Dyadische Keimzellhypothese
In den weltweiten Schöpfungsmythen – insbesondere was die Schöpfung der Menschen angeht – kommt die Polyamorie irgendwie schlecht weg.
Das ist übrigens nicht nur bei dem nach eigenem Bekunden¹ „eifersüchtigen“ Gott der Israeliten der Fall – bei dem alle Religionsangehörigen vermutlich froh sein können, daß dieser überhaupt mehr als bloß ein Wesen und nur ein Geschlecht erschaffen hat, wo doch der vorderasiatische Jahwe/Jehova schon beinahe als Archetyp mono-theistischen und mono-normativen Schöpfens gilt…
Nein, von den Steppen Asiens bis zu den Küsten Papua-Neuguineas, von den Regenwäldern Südamerikas bis zu den eisigen Weiten der Nordpolaregion: Fast überall auf der Welt hat die Geschichte der Menschheit mythologisch mit zunächst einmal lediglich zwei Individuen begonnen, die da sex- und gendermäßig recht überwiegend als Frau und Mann benannt wurden.
Ok, manchmal war einer dieser beiden Partner*innen eine Göttin, die sich einen Mann „fertigte“, um dann nach dessen Beihilfe die Menschheit zu gebären oder ein müßiger Gott, der eine Frau erschuf um der Langeweile der Ewigkeit zu entgehen und mit ihr zum Stammvater der Menschheit avancierte.
Die wenigen Ausnahmen, in der es von Anfang an um „mehr als zwei“ ging – oder wo am Anfang gleich ein betriebsames Getümmel herrschte – muß man schon suchen, götterseidank gibt es aber auch diese:²
Richtig in die Vollen gingen beispielsweise die Götter der Maya, die wohl von vornherein gleich auf eine Vielzahl an Menschen zielten und nach desaströsen Versuchen unter der Verwendung von zunächst Lehm (vom Regen weggespült) und dann Holz (brüchig und illoyal) schließlich mit Maisbrei einen so gigantischen Erfolg erzielten, daß die Götter selbst alsbald vor dem schieren fruchtbaren Gewimmel ihrer Schöpfung Angst verspürten.
Deutlich differenzierter geht es da schon im hawaiianischen Schöpfungsgesang „Kumulipo“ zu. Dort führt die Göttin Laʻilaʻi eine Art proto-polyamore „offene Beziehung“ mit zwei Partnern, aus deren Verbindung drei (selbstverständlich göttliche) Nachkommen hervorgehen, die dann in bester Regenbogenmanier für sich beschließen, da sie geboren wurden, während ihre Mutter mit zwei Männern zusammen war, sich zu „Poʻolua“ (= „die, deren Ursprung im Dunkeln liegt“) zu erklären und die Abstammung von beiden Vätern zu beanspruchen
Wunderbar polyamor geradezu empfinde ich allerdings vor allem die Anfangsgeschichte der Kiowa-Apachen, die von ihrem Schöpfer Kuterastan erzählen, wie er erwachte und sich die Augen rieb. Als er über sich in die Dunkelheit blickte, füllte sich diese mit Licht und erhellte die Dunkelheit darunter. Als er nach Osten blickte, färbte sich das Licht mit dem Gelb der Morgendämmerung, und als er nach Westen blickte, wurde das Licht von den Bernsteintönen der Abenddämmerung durchdrungen. Als er um sich blickte, erschienen Wolken in verschiedenen Farben. Dann rieb sich Kuterastan erneut die Augen und das Gesicht, und als er sich den Schweiß von den Händen wischte, erschien eine weitere Wolke, auf der ein kleines Mädchen namens Stenatliha saß. Stenatlihas Name bedeutet übersetzt die Frau ohne Eltern. Kuterastan und Stenatliha fragten sich, woher die andere Wolke kam und wo die Erde und der Himmel waren. Nachdem sie einige Zeit nachgedacht hatten, rieb sich Kuterastan erneut die Augen und das Gesicht, dann die Hände, und aus dem Schweiß, der beim Öffnen der Hände floss, erschien zuerst Chuganaai, die Sonne, und dann Hadintin Skhin, der Pollenjunge. Nachdem die vier lange Zeit schweigend auf einer einzigen Wolke saßen, brach Kuterastan schließlich das Schweigen und sagte: „Was sollen wir tun?“ – woraufhin überliefert ist: Und gemeinsam begannen alle miteinander mit der Schöpfung…
Angesichts der erdrückenden Übermacht ausschließlich dyadischer (dyadisch = „aus zwei Einheiten bestehend“ / „den Austausch von zweien betreffend“) Schöpfungsmythen hingegen, bleiben dies dennoch eher bunte Randerscheinungen in einer Beziehungswelt, die offensichtlich ganz überwiegend zu Anfang vor allem für ein Zusammentreffen von erst einmal (nur) zwei Wesen angelegt war.
Wenn wir dahingehend mal den rein reproduktiven Aspekt – der in frühen Kulturen sicher eine wesentliche Rolle spielte (und der in der Mythologie so meist eine „höhere“ Rechtfertigung erhielt) – weglassen, bleibt dann trotzdem noch Weisheit übrig, die nicht nur für uns in der heutigen Zeit noch aktuell ist, sondern auch ein Anrecht hat, gleichwohl auf einem bLog über Mehrfachbeziehungen zu erscheinen?
Klar – rhetorische Frage – ich meine nämlich durchaus, daß dem so ist.
Und tatsächlich wird dies auch innerhalb unserer polyamoren Lebensweise oftmals (an)erkannt.
In einem intensiven Austausch mit der bereits auf dieser Plattform hier zitierten bLoggerin Sacriba (die ihrerseits ebenfalls polyamor lebt) antwortete mir diese einmal auf meine eigene Aussage
»Ich stehe […] auf dem Standpunkt, daß „Verlieben“ bzw. „die erste Zeit“ durchaus Phasen von 1:1-Zeit benötigt. Für mich bildet da dieses 1:1 die „Minikeimzelle“ [einer Beziehung] – und in der „Kennenlernphase“ glaube ich, braucht’s das Aug-in-Aug-Miteinander auf diese Weise auch erst einmal…« Folgendes:
»Da stimme ich dir völlig zu, und möchte sogar noch ergänzen: Ich denke, dass immer wiederkehrende Zu-zweit-Zeiten / 1:1-Zeiten unerlässlich nicht nur für den Anfang, sondern auch für das Aufrechterhalten einer schönen, liebevollen Paarbeziehung sind. Als größtmögliche zwischenmenschliche Nähe ist die romantische Ebene sehr offen, und daher auch sehr verletzlich. Das gilt natürlich umso mehr für den Anfang. Je mehr Einflüsse von „Außen“ hinzu kommen, desto eher machen die betreffenden Menschen zu, und können sich auf dieser Ebene gar nicht mehr begegnen. Aus diesem Grund „erlöschen“ so viele monogame Paarbeziehungen, sobald Kinder hinzukommen: Neben der Erwerbsarbeit und Eltern-Sein mit den Kindern bleibt einfach nicht mehr genug Zeit und Energie für romantische Nähe, und nach einigen Jahren ist davon nichts mehr da.
Interessanterweise passiert bei vielen Menschen, die eine Mehrfachbeziehung tatsächlich ausprobieren, ein ähnliches Phänomen: Alle stecken erst mal ihre Zeit und Energie in den Aufbau des neuen gemeinsamen Systems. Und JA, das ist auch sinnvoll, denn das Zu-Dritt, Zu-Viert, wie auch immer, ist eine neue Struktur, welche Zeit und Aufmerksamkeit benötigt, gerade in der „Mehrfachbeziehungsbildungsphase“. ABER: Die Paarbeziehungen verschwinden durch dieses neue System nicht. Im Gegenteil, ein Polykül ist sogar als ein „Netzwerk aus zusammenhängenden romantischen Verbindungen“ definiert. Die Paarbeziehungen bleiben als Subsysteme weiterhin bestehen, und damit auch die Voraussetzungen, damit diese überwiegend schön sind und energiegebend wirken, wie eben eine Zu-Zweit-Zeit / 1:1-Zeit.«
Auch in dem Facebook-Forum „Polyamorie & Polyfidelity – Die Kunst, mehrfach zu lieben (deutschsprachig)“ ergab sich erst diesen Monat unter einer Interviewanfrage mit dem Thema „Alltag in polyamoren Beziehungen“ dieser kurze Dialog:
Gruppenmitglied A: »Finde es so wichtig das Außenstehende ein wenig Einblick bekommen um vielleicht zu verstehen das es gar nicht so anders ist als Monogamie.«
Gruppenmitglied B: »Zu dieser Aussage fällt mir ein Aspekt ein. Im Grunde ist ja schon einiges anders als in der Monogamie, aber natürlich nicht alles und eins fällt mir da direkt ein: Auch Poly-Beziehungen sind 2er Beziehungen. Man hat zu allen Partnern eine individuelle Bindung (wie zu seinem einen Partner in einer monogamen Beziehung) und man braucht auch mit jedem Partner Zweisamkeit. Das finde ich das Schöne an der Polyamorie. Dass die Liebe einfach fließen kann, man nichts unterdrücken muss UND dass es trotzdem separate Lieben sind.«
Gerade die Aussagen der beiden Forumsmitglieder, die spontan und geradlinig ihre Gedanken ausgedrückt haben, freuen mich, weil ich ja hier selbst auf meinem bLog bereits in Eintrag 29 und auch wiederholend in Eintrag 72 geschrieben hatte, daß eigentlich die ganze Essenz meines Schreibens hier in dem schlichten Satz »Führt gute Beziehungen!« zusammengefasst sein könnte.
Die Mitglieder A und B oben erläutern mit ihren Aussagen gewissermaßen dieses „Konzentrat“ zweifach: Zum einen, in dem ausgedrückt wird, daß polyamore Beziehungen vom Grundsatz her ganz und gar klassische, romantische menschliche Beziehungen sind, wie alle anderen romantischen menschlichen Beziehungen auch. Zum anderen, daß die Grundstruktur von Mehrfachbeziehungen – die für themenfremde Personen ja gerade in ihrer „verstrickten Gemengelage“ so verrucht wirken – auf einen Nenner gebracht aus individuellen Einzelbeziehungen bestehen.
Ich möchte hier niemandem zu nahe treten, wenn sich z.B. nun eine Dreierbeziehung getroffen fühlen würde, die das Glück erlebt hätte, daß sich dort alle Personen mehr oder weniger zur gleichen Zeit ineinander verliebt haben. Ich würde tatsächlich auch zu solch einer Gruppe sagen, daß es lohnenswert ist, über die „Untereinanderbeziehungen“ der verschiedenen Mitglieder eines solchen „Dreiers“ einmal so nachzudenken, wie es oben die bLoggerin Sacriba getan hat.
Denn wenn ich „Führt gute Beziehungen!“ sage, dann meine ich das ein wenig wie der irische Autor, Kritiker und Aktivist George Bernard Shaw, der einmal schrieb »Liebe ist die Fähigkeit, den Menschen, die uns wichtig sind, die Freiheit zu lassen, die sie benötigen um so sein zu können, wie sie sein wollen. Unabhängig davon, ob wir uns damit identifizieren können oder nicht.«
Diese Fähigkeit, wenn wir mit dem entsprechenden Menschen eine romantische Liebesbeziehung teilen wollen, bezieht sich meiner Meinung nach nämlich immer auf ein Individuum. Ein Individuum von dem wir andersherum ja (hoffentlich) die selbe Fähigkeit zu unseren Gunsten entgegengebracht bekommen.
Mr. Shaw hat in prägnanter Kurzform formuliert, was längst auch wissenschaftlich erkannt wurde – und was ich bereits verschiedentlich auf diesem bLog zitiert habe; hier noch einmal, weil es so wichtig ist:
»Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«³
Also ist dieser „Prozess“ kein Selbstläufer und er ist obendrein – wie die bLoggerin Sacriba ganz richtig beobachtet hat – „sehr verletzlich“. Denn wir Menschen wählen aus natürlichem Selbstschutz sehr viel eher eine 1:1-Situation, um zunächst einmal lediglich angesichts einer Person unsere Schilde zu senken und Teile unserer Alltagsrüstung auf Vorvertrauensbasis abzulegen. Solch einen Prozess würden die allermeisten von uns ganz sicher erst in einem zweiten Schritt vor einer Gruppe wagen. Diese „Subsysteme“ also – um einen Begriff von Sacriba aufzugreifen, sind dadurch gewissermaßen die Maschinenräume gelingender Mehrfachbeziehungsführung. Sind diese gesund, d.h. jeweils auf Augenhöhe, aufrichtig, engagiert, vertrauensvoll, und wertschätzend, kann jene Energie erzeugt werden, die dann in einem eventuellen „Gesamtsystem“ zu kreisen beginnen könnte.
Möglicherweise war dieser Zusammenhang den Erzähler*innen der menschlichen Schöpfungsmythen latent – oder auch ganz wissentlich – klar: Abgesehen von der berühmten „guten Beziehung zu uns selbst“ sind wir in unseren menschlichen Verbindungen eben nicht „multitaskingfähig“. Dadurch kommt der Begegnung mit unserem jeweiligen direkten Gegenüber jedes Mal besondere Bedeutung zu – unsere ganze Aufmerksamkeit ist gefragt, Bewußtheit und die oben erwähnte „Aufeinanderbezogenheit“. Egal, ob in den Mythen die Menschenwesen aus Staub, Blut, Kieseln oder Schweiß entstanden – sehr rasch steht jedesmal fest, daß ein „Ich“ vor allem erst einmal ein „Du“ braucht, um sich selbst begreifen aber auch spiegeln zu können.
Mit jedem unserer Lieblingsmenschen jeweils eine eigenständige, vollständige und ganz und gar individuelle Beziehung zu führen ist also von erheblicher Bedeutung für ein gelingendes Partnerschaftsnetzwerk, welches auch zu Mehreren gelingen soll.
Die allererste Grundlage dafür, die Keimzelle, beginnt zwischen zwei Leuten.
Vielleicht war es genau das, was uns die Götter schon zu Anbeginn der Menschheit mit auf den Weg geben wollten.
¹ Die Bibel, Altes Testament – 2. Mose 20, 5: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ / 2. Mose 34, 14: „Denn Jahwe trägt den Namen «der Eifersüchtige»; ein eifersüchtiger Gott ist er.“
² Alle Beispiele entstammen der leider nur auf der englischen Wikipedia verfügbaren Sammlung „List of creation myths“ und ihren dortigen Weiterleitungen zur Maya-Schöpfung, dem Kumulipo und zu Kuterastan.
³ S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“– A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000
Erstmals bei mir Eintrag 14, aber auch Eintrag 46 (zur Selbsterkenntnis), Eintrag 62 (über Beziehungsfähigkeit) und Eintrag 71 (über Polyamorie).
Danke an Morrisio Indra Hutama auf Unsplash für das Foto!