenommenen Beziehungen verinnerlichen würden.
Konkret (und so freudig wie gruselig): Die Art der frühkindlichen Bezugspersonen-Kind-Bindung* beeinflußt maßgeblich unser aller Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter.
Nach diesem Satz habe ich länger überlegt, ob ich den folgenden Disclaimer an dieser Stelle oder erst am Ende meines heutigen Eintrags schreiben sollte. Ich glaube, nach einem solchen Satz ist es im Zweifel gut, etwas Spannung zu reduzieren – und darum sogleich dazu zwei Dinge:
Zum einen: Fortgesetzte Forschung erwies, daß in einer durchschnittlichen menschlichen Biographie viele Mischformen und Grautöne entstehen, die der gleich folgenden Typenlehre zahlreiche Facetten hinzufügen, so daß ein bestimmer Bindungstyp kein lebenslängliches Aburteil darstellt.
Denn zu anderen – und das ist gewisermaßen die richtig gute Nachricht: Bindungsverhalten kann sich verändern und kann aktiv verändert werden – mit der wichtigen Voraussetzung, sich des momentanen (erlernten) Bindungsverhaltens und dessen Konsequenzen bewußt zu werden.
Wenn es um Erwachsene ging, gehörte die Bindungstheorie viele Jahre lang zu den Werkzeugen von wissenschaftlich aufgeschlossenen Paartherapeut*innen und Beziehungs-Coaches. Deren Dienste wiederum wurden und werden in monogamen Beziehungen nach wie vor zu allermeist im „Un“-Fall – oder wie ich zu Beginn dieses Eintrags schrieb, im „Not“-Fall aktiviert. Unter Zuhilfenahme von Beschreibungen der Betroffenen oder durch eigene Beobachtungen deren Dynamiken im Umgang miteinander war und ist es so möglich, eventuelle Problematiken innerhalb einer Beziehung dem jeweiligen Bindungsverhalten der beteiligten Parteien zuzuordnen. Therapeut*innen und Coaches – aber auch die Forschung – konnten so ebenfalls etwas mittlerweile gut Bekanntes identifizieren: Warum sich bestimmte Muster sowohl im Verhalten als auch bei der Partner*innenwahl regelmäßig wiederholten – und in dieser Art teilweise zu einem stets erneuten Erleben scheinbar gleicher Konflikte führt(e).
Wo und warum kommen hier aber nun die Mehrfachbeziehungen, die Oligo- oder Polyamory, ins Spiel? Wenn es dort Beziehungsprobleme gibt, könnte man sich doch auch schlicht an eine Hilfsperson wenden, die dem entsprechenden Beziehungsmodell gegenüber offen wäre?
Oder bieten Mehrfachbeziehungen noch andere Herausforderungen, jenseits eines monogamen Rosenkriegs?
Als Autor dieses bLogs meiner Ansicht nach ja, wobei ich das Wort „Herausforderungen“ nicht ganz zutreffend finde, sondern es vor allem als eine Auswirkung der erweiterten Dimension der Mehrfachbeziehungen halber bezeichnen würde.
Genau diese „erweiterte Dimension“ gibt es in der Monogamie meistens nicht: „Ob“ bzw. „warum“ ein Paar zusammenkommt, wird selten in Frage gestellt, speziell, wenn die beiden Hauptbeteiligten erst einmal offensichtlich erfolgreich gemeinsam starten.
Auch bei Mehrfachbeziehungen gibt es diesen „gemeinsamen Start“, wenn sich z.B. bei mehreren Beteiligten zu einem ungefähr gleichen Zeitpunkt ein Begehren hinsichtlich all der anderen ebenso Beteiligten regt.
Allerdings gibt es auch den noch wahrscheinlicheren Fall, daß es bereits wenigstens ein Paar oder eine Gruppe gibt, zu dem oder der irgendwann eine oder mehrere andere Person(en) dazukommen.
Genau da läge dann ja der Spezialfall der „Mehrfach“-Beziehung: Ist es möglich, mehr als EINE andere Person zu lieben und gleichzeitig mit diesen in romantischer Verbindung zu sein?
Die auch in diesem bLog auf der Hand liegende Antwort lautet natürlich „Ja“ – jedoch ist die Form der emotionalen, rationalen und sozialen Rechtfertigung eine noch sehr andere als bei den normgesellschaftlich etablierten Zweierbeziehungen der Monogamie (bei denen das bloße „Zusammenkommen“ allein eben meist kein zu hinterfragendes Faktum ist).
Für ethische Mehrfachbeziehungen stellt sich aber genau auch diese Frage – und auch die Beteiligten, glaubt mir, stellen sie sich gelegentlich selbst: Dürfen die das? Und wenn ja – was treibt sie dazu, mehrere romantische Partnerschaften zugleich zu führen?
Die besten Antworten darauf wären selbstverständlich „Selbstverständlich!“ sowie „Klar: Aus Liebe!“ oder „Na, weil sie alle zusammen miteinander sein wollen!“
Auch Herr Bowlby und Frau Ainsworth wären mit diesen Antworten höchst zufrieden, wie wir noch sehen würden. Aber.
Aber die Möglichkeit zum Führen von Mehrfachbeziehungen – und die mutigen Menschen, die sich auf diese Erfahrung einließen und einlassen – deckten nach und nach auf, daß hier im Zwischenmenschlichen durchaus noch weitere Antworten im romantischen Dickicht versteckt waren.
Denn seit die Feministin Morning-Glory Zell Ravenheart 1990 zum ersten Mal das Wort „polyamor“ für ethisch-nichtmonogame Beziehungen etablierte, gaben sich schließlich immer mehr Menschen die Erlaubnis, ihrem Vorbild zu folgen und sich tatsächlich „zu mehreren“ romantisch-intim zu verbinden. Im Laufe der Jahre werden sicher auch einige von ihnen bei Workshops oder anderweitigen Szene-Treffen möglichweise mit der Bindungstheorie nach Bowlby gearbeitet haben.
Meines Wissens nach war es aber erstmals die US-amerikanische Autorin Jessica Fern, die 2020 in ihrem Buch „Polysecure“ ¹ die Bedeutung unseres erlernten Bindungsverhaltens speziell für den polyamoren Kontext betonte. Und das eben auch gerade bezüglich der Frage des „Warums“, die auf die Ausgestaltung eines Mehrfachbeziehungsgeflechts erhebliche Auswirkungen haben kann.
Genug des bunten Rahmens, um verständlich zu bleiben deshalb hier nun endlich in superkonzentrieter Kurzform die vier „Bindungstypen“ nach John Bowlby.
• Sicher gebunden (nach Bowlby Typ B)
Ein sicher gebundenes Kind erlebt in seinen ersten Lebensjahren ausreichend Feinfühligkeit bei Aktivierung seines Bindungsverhaltenssystems. Seine Bindungsverhaltensweisen wurden von der Bezugsperson wahrgenommen und richtig interpretiert, woraufhin prompt und angemessen gehandelt wurde. Dadurch ist die Bindungsperson für das Kleinkindes als verlässlich gespeichert, mit der Folge, dass das Kind das Verhalten seiner Bezugsperson weitgehend vorhersagen kann. Bei starken Emotionen wie einer Trennung wird es deutliche Bindungssignale, wie weinen, rufen etc. produzieren. Kommt es zu einer Wiedervereinigung, wird das Kind seine Bezugsperson begrüßen und deren Nähe aufsuchen, um sich z.B. durch Körperkontakt zu beruhigen. Doch nach kurzer Zeit wird sich ein sicher gebundenes Kind danach wieder seiner ursprünglichen Tätigkeit (spielen etc.) widmen.²
Erwachsene mit diesem erlernten Bindungsverhalten fühlen sich in Beziehungen sicher und können Nähe und Autonomie gut in Balance halten. Sie haben ein grundsätzliches Vertrauen in andere Menschen und können sowohl emotionale Unterstützung geben als auch empfangen. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten empfinden sie als normal und lösbar.³
• Unsicher und ablehnend-vermeidend gebunden (Typ A)
Ein solches Kind hat im Laufe der ersten Lebensjahre seine Bezugspersonen nicht als feinfühlig erlebt. Es hat erfahren, dass seine Bindungsverhaltensweisen entweder zu spät, gar nicht oder falsch wahrgenommen und interpretiert wurden. Das Kind beginnt aufgrund dessen immer seltener Bindungssignale zu senden, da es erneute Enttäuschungen vermeiden will. Dadurch ist es zunehmend darauf angewiesen, sich bei starken Emotionen selbst zu regulieren. Beim Verlassen des Raumes einer Bezugsperson schaut das Kind ihr vielleicht kurz hinterher, widmet sich aber bald darauf wieder intensiv seiner Tätigkeit. Z.T. werden so eigene Emotionen mit verstärktem Entdeckungsdrang kompensiert. Bei der Wiedervereinigung sucht ein unsicher-vermeidendes Kind keine Nähe. Ergreift die Bezugsperson die Initiative und hebt das Kind hoch, wird es durch Abwendung des Kopfes und der Körperhaltung schnell verdeutlichen, dass es wieder abgesetzt werden möchte: Aufgrund von schlechten Vorerfahrungen vermeidet dieses Kind seinen Bindungsstress auf der Verhaltensebene offen darzulegen.²
Erwachsene mit diesem erlernten Bindungsverhalten neigen dazu, sich emotional eher zu distanzieren und vermeiden intensivere Nähe. Nähe kann ihnen sogar unangenehm sein, oft bewahren sie eine gewisse Distanz in Beziehungen. Sie könnten Schwierigkeiten haben, ihren eigenen emotionalen Bedürfnissen zu vertrauen oder sich auf andere zu verlassen.³
• Unsicher und ängstlich-ambivalent gebunden (Typ C)
Dieses Kind weiß nicht, wie seine Bezugsperson bei Aktivierung seines Bindungsverhaltenssystems regieren wird. Im Alltag erlebt es seine Bezugsperson widersprüchlich – manchmal feinfühlig und manchmal nicht. Durch diese Unbeständigkeit ist das Kind nicht in der Lage verläßliche Erwartungshaltungen bezüglich der Reaktion seiner Bindungsperson zu entwickeln. Darum sucht das Kind ständig Nähe zu der Bezugsperson, was sich negativ auf sein Entdeckungsverhalten auswirkt: Solch ein Kind wird sich nur zögerlich anderen Tätigkeiten widmen und reagiert bei Trennung von der Bezugsperson gestresst, irritiert oder sogar gereizt. Vor allem bei einer Wiedervereinigung kann es zu sehr heterogenen Verhaltensweisen kommen. Es kann sein, dass das Kind sich um den Kontakt mit der Bindungsperson bemüht, zugleich aber Anzeichen von Ärger und Wut zeigt, oder die Bezugsperson zurückweist.²
Erwachsene mit diesem erlernten Bindungsverhalten empfinden häufig eine starke Abhängigkeit von anderen, sehnen sehnen nach Nähe – und haben jedoch gleichzeitig Angst vor Zurückweisung. Oftmals sorgen sie sich intensiv darüber, ob ihree Bedürfnisse erfüllt werden und ob sie für andere wirklich wichtig sind. Sie können sich schnell unsicher oder überfordert fühlen, wenn sie das Gefühl haben, zu wenig Aufmerksamkeit zu bekommen.³
• Desorganisiert gebunden (Typ D)
Solch ein Kind wurde von seiner Bezugsperson entweder vernachlässigt, missbraucht, misshandelt oder traumatisiert. Die Person, die dem Kind Geborgenheit und Schutz bieten sollte, ist zugleich die Person, die es ängstigt. Kinder mit einem desorganisierten Bindungsstil fallen durch rasch aufeinander folgende, widersprüchliche, unvollendete oder konfuse Verhaltensstrategien auf. Es kann also vorkommen, dass sich das Kind der Bezugsperson nähert, dann aber von einer auf die andere Sekunde stoppt. Bei Abwesenheit der Bezugsperson kann es direkte Anzeichen von Angst zeigen, dann aber eher die Nähe fremder Personen, statt der Bezugsperson, aufsuchen. Eine andere mögliche Verhaltensweise wäre sogar die Versteinerung, solange sich die Bezugsperson im gleichen Raum aufhält.²
Menschen mit diesem erlernten Bindungsverhalten zeigen auch als Erwachsene widersprüchliche Verhaltensweisen. Sie sehnen sich zwar nach Nähe, aber genau diese kann auch Angst oder Misstrauen auslösen. Oft vermeiden sie Nähe oder wechseln zwischen starken Annäherungs- und Rückzugsimpulsen, da ihre frühen Beziehungserfahrungen von Unsicherheit und vielleicht sogar Trauma geprägt sind. Dies kann sich in intensiven, chaotischen Beziehungen widerspiegeln und aufgrund ihrer Traumata fühlen sie sich selbst oft innerlich gespalten und haben so häufig Schwierigkeiten, überhaupt stabile Bindungen aufzubauen.³
Genug des Gruselkabinetts (ok, bis auf die soliden, sicheren Bindungen) möchte ich rufen – aber die Denkanstöße für ge- bzw. mißlingende ethische Mehrfachbeziehungen beginnen genau hier. Mit etwas Hilfe der englischen Wikipedia möchte ich die Auswirkungen der oben aufgeführten Bindungserfahrungen auf uns im Erwachsenenalter betrachten – inklusive der Art, wie wir uns zu romantischen Nahbeziehungen positionieren.
►Betrachten wir zuerst wieder als „unfallfreies“ Verhaltensmuster die sichere Bindung, denn solch ein sicherer Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die ein positives Selbstbild und ein positives Fremdbild verinnerlicht haben – was für Beziehungsaufnahme jeglicherArt schließlich grundlegend ist.
Sicher gebundene Erwachsene neigen dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen:
„Es fällt mir relativ leicht, anderen emotional nahe zu kommen.“
„Ich fühle mich wohl dabei, mich auf andere zu verlassen und dass andere sich auf mich verlassen.“
„Ich mache mir keine Sorgen darüber, allein zu sein oder dass andere mich nicht akzeptieren.“
Sicher gebundene Erwachsene haben daher in der Regel eine positive Einstellung zu sich selbst, zu ihren Bezugspersonen und zu ihren Beziehungen. Sie berichten oft von größerer Zufriedenheit und Eingebundenheit in ihren Beziehungen als Erwachsene mit anderen Bindungsstilen. Sicher gebundene Erwachsene fühlen sich situativ sowohl mit enger Intimität als auch mit Unabhängigkeit wohl.
Ok. Was soll ich da noch sagen? Ich denke, daß eine solche Person sich in jeder Beziehungsform, egal ob mono, oligo oder poly zuhause fühlen würde – und dabei wahrscheinlich obendrein eine gute und wertgeschätzte Figur abgäbe. Auch ihre Beziehungen könnten natürlich scheitern – aber wenn, dann nicht wegen der Art der Bindung.
►Ein unsicherer ablehnend-vermeidender Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die eine eher positive Sicht auf sich selbst, jedoch eine negative Sicht auf andere haben. Daher neigen die dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen:
„Ich fühle mich wohl ohne enge emotionale Beziehungen.“
„Es ist mir wichtig, mich unabhängig und selbständig zu fühlen.“
„Ich ziehe es vor, nicht von anderen abhängig zu sein oder dass andere sich auf mich verlassen müssen.“
Erwachsene mit diesem Bindungsstil wünschen sich meist ein hohes Maß an Unabhängigkeit. Sie betrachten sich selbst als autark und können sich eher nicht als Teil einer tagtäglichen, engen Nah-Beziehung vorstellen. Manche sehen enge Beziehungen sogar als relativ unwichtig an. Menschen mit diesem Bindungsstil versuchen teilweise, ihre Gefühle zu unterdrücken und zu verbergen, und sie neigen dazu, mit empfundener Ablehnung umzugehen, indem sie sich von den Quellen der Ablehnung (z. B. ihren Bindungspersonen oder Beziehungen) distanzieren. Trotzdem zeigen sie dennoch starke physiologische Reaktionen auf emotionsgeladene Situationen und Inhalte, die sie dann jedoch oft mittels Konzentration auf ein anderes Thema abzulenken und zu kanalisieren bemüht sind.
In der Welt der ethischen Mehrfachbeziehungen fällt mir bei diesem Abschnitt vor allem die sg. „Solo-Polyamory“ ein: Menschen, die mehrere Einzelbeziehungen zu verschiedenen Personen pflegen, die untereinader aber wiederum in keinem Verbund stehen. „Solo-Polys“ leben häufig allein und verbinden sich mit ihren Partner*innen gezielt, z.B. an Wochenenden, auf Events bzw. bei bestimmten Aktivitäten oder an besonderen Orten.
Fragen, die sich dementsprechend auftun, wären z.B., warum wir uns selbst in solch einem Modell von unseren Liebsten distanzieren, bzw. diese aufgrund des gewählten Beziehungsmodells auf Abstand halten möchten. Auch die grundsätzliche Frage liegt nahe, ob wir uns mit dieser Form von „Poly-Amory“ eine Auswahl an Partner*innen gestatten, so daß wir „für jedes Plaisirchen ein passendes Tierchen“ erhalten – und bei ansteigender Spannung innerhalb einer Beziehung uns die Möglichkeit geschaffen haben, rasch das Betätigungsfeld zu wechseln, wozu wir alle Beziehungen auch mit einem Höchstmaß an unvernetzter Parallelität betreiben. Mehr noch: Gäbe es Hinweise darauf, daß wir uns auf Erkundung nach neuen Partnerschaften begeben, wenn wir andernorts gerade die Intensität nich mehr gut aushalten können? Und wie fühlen sich diesbezüglich eventuell die anhängigen Partner*innenmenschen? Fühlen sie sich durch uns ausreichend gesehen und wertgeschätzt – oder geraten sie in die Gefahr, stets doch nur eine jeweilige Teilzeit-Investition von uns zu erhalten?
►Ein unsicher ängstlich-ambivalenter Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die ein negatives Bild von sich selbst und ein eher positives Bild von anderen haben. Daher neigen sie dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen:
„Ich möchte mit anderen emotional absolut innig sein, aber ich stelle oft fest, dass andere zögerlich sind, mir so nahe zu kommen, wie ich es mir wünsche.“
„Ich fühle mich unwohl, wenn ich keine engen Beziehungen habe, aber ich mache mir manchmal Sorgen, dass andere mich nicht so sehr schätzen, wie ich sie schätze.“
Erwachsene mit diesem Bindungsstil suchen ein hohes Maß an Intimität (ja, hier ist auch schnelle bzw. intensive Sexualität innbegriffen), Bestätigung und Entgegenkommen von ihren Bezugspersonen. Sie schätzen Intimität manchmal so sehr, dass sie evtl. sogar übermäßig von einer Bezugsperson abhängig werden können. Im Vergleich zu sicher gebundenen Erwachsenen neigen solche Menschen zu einer weniger positiven Selbsteinschätzung. Sie können ein Gefühl der Ängstlichkeit entwickeln, das nur nachlässt, wenn sie mit einer Bezugsperson in Kontakt sind. Sie zweifeln oft an ihrem Wert als Individuum und geben sich selbst die Schuld für einen empfundenen Mangel an Aufmerksamkeit ihrer Partner*innen. In ihren Beziehungen können sie z.T. ein hohes Maß an Emotionalität, Besorgtheit oder Überkompensation zeigen.
Diesen Bindungsstil kenne ich selbst am besten, weil er leider meine eigene Grundlage ist. Innerhalb ethischer Mehrfachbeziehungen wie der Oligo- und Polyamory ist er nicht unbedingt selten, weil es im Zweifel gerade die Möglichkeit ist, überhaupt eine Mehrzahl von intimen Bezugspersonen aufgrund erhöhten Nähebedarfs für sich zu gewinnen, die Mehrfachbeziehungsmodelle für Menschen dieser Veranlagung interessant macht.
Problematisch bei diesem Bindungsstil ist von Anfang an die Bestrebung nach einem größtmöglichen Vertrautheits- und Verschmelzungsfaktor, so daß beim Kenenlernen häufig die „Aufprallenergie“ sehr hoch ist – und Kompatibilität z.B. über früh initiierte Sexualität herbeizuführen versucht wird. Die „Beinarbeit“ eines gründlichen Kennenlernprozesses mit wechselseitigen Vor- und Abneigungen kann so in den Hintergrund geraten, was bei fortdauernder Beziehung zu Problemen führen kann. Auf diese Weise ist aber auch die NRE („New-Relationship-Energy“ [Neue-Beziehungs-Energie]) sehr hoch, was für Bestandspartner*innen verstörend wirken kann, wenn für eine neue Person z.T. alles stehen und liegen gelassen wird.
Der hohe Nähe- und Klebefaktor führt innerhalb von Mehrfachbeziehungen zusätzlich zu einem gelegentlichen Verwischen von individuellen Grenzen, so daß es sachlich wie emotional irgendwann schwierig sein kann, herauszufinden, welche Anteile an einem Geschehen wem zuzuordnen sind, was ungünstige Wirkung auf die Gesamtbeziehungsdynamik nimmt. Unsicher-ambivalente Personen tragen speziell darin oft wenig hilfreich bei, indem sie in ihrem inneren Zwiespalt gelegentlich zusätzlich in eine Art „Micromanagement“ verfallen, bei dem sie versuchen für ihre Partner*innen eine angestrengte Misch-Performance aus „Warte, ich hole Dir die Sterne vom Himmel“ und übergriffiger Gängelung („Neinnein, das müssen wir SO machen….“ ) aufzubieten.
►Desorganisierte Bindungsmuster zeigen sich bei Menschen, die eine instabile und wechselhafte Sicht auf sich selbst und andere haben, welche jedoch vorwiegend in beiden Fällen negativ ist. Verluste oder Traumata (z. B. Missbrauch) in der Kindheit und Jugend können zu einer Zustimmung zu folgenden Aussagen führen:
„Es ist mir etwas unangenehm, anderen nahe zu kommen.“
„Ich wünsche mir emotional enge Beziehungen, aber es fällt mir schwer, anderen völlig zu vertrauen oder mich auf sie zu verlassen.“
„Ich mache mir manchmal Sorgen, dass ich verletzt werde, wenn ich mich zu sehr auf andere Menschen einlasse.“
Personen mit einem ängstlich-besorgten Bindungsstil zeichnen sich durch ein starkes Verlangen nach Nähe und Intimität in ihren Beziehungen aus, erleben jedoch häufig zugleich ein hohes Maß an Angst und Unsicherheit in Bezug auf die Zugänglichkeit und das Entgegenkommen ihrer Bezugspersonen. Sie neigen daher dazu, sich bei zunehmender emotionaler Nähe unwohl zu fühlen. Diese Gefühle sind mit manchmal unbewussten, negativen Ansichten sowohl über sich selbst als auch hinsichtlich ihrer Bindungspersonen verbunden. Dadurch halten sie sich häufig für unwürdig, von ihren Bezugspersonen Aufmerksamkeit zu erhalten, und haben zugleich oft kein Vertrauen in die Absichten ihrer Partner*innen. Ähnlich wie beim ablehnend-vermeidenden Bindungsstil suchen desorganisiert gebundene Erwachsene so weniger Nähe zu ihren Bindungspersonen und unterdrücken und/oder verleugnen häufig ihre Gefühle. Aus diesem Grund fällt es ihnen viel schwerer, Zuneigung auszudrücken. Personen mit diesem Bindungsstil neigen zu einem negativen Selbstbild und einer schwankenden oder gespaltenen Sichtweise auf andere, was zu zwischenmenschlichen Störungen beitragen kann.
Ein desorganisierter Bindungsstil stellt für jede Form von echter, vertrauter Partnerschaft die größten Herausforderungen dar, doch auch von diesem Bindungstyp habe ich leider einige Züge bei mir selbst wiedergefunden.
Problematisch speziell für Mehrfachbeziehungsführung ist meist, daß die betroffene Person sich über mehrere Partnerschaften ein Mini-Universum verschiedener Menschen erstellen kann, zwischen denen sie bei Bedarf emotional „switchen“ (hin- und herschalten) kann. Für die betroffene Umgebung kann dieses Verhalten allerdings im Zweifel seltsam unbeständig und z.T. sogar unberechenbar – oder zumindest unzuverlässig – wirken.
Der „Netzwerkcharakter“ polyamorer Verbindungen kann allerdings auf diese Weise eine desorganisiert gebundene Person oftmals eine Weile lang gewissermaßen „auffangen“ – da durch die Beziehungsvielfalt die innere Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der betroffenen Person nicht so schnell zu Tage tritt, wie es vielleicht in einer reinen Zweierbeziehung geschehen würde. Gleichzeitig kann genau dieses „Zumuten“ und „Aushalten“ desorganisierter Merkmale in einer Mehrfachbeziehung jedoch wiederum gerade durch die Vielfalt an betroffenen Mitwirkenden großes Leid verursachen, bevor die auslösende Person bereit ist, sich ihren verschütteten Traumata zu stellen. Die Gefahr der „Desorganisation“ besteht indes darin, daß die Auswirkungen – durch allseitige, teilweise widersprüchliche Kompromisse – bis dahin die Gesamtbeziehung für alle Beteiligte schon schleichend zerrüttet haben können.
Puh. Mein Fazit dieses wichtigen – und nun beinahe zu lang geratenen – Eintrags:
Zusätzliche Studien erwiesen leider, dass Personen mit unsicherem oder desorganisiertem Bindungsstil auch anfälliger für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen sind, sie häufiger ein beeinträchtigtes Selbstwert-Gefühl haben, und dass es für sie darum schwieriger ist, im Erwachsenenalter gesunde Bindungen zu entwickeln.
Beobachtungen ergaben weiter, daß sich ungünstige Bindungsstrategien und Traumata in Beziehungsdingen überdurchschnittlich häufig anziehen – ausgerechnet unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent finden sich z.B. überraschend (und trotz doch scheinbar so unterschiedlicher Bedürfnislagen!) regelmäßig gemeinsam in einem „Beziehungs-Boot“ wieder…
Mehrfachbeziehungen „würfeln“ obendrein meist gleich noch „mehr als zwei“ Menschen zusammen, wodurch im Zweifel äußerst ungünstige Kompensationsstrategien aufeinander treffen können, insbesondere wenn der Grad an Unbewußtheit für die eigenen Bindungserfahrungen (noch) eher hoch ist.
Und um es noch einmal zu sagen: Ethische Mehrfachbeziehungen müssen in ihrer Entstehung schon allein aus Selbsterhaltungsgründen sehr selbstehrlich der Frage ins Auge sehen, ob nicht eben sogar der Wunsch nach „Mehrfachbeziehung“ eigentlich einer ermangelten Bedürftigkeit entspringt, die doch leider drei der vier Bindungstypen verdeckt in sich tragen.
Denn Verlustangst, Bindungsangst und Kontrollverhalten bringen Unruhe, Leid und Drama in jede Beziehung. Und das ist etwas, was wir als Viel-Liebende unseren Lieblingsmenschen doch gerade sicher nicht zuteil werden lassen wollen.
Mit dem heutigen, beim Scrollen sicher nicht nur bedingt durch die Länge manchmal schmerzhaft zu lesenden Eintrag, möchte ich allerdings ähnlich der oben erwähnten Autorin Jessica Fern dringend dafür sensibilisieren, auch diese unfroheren Aspekte des eigenen Beziehungs- und Bindungsverhaltens zu reflektieren. Ich lade dazu ein, dies auch im Verbund mit unseren Partner*innen zu tun, die durch ihre „Sicht von außen“ vielleicht wichtige Impulse für uns selbst beisteuern können – auch wenn diese Form von Offenbarung sicher nicht immer einfach für alle Beteiligte sein wird.
Aber gerade diese Bewußtmachung ist es, die uns alle schließlich befähigen kann, einen eventuell negativen Bindungsstil nach und nach tatsächlich zu verändern.
In diesem Sinne – und in bester, sicher gebundener Weise: Laßt es Liebe sein, echtes Vertrauen und sich wirklich sicher Fühlen – und: weil ihr alle aus tiefstem Herzen miteinander zusammen sein wollt!
*Ich schreibe hier Bezugspersonen-Kind-Bindung, weil sich für das Bindungsverhalten erwiesen hat, daß es in der sensiblen Phase der ersten Lebensjahre maßgeblich ist, wie diese Haupt-Bezugspersonen Zuwendung zeigen – ganz egal, ob es sich dabei um Mutter, Vater, Familienangehörige, Pflegeeltern etc. handelt.
¹ Jessica Fern „Polysecure: Attachment, Trauma and Consensual Non-monogamy“, Thornapple Press (2020)
Deutsche Version: „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“; divana Verlag 2023
² Typenbeschreibungen erstellt mit Hinweisen aus der Masterarbeit von Nadine Madlen Blaßnig „Bindung im Erwachsenenalter: Eine Studie zum Zusammenhang von Alkoholkonsum, Mentalisierungsfähigkeit, Selbstwert und Bindung“, 2018 Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; Zitate aus Kißgen, J. (2009). „Diagnostik der Bindungsqualität in der frühen Kindheit – die Fremden Situation“; in Julius, H. et al. (Hrsg.), „Bindung im Kindesalter. Diagnostik und Intervention“, Göttingen: Hogrefe
³ Beschreibung aus „Attachment Disturbances in Adults: Treatment for Comprehensive Repair“ von Daniel P. Brown und David S. Elliott, WW Norton & Co (2016)
Danke an engin akyurt auf Unsplash für das Foto!
Last but not least: Im Netz gibt es zahlreiche Tests zur Ermittlung des eigenen Bindungstyps. Nicht alle arbeiten nach Bowlby und Ainsworth – aber für eine Grundeinschätzung kann man dort starten. Für in jedem Fall zielführender halte ich es, sich direkt mit den Typenbeschreibungen (auf Wikipedia z.B. oder hier) auseinanderzusetzen und hinsichtlich der entsprechenden Merkmalen für sich selbst zu reflektieren.