Eintrag 16 #Kommunikation

Kein guter Tag zum Grillen

In Eintrag 4 schrieb ich, daß ich hinsichtlich der Oligoamory „Kommunikation“ eher als „flexible Stellgröße“ denn als in Stein gemeißelten „Wert“ ansehe.
Die allermeisten Texte, Podcasts und Videos zum Thema ethischer Non-Monogamie betonen „Kommunikation“ als eine der wichtigsten Säulen funktionierender Mehrfachbeziehungen – und das selbstverständlich auch zu Recht und mit gutem Grund. Daher werde auch ich meinerseits in Zukunft garantiert noch den ein oder anderen bLog-Eintrag diesem elementaren Stoff widmen.
Gleichzeitig ist mir in letzter Zeit aufgefallen, daß „gute Kommunikation“ ihrerseits genau genommen ebenfalls „flexible Stellgrößen“ benötigt, um überhaupt stattfinden zu können.
Eine solche Stellgröße sind die eigenen Ressourcen bzw. die eigene Aufgestelltheit der kommunizierenden Personen.
Das mag im ersten Moment seltsam klingen – aber vielfach scheitert Kommunikation doch bereits an dem ersten gut gemeinten Rat: „Setzt Euch doch hin und redet mal vernünftig miteinander!“
Familie ist für kleine Gemeinschaften gelegentlich ein durchaus passendes Übungsfeld, darum bringe ich zu der Problematik, die ich skizzieren will, ein persönliches Beispiel.


So brachte mir meine Tochter am Donnerstag einen dieser berühmten „Informationszettel“ mit. Darin wurde ich als Elternteil über die Details des am direkt folgenden Montagabend stattfindenden „Schuljahrsendtreffen“ mit beiden Klassenlehrern, Eltern und Schülern unterrichtet.
Das Schreiben begann mit dem schönen Satz „Liebe Eltern, wie Ihnen schon von Ihrer Tochter / Ihrem Sohn mitgeteilt wurde, wollen wir am kommenden Montag auf unserem Grillplatz gemeinsam das Schuljahr ausklingen lassen […]“.
Der betreffende Zettel lag Donnerstagmittag irgendwann kommentarlos auf dem Küchentisch (wo ich ihn entdeckte, als ich wegen meiner eigenen Mittagspause den Raum betrat) und – die werten Leser werden es ahnen – es war mir davon bislang kein Sterbenswörtchen im Vorfeld „schon mitgeteilt“ worden.
Nun gebe ich zu, daß bei zwei Kindern in mittlerweile 8 Schuljahren sowohl eine Menge Zettel als auch eine Menge mehr oder weniger wichtige schulische Veranstaltungen an ein geplagtes Elternteil herangetragen werden. Es sind so viele, daß ich mir – um einigermaßen die Übersicht zu behalten – angewöhnt habe, die Ankündigungen nach „Dringlichkeitsgrad“ zu priorisieren. Auf eine Einladung zu einem persönlichen Gespräch mit dem Mathelehrer über eine einbrechende Leistungskurve reagiere ich daher prompter als auf den Spendenaufruf zum Sportfest oder die Info mit den verschiebbaren Ferientagen. Und ganz am Ende meiner Liste kommen Einladungen zu sozialen Ereignissen, die mit Schule nur noch in sofern zusammenhängen, als daß die Menschen, die sich dort treffen, irgendetwas mit der Klasse 8b zu tun haben (was bei mir individuell außerdem daran liegt, daß ich bezüglich sozialer Zusammenkünfte zur Freizeitgestaltung mit größtenteils fremden Menschen in nahezu keinem Kontext großen Enthusiasmus aufbringe…).
Um eintreffende Nachrichten meinem System von „wichtig“ oder „unwichtig“ zu unterwerfen, muß ich sie nichtsdestoweniger alle zu diesem Zweck wenigstens einmal lesen (das ist immerhin schon mal ein Pluspunkt für mich!).
In diesem Fall wußte ich sogar, daß ich „kommenden Montagabend zwischen 18:00 und 20:30 Uhr“ größtenteils noch mit Tagesarbeit beschäftigt wäre und damit eine plausible Erklärung für meine Nicht-Teilnahme hätte. Ehrlicherweise müsste ich aber zugeben, daß ich für eine persönliche Vorladung durch den Mathelehrer mit einem Krisengespräch zur Leistungskurve selbstverständlich die Kapazität freigeschaufelt hätte (und dies auch nicht mit allzu großem Aufwand für mich verbunden wäre).
Immerhin traf ich meine 14jährige Tochter im Laufe des Donnerstagsabends doch noch einmal an und stellte ihr wiederum frei, ob sie zu dem Grillfest gehen wollte oder nicht („Die Schüler*innen teilen den Lehrern bis Freitag mit, wie viele Teilnehmer*innen aus ihrer Familie in etwa zu erwarten sind […] “). Auch bot ich ihr an, ihr dann etwas zum Grillen zu besorgen. Nun. Eltern von Teenagern ahnen es – die geschätzte Antwort war ein konkret-messerscharfes „Ach, weiß nich’…“.

Manche Ratgeber empfehlen es: Vielleicht wäre hier der Punkt gewesen, zu einem Gespräch über Kommunikationskultur – also quasi Metakommunikation – anzusetzen, angefangen von der allgemeinen Art und Weise des Überbringens schulisch relevanter Nachrichten bis hin zu dem konkreten Formulieren eines Meinungsbildungsprozesses – von dem ja wieder Handlungen weiterer Personen (in dem Fall meine) abhängig gewesen wären.
Kurzum – das tat ich aber nicht und ließ die Sache auf sich beruhen.

Auch wenn diese kurze Begebenheit eventuell jetzt kein so rosiges Licht auf die organisatorischen und rhetorischen Leistungen Heranwachsender wirft – so erzählt sie genau genommen in der Hauptsache etwas über mich.
Was mir klar wurde, als ich am Samstag von meiner Nesting-Partnerin angesprochen wurde, ob ich mich mit meiner Tochter über das Grillfest unterhalten hätte. Und ob ich nachgefragt hätte, was es mit der unterbliebenen Vorankündigung „…wie ihnen schon von Ihrer Tochter / Ihrem Sohn mitgeteilt wurde…“ auf sich gehabt hätte (denn meine Nesting-Partnerin legt als Herrin des Terminkalenders gelegentlich durchaus Wert auf zeitnahe und konkrete Koordinierung).

Hier fehlt doch jemand…?

Wie ist das also mit „meinem Anteil“ an dem (kommunikativen) (Nicht-)Geschehen?
Ich muß zuallererst zugeben, daß ich, Oligotropos, Angelegenheiten, die direkt mich selbst betreffen, an die oberste Stelle setze. Im Verhältnis zu dem beschriebenen Beispiel hätte mich also z.B. ein Schreiben vom Finanzamt, mit meinem Namen als Empfänger darauf, deutlich mehr beeindruckt – und zu einer engagierteren Reaktion geführt. Dabei hat die Schule ja das Ihrige getan, um mich einzubinden – denn mit der Anrede „Liebe Eltern“ war ja ganz eindeutig auch ich gemeint. Trotzdem war ich voreingenommen, indem ich den „Themenkreis Schule“ der Hemisphäre meiner (eben nicht mehr ganz so kleinen) Kinder zugerechnet hatte. Und das nicht so sehr im Sinne von „Ist nicht mein Problem“, sondern mehr im Sinne von „Nicht in erster Linie mein Problem“ – und damit eben nicht Hauptpriorität.
Damit begann für mich jedoch eine „Abwärtsspirale der Verringerung“. Das mag auch daran liegen, daß meine Kinder in der Schule insgesamt ziemlich gut sind. Wodurch ich im Allgemeinen in der Gesamterwartung lebe, daß der „Themenkreis Schule“ sich nicht von heute auf morgen in einen dramatischen Brandherd verwandelt, der meine volle Aufmerksamkeit verlangt (Aber man weiß ja: Gerade hinsichtlich solcher Erwartungen kann einen das Leben gelegentlich recht unversehens überraschen…). So degradierte ich die Begebenheit „Elternbrief & Grillfest“ zu einer „kleinen (Neben)Begebenheit“ und mein Gehirn, stets um kohärente Strukturen bemüht, erledigte die Ablage indem „klein“ mit „schon nicht so wichtig“ synonymisiert wurde.
Wie oben gezeigt, hatte ich meinem „internes Ablagesystem“ aber auch schon eine Steilvorlage geliefert, da mein Gehirn doch meine Abneigung betreffs „sozialer Aktivitäten“ bestens kannte – und so quasi auch noch Schützenhilfe vom „inneren Schweinehund“ bekam. Der „Schweinehund“ wiederum wußte bestens um meinen derzeitigen Erschöpfungszustand durch eine augenblicklich akut erhöhte Arbeitsbelastung bei mir.
Dennoch schaffte ich es, den Elternbrief gegenüber meiner Tochter anzusprechen, da ich für die Einkäufe zuständig bin und das Schreiben besagte, daß „alle ihr Essen und ihre Getränke selbst mitbringen“. „Einkauf“ und „für die Familie sorgen“ haben bei mir nämlich durchaus eine erhöhte Priorität (die ich tatsächlich unter nahezu allen Umständen aufrecht erhalte, sogar, wenn ich ziemlich angeschlagen bin).
Die unentschlossene Antwort meiner Tochter betreffs der Teilnahme war dann allerdings so unmotiviert, daß ich nicht einmal erkennen konnte, ob ich irgendwie zu ihrem Wohlbefinden in Sachen Grillfest beitragen konnte.
Und dies nagelte den letzten Nagel in den Kommunikationssarg: Das „Weiß nich’…“ meiner Tochter bestätigte mir, daß auch für sie das Sommerfest wohl ein Niederprioritätsziel war und ich hakte das Thema ab – als buchstäblich: Nicht der (weiteren) Rede wert. Womit auch jede weitere Unterhaltung über das „Wie“ der Nachrichtenübermittlung mitbegraben wurde. Denn warum noch Disharmonie riskieren, deren Auslöser dann ja auch noch ein Themas wäre, daß von allen beteiligten Seiten mit so wenig Dringlichkeit verfolgt wurde?

Das meinte ich am Anfang mit „Ressourcen“ und „persönlicher Aufgestelltheit“.
Echte Kommunikation wegen des anliegenden Themas, in der alle Beteiligten ihre Interessen darstellen konnten – egal wie diese dann qualitativ ausgefallen wäre – fand bei uns gar nicht erst wirklich statt.
Darum werden wir auch nie erfahren, wie dieses Gespräch abgelaufen wäre – und nur ihr werten Leser lernt hier (lediglich) meine Beweggründe kennen, bei denen es jedoch wichtiger gewesen, wenn es mir gelungen wäre, sie gegenüber den Mitgliedern meiner sozialen Gruppe (hier: Familie) offenzulegen. Auch „Familie“ ist ja genau genommen schon oft eine vollwertige „Mehrfachbeziehung“ (selbst wenn manche Verbindungen – Kinder zu Eltern z.B. – nicht immer auf freier gegenseitiger Wahl beruhen).

Wie beeinflußt also mein obiges Verhalten eventuell so eine „Mehrfachbeziehung“?
Zum einen darf ich natürlich mir und meinen eigenen Bedürfnissen auch in sozialen Situationen einen hohen Stellenwert einräumen. Denn – wie in Eintrag 11 dargestellt – bin ich schließlich der „Held meines eigenen Lebensfilmes“.
Gleichzeitig stehe ich aber nicht über oder neben dieser sozialen Situation, sondern bin Teil davon, womit ich – da ich ja freiwillig an meiner Gemeinschaft teilhabe – zu dem „gemeinsamen Wir“, welches ich in der Oligoamory so häufig zitiere, beitragen möchte. In Eintrag 11 zeige ich daher ebenfalls, daß es für Homo sapiens kein Widerspruch ist, darum in seinen Handlungen Eigennutz und Gruppennutzen zu vereinen, vorausgesetzt daß ein Mensch sich als Teil dieser Gruppe bzw. Horde empfindet.

►Dadurch ist es – auf diese soziale Gruppe bezogen – sehr oft äußerst wichtig, Thema bzw. Gesprächsanlaß von der Gelegenheit zur Kommunikation bzw. dem konkreten Gespräch selber zu trennen (wenigstens im Kopf). Denn sonst stülpe ich meine persönlichen Gründe (z.B. Erschöpfung, Bequemlichkeit, Angelegenheit individuell nicht so wichtig nehmen), die ich mit dem Thema verbinde, der möglichen Gelegenheit zur Kommunikation insgesamt über – und damit meiner ganzen sozialen Gruppe. Welcher ich auf diese Weise a priori eine Mitsprachemöglichkeit gewissermaßen entziehe – und damit meine eigenen Beweggründe an die allerhöchste Stelle für die gesamte Gemeinschaft setze: Das „gemeinsame Wir“ ist mir dabei verlorengegangen.

Und dies war ja in meinem Beispiel nicht einmal ein bewußt-absichtsvoller Prozeß von mir, sondern fußte auf einer Reihe individueller Gegengründe, die infolge meiner situativen Befindlichkeit aus meiner Sicht sehr nachvollziehbar ineinander griffen.
Trotzdem habe ich mir durch diesen kurzfristigen Erfolg (Ich muß jetzt nicht zum Grillfest gehen/beitragen) mehrere wichtige Chancen in Bezug auf meine Gemeinschaft verbaut:
Ich habe eigentlich nicht erfahren, ob Töchterlein wirklich zu dem Abschlußfest gehen wollte oder ob sie nur recht deutlich gespürt hatte, daß ich „die Sache“ eigentlich für mich schon entschieden hatte. Schließlich agieren ja auch die anderen Teilnehmer unserer sozialen Gruppe „reziprok“ – also beziehen wiederum in die eigenen Wünsche und Entscheidungen die Befindlichkeiten der Anderen als Wechselwirkung mit ein (insbesondere Kinder oder sensiblere Individuen).
Genauso bin ich einem Gespräch hinsichtlich der möglichen Verbesserung der Gesamtgesprächskultur aus dem Weg gegangen – und habe dabei ganz genau genommen sogar noch ein Paradebeispiel für schlumpfigen Umgang damit geleistet.
Wodurch ich obendrein mir selber die Gelegenheit genommen habe, mich gegenüber meinen Lieblingsmenschen offen zu zeigen, mit meiner evtl. Überforderung oder meinen Bedürfnissen.
Auf diese Weise ist das, was ich in der Oligoamory als die Kernkompetenz des „gemeinsamen Wirs“ ansehe, nämlich die gemeinsame Ressourcenvereinigung und die Kraft der Unterstützung daraus, gar nicht erst zur Entfaltung gekommen.
Selbstverständlich hätte am Ende das Ergebnis das Gleiche sein können: Vielleicht hätte die Gruppe nicht genug Kapazität gehabt, so kurzfristig das Projekt Grillfest irgendwie zufriedenstellend noch im Terminplan unterzubringen. Oder es hätte sich tatsächlich erwiesen, daß ohnehin wirklich niemand Lust darauf gehabt hätte.
Aber mehr Köpfe hätten vielleicht auch ganz erstaunliche Möglichkeiten gefunden oder überraschende Motivation gezeigt – die ich in meinem eigenen müden und harmoniebedürftigen Kopf allein gar nicht hätte vorhersehen können.
Plus: Auch Kommunikation kann, wie jede Fähigkeit, am Besten durch Übung verbessert werden. Sogar, wenn dafür ein nicht völlig harmonisches Gespräch in Kauf genommen werden müsste, weil auch das „wie“ (Zettel wortlos auf dem Küchentisch) dabei auf die Tagesordnung gekommen wäre.

Manchmal benötigen wir also den Mut, nicht „alles mit uns alleine abzumachen“. Insbesondere, wenn wir uns als Teil einer engen Gemeinschaft sehen. Selbst Dinge, die wir selber als vermeintliche Kleinigkeiten einstufen, werden höchstwahrscheinlich das Ganze – und damit alle anderen Beteiligten – auf irgendeine Art berühren.
Unser wechselseitiges Vertrauen können wir deshalb am meisten durch die Transparentmachung unserer persönlichen Beweggründe stärken.
Es ist möglich, daß uns dabei am Ende des Tages klar wird, daß diese „guten Gründe“ für die Anderen nicht ganz so heldig oder nachvollziehbar waren, wie wir selber dachten.
Aber die Wahrscheinlichkeit ist viel höher, daß wir von unserer Gemeinschaft und dem „mehr als die Summe ihrer Teile“ profitieren werden, weil uns von unerwarteter Seite Unterstützung oder wenigstens Verständnis zukommen wird.
Ich hoffe, daß mir nächstes Mal dieser freundliche Gedanke rechtzeitig hilft, wenn ich einem Gespräch von vornherein aus dem Weg gehe, weil ich glaube über nicht genügend Kapazität dafür zu verfügen.




Danke an sacriba von sacriba’s Blog für die Nachfrage hinsichtlich der „guten (persönlichen) Gründe) und Dank für das Küchentischbild an Jill Wellington auf Pixabay.

Eintrag 15 #Vertrauen

Trau, schau, wem? (Volkstümliches Sprichwort)

Ich finde das oft schwierig, überhaupt irgendjemanden kennenzulernen. Zu Anfang gibt es ja noch so gar kein Vertrauen, auf das man aufbauen könnte...“
Das sagte neulich ein*e Freund*in zu mir, als wir über Mehrfachbeziehungen sprachen.
Und obwohl dies im ersten Moment vollkommen nachvollziehbar klingt, gibt es dennoch zu jeder Zeit für die meisten von uns sogar schon zwei Arten von Vertrauen, die uns in so einem (schönen) Fall bereits zur Verfügung stehen.
Zwei?
Ja, richtig gelesen.
Und mit der eher unbekannteren Form, nämlich dem sogenannten „Swift Trust“ (deutsch etwa:„Rasches Vertrauen“), möchte ich heute ganz geschwind beginnen.

Swift Trust

Die „Swift Trust Theory“ wurde erstmals im Jahr 1995 von dem Neuropsychologen D. Meyerson, dem Organisationstheoretiker K.E. Weick und dem Sozialpsychologen R.M. Kramer in der Aufsatzsammlung „Vertrauen in Organisationen: Grenzen von Theorie und Forschung“ (erschienen bei Sage-Publications, London) formuliert.
Genau genommen beschrieben sie eine menschliche Dynamik, welche sie in unternehmerischen Zusammenhängen beobachtet hatten, nämlich wenn fremde Menschen einigermaßen plötzlich als Team zusammenarbeiten mußten.
Also: Zu einem Zeitpunkt, an dem weder zeitlich noch auf Grund von bereits bestehender Bekanntschaft irgend ein Kriterium für echtes Vertrauen erfüllt war.
Obwohl „Swift Trust“ also ursprünglich eine Erscheinung aus der Welt der Arbeits-Verhältnisse ist, glaube ich dennoch, daß es einige Kriterien davon gibt, die ebenfalls beim Kennenlernen und Verlieben für „Normal-Beziehungen“ ausschlaggebend sind (beobachtet Euch selbst!):

  • Orientierung: Da alle neu sind und die Situation noch nicht wirklich überschauen/abschätzen können, entsteht tatsächlich eine verbindende „Gemeinsamkeit“. Zusätzlich wird in solch einer noch unübersichtlichen Lage bei allen Beteiligten Adrenalin ausgeschüttet – wie bei dem berühmten „Brückenexperiment“¹, was einen zusätzlichen Anreiz zur Kooperation setzt.
  • Normativität: Ungewissheit läßt die meisten Menschen quasi wie ein „Sicherheitsnetz“ sehr stark auf angepaßte bzw. normierte Verhaltensweisen als „Krisenmodus“ zurückschalten. Umso erfolgreicher ist dabei, wer extreme Handlungen oder Äußerungen vermeidet und sich damit als verläßlich bzw. berechenbar positionieren kann.
  • Erwartungen: Ja, auch das ist belegt. Auch die jeweiligen Erwartungen an einen erfolgreichen Verlauf schaffen eine weitere „Gemeinsamkeit“ (obwohl die Details dessen, „was“ diesen Erfolg ausmachen soll, individuell stark abweichen können).
  • gleichartig ausgerichtete Aktivitäten und gemeinsame Belohnung(en): Sind quasi anfängliche „Verstärker“, welche die Möglichkeit einer Synchronisierung der Beteiligten erleben lassen (Deswegen balzen z.B. auch Tiere in komplexen aufeinander abgestimmten Mustern, um immer mehr Nähe [zu einem sonstigen Konkurrenten] zulassen zu können).
  • Der Eindruck starker wechselseitiger Aufeinanderbezogenheit: Für unser Gehirn gilt: Auch das Sein beeinflußt das Bewußtsein. Wenden wir uns gerade in einer Anfangsphase wechselseitig einander intensiv zu, nimmt unser Gehirn gerne das „Teil für’s Ganze“ – und erzeugt den Eindruck, daß es wohl bei soviel Vertrautheit schon eine gemeinsame Grundlage gibt (die realistischerweise noch nicht etabliert sein kann).
  • knappe Zeit: Viele erste Treffen sind situativ oder nur punktuell, meistens jedenfalls nicht alltäglich. Ähnlich wie im Brückenexperiment¹ fokussiert unser Wahrnehmungsapparat in solchen Situationen auf das Naheliegende (für egoistische oder unproduktive Aktivitäten, die uns in schlechtem Licht zeigen könnten, ist erst einmal gar kein Raum).
  • ausreichende Ressourcen (materiell oder psychisch): Auf einem Konzert kennengelernt, in einer Kneipe oder auf einem Seminar? Das alles sind in gewisser Weise „Wohlfühlumgebungen“ für uns, in denen wir uns – wenn auch nicht völlig „sicher“ – als „in Fülle“ bzw. auf jeden Fall in einer „Vorzugssituation“ erleben. Wir agieren großzügiger und unbesorgter.
  • starke Prozessorientierung: Persönliche Problemen oder individuelle Kritik werden in diesem Modus meistens weit nach hinten gestellt. Die allgemeine Priorität ist „…daß es erst mal möglichst reibungslos Fahrt aufnimmt“.

Die Kritik – auch die wissenschaftliche – an der „Swift Trust Theorie“ liest sich wie guter freundschaftlicher Rat: Dieses „Rasche Vertrauen“ ist in jedem Fall ein menschlicher Mechanismus zur Reduktion von Komplexität in einer unvertrauten Situation. Damit erfüllt es viele Kriterien, die z.B. auch in Modellen zum Krisenmanagement enthalten sind.
Und schon unsere Mütter sagten: „Niemand kann sich länger als 14 Tage verstellen.“ Womit sie auch beim „Raschen Vertrauen“ Recht behalten werden, denn bei langfristigerer Kooperation von Menschen erhält die Komponente „Kommunikation“ eine immer höhere Bedeutung. Gerade gute Kommunikation (oder vielmehr das Ausbleiben derselben) stellte sich aber als echte Achillesferse der „Swift Trust Theorie“ heraus, da diese Art von anfänglichem (Vor)Vertrauen für das grundlegende Vermitteln von Vertrauenswürdigkeit zwar elementar ist, aber als eben nicht als Ganzes für einen stabilen Beziehungsaufbau ausreicht.

Doch ich schrieb ja von „zwei“ Arten von Vertrauen, die uns auch ohne irgendwelche Vorkenntnisse betreffs unseres Gegenübers zur Verfügung stehen. Gibt es für uns also noch eine solidere Komponente als das „Rasche (Vor)Vertrauen“?
Ja – aber über diese Variante verfügen nicht alle von uns in gleicher Menge. Es handelt sich nämlich um das

Selbstvertrauen

Über etwas Selbstvertrauen zu verfügen ist in unvertrauten Situationen – insbesondere in Hinsicht auf andere Menschen – von großem Vorteil. Denn dies bedeutet ja nichts weniger, als daß wir auf diese Weise auch in unsere Kompetenz vertrauen, mit eventuellen Herausforderungen oder sogar Schwierigkeiten umgehen zu können. Wenn wir so überwiegend der Überzeugung sind, daß da nahezu kommen kann was will und wir uns diesbezüglich zutrauen, damit fertig zu werden, dann haben wir insgesamt weniger Angst – und das ist eine sehr wichtige Vorbedingung für echtes wechselseitiges Vertrauen.
Mit ausstreichendem Selbstvertrauen gelingt es uns ebenfalls besser, die anderen als „Helden in ihrem eigenen Lebensfilm“ (wie in Eintrag 11) anzusehen – die vielleicht mal unglücklich agieren, grundsätzlich aber, so wie wir selber auch, gute Absichten verfolgen.

Mangelndes Selbstvertrauen hingegen führt dazu, daß wir beginnen ängstlich zu werden, wodurch wir schnell in „Verteidigungsbereitschaft“ oder eine Abwehrhaltung gehen – denn dann glauben wir, daß wir anderen „nicht gewachsen“ sind, bzw. wir stufen uns selbst als „schwächer“ ein.
Selbstvertrauen hat durch diese Verknüpfung leider eine Menge mit unserer Grundeinstellung gegenüber anderen Menschen zu tun. Und diese Grundeinstellung wiederum ist sehr stark von unseren Erfahrungen während unseres Aufwachsens beeinflußt worden.
„Negative“ elterliche Bindungsstile, wie ich sie in Eintrag 14 beschrieben habe, verfolgen uns bis in unser Erwachsenenleben:
Ängstliche“ Bindungen haben z.B. den Glauben an unsere Selbstwirksamkeit untergraben, indem wir vielleicht überbehütet wurden und selten eigene Erfahrungen machen durften.
Vereinnahmende“ Bindungen stellten (zu) hohe Anforderungen an uns, bei denen wir uns als scheiternd oder als „nie genug“ erleben mußten.
Und in „abweisenden“ Bindungen erfuhren wir möglicherweise keine Unterstützung in Notsituationen bzw. daß Zusagen an uns selten eingehalten wurden.
Solche Lernerfahrungen aber vermitteln Menschen, daß sie weder den eigenen Fähigkeiten, noch anderen Personen, noch dem Leben selbst wirklich vertrauen können.

Leider haben sowohl die sozialen als auch die psychologischen Forschungen der letzten 25 Jahre erwiesen, daß nicht nur wir selber Opfer einer so „erlernten“ Haltung werden, sondern daß auch alle Personen, mit denen wir interagieren, diese Haltung – die sich ja oft in irgendeinem Maß von persönlicher Distanz oder innerer Reserviertheit niederschlägt – durchaus, wenn auch vielleicht nur unbewußt, registrieren.
Dies kann schlimmstenfalls zu dem Phänomen der „selbsterfüllenden Prophezeiung“ führen, in dem unsere innere Haltung exakt die Resultate und Reaktionen bei anderen Menschen hervorruft, die wir befürchten. Denn genau unsere Haltung aus Vorbehalt – oder zumindest Zurückhaltung – macht uns für die andere Seite zu „Wackelkandidaten“, die schwer einzuschätzen sind und bei denen es schwierig ist, den Mut zur Investition in ein Vorvertrauen aufzubringen.

Gemäß der deutschen Wikipedia bezeichnet Vertrauendie subjektive Überzeugung von der (oder auch das Gefühl für die oder Glaube an die) Richtigkeit, Wahrheit von Handlungen, Einsichten und Aussagen bzw. der Redlichkeit von Personen. Vertrauen kann sich auf andere oder das eigene Ich beziehen.“
Da ein angeschlagenes (Selbst)Vertrauen tiefe Ursachen hat, die nicht mit schlichtem positiven Denken oder einem 14tägigen Programm zur Verhaltensänderung aus der Welt geschafft werden können, möchte ich hier – wo ich mich ja hauptsächlich in der Welt verbindlich-nachhaltiger Nahbeziehungen bewege – drei mögliche Anregungen oder Hilfestellungen geben, die auch bei mir selber zumindest zeitweise gute Wirkung entfalten:

  1. Im weltweiten Netz surfe ich mit einem Adblocker und in sozialen Netzwerken blockiere ich ungeliebte Inhalte. Im wahren Leben „da draußen“ geht es zwar manchmal wie im Internet zu – trotzdem habe ich dort selbst maßgeblich die Wahl, mit welcher „Voreinstellung“ ich mich bewege. Die oft gewählte Schutzhaltung „Das Schlimmste annehmen, damit man wenigstens nicht enttäuscht wird“ ist bei Begegnungen mit echten Menschen fast nie sinnvoll, denn im schlimmsten Fall habe ich mich vielleicht selber geschützt – doch auch im besten Fall passiert dann höchstwahrscheinlich schlicht gar nichts. Denn nur, wenn ich mich mit „deaktiviertem Menschenblocker“ wenigstens etwas öffne, habe ich überhaupt die Chance auf irgendeine menschliche Begegnung. Und die kann ja nur dann wirklich weiter führen, wenn mein ausgeschalteter „Block“ der anderen Person signalisiert, daß wiederum ihre Zukunftserwartung in mich aussichtsreich ist.
  2. Wie in Eintrag 11 „Held im eigenen Film“ gezeigt, ist meine eigene Haltung ein direkter Beitrag zu einer zugewandteren Welt.
    Einmal färbt mein Sein selbstverständlich wieder direkt mein Bewußtsein: Wenn ich mißtrauisch bin, ist die Wahrscheinlichkeit exorbitant hoch, daß ich auch Mißtrauen erleben werde.
    Andererseits hilft manchmal tatsächlich etwas Zweckidealismus: Der Gedanke, daß „da draußen“ liebenswerte und vertrauenswürdige Menschen sind, macht mich selber friedlicher. Dadurch bin ich selber quasi mein eigener Beitrag zu einer „besseren Welt“. Auf diese Weise kann ich bereits in einer ersten kleinen Dimension Selbstwirksamkeit erfahren, was definitiv eine Basis für jeden weiteren Aufbau von gesundem Selbstvertrauen legt.
  3. (für Fortgeschrittene): Sehe ich mich dennoch enttäuscht, weil andere mich meiner Meinung nach eventuell ausnutzen oder ablehnen, versuche ich, meine Enttäuschung und meine Wünsche mitzuteilen. Wird von der anderen Seite das Verhalten fortgesetzt, erhalte ich für mich einen Moment großer Klarheit darüber, daß die Person gegenüber momentan nicht zu meinem Wohlergehen beitragen möchte. Da ich nicht wissen kann, was ihre Beweggründe dafür sind (und ich in so einer Konstellation dann oft genug mit mir selber zu tun habe und ich dann selten Ressourcen zur Klärung habe) kann ich mich aus dieser Situation entfernen bzw. den Kontakt zu dieser Person auf das notwendige Maß begrenzen.
    Das ist aber schon ein Riesenfortschritt, weil es eine situationsbezogen angepaßte Reaktion von mir ist. Und so kann ich selbstwirksam gezielt reagieren statt mit voreingestelltem „Blocker“ in eine Gesamtvermeidungshaltung zu verfallen, die mir von vornherein jede Möglichkeit auf potentielle Lebensfreude trübt.

¹ Schon 1974 veröffentlichten die amerikanischen Psychologen Donald Dutton und Art Aron in der Zeitschrift „Journal of Personality and Social Psychology“ ein Experiment, das sie auf zwei Fußgängerbrücken über dem Capilano Canyon in North Vancouver durchgeführt hatten. Dieses belegte eine erhöhte „Vertraulichkeitswahrscheinlichkeit“ unter unsicheren Außenumständen.

Danke an die Psychotherapeuten Doris Wolf und Rolf Merkle und ihrem Buch „Verschreibungen zum Glücklichsein“ (pAl-Verlagsgesellschaft 2017), in dem in knapper Form Zusammenhänge rund um das Thema „Vertrauen“ dargestellt sind.
Und Dank an Purnomo Capunk auf Unsplash.com für das Foto.

Eintrag 14

Amor und Psyche

Das Gespräch mit dem Oligoamoren letzte Woche hat mich nachdenklich gemacht. Irgendwie glaube ich immer noch, daß diese außergewöhnlichen Menschen über einen besonderen „6. Beziehungssinn“ verfügen, der uns „Normalsterblichen“ so meistens nicht zur Verfügung steht.
Und obwohl ich ja nun von den Oligoamoren schon ein paar Dinge abgeguckt habe, die die Grundlage guter (Mehrfach)Beziehungsführung bilden, so frage ich mich nun doch wieder, was uns denn eigentlich manchmal hindert, trotz dieses Wissens ein gutes Fundament für eine haltbare Beziehung zu etablieren.
Gibt es dazu auch außerhalb des entlegenen Eilands der Oligoamory meßbare Größen, die begründet die Qualität einer (Liebes)Beziehung beschreiben können?

So grabe ich mich eine Woche durch die Archive der alten Welt und entdecke – beinahe durch einen Zufallsfund¹ – die „Bestandsaufnahme zu Nähe in Beziehungen“ – Eine Einschätzung zur Nähe in zwischenmenschlichen Beziehungen – aus der „Zeitschrift für Persönlichkeit und Sozialpsychologie“ No. 57, S. 792-807, von E. Berscheid, M. Snyder und A.M. Omoto aus dem Jahr 1989.
Wenn mich jemand fragt, warum ich ausgerechnet diese Untersuchung, die ja dieses Jahr nun schon ihren 30. Geburtstag feiert, hervorkrame, dann möchte ich dies kurz erklären: Die „Nähebestandsaufnahme“ der oben genannten Wissenschaftler aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts bildete eine Grundlage für zahlreiche weitere Forschungen des zwischenmenschlichen Bindungsverhaltens, die bis heute andauern. „Bestandsaufnahme“ ist in dem Fall übrigens ganz wörtlich zu nehmen, denn aus den Parametern der Untersuchung wurde eine Art „Beziehungstest“ zusammengestellt, der bis heute im Internet absolviert werden kann (leider nur als englische Version verfügbar). In den letzten drei Jahrzehnten ist dieser „Test“ selbstverständlich viele Male, und nicht immer ernsthaft, abgerufen worden, um für Neugierige die vermeintliche „Güte“ ihrer Beziehung zu bestimmen.
Dennoch waren Berscheid, Snyder und Omoto wichtigen Ausgangspunkten auf der Spur. Sie ermittelten für eine „gute Nähebeziehung“ namentlich die Einflussgrößen a) „Häufigkeit von Interaktion“, b) „Vielfältigkeit von (gemeinsamen) Aktivitäten“ und c) „Stärke der (wechselseitigen) Einwirkung der Beziehungsperson(en) “.
Allein die Betrachtung der Häufigkeit von Interaktion zeigte, daß „Nähe“ in einer Beziehung nicht nur von einer rein „metaphysische Komponente“ im Sinne von „sich jemandem verbunden fühlen“ bestimmt wird, sondern ganz buchstäblich direkt von konkret miteinander verbrachter Zeit qualitativ abhängt [Ich hebe dies hervor, da bis heute insbesondere in den freiheitsbetonenden Kreisen der Polyamory – z.B. um Fern- und Wochenendbeziehungen aufzuwerten – dieser Zusammenhang immer noch regelmäßig relativiert wird. Er ist aber zutiefst menschlich, real – und elementar.].
Sehr irdisch-menschlich waren auch die Überlegungen hinsichtlich der Vielfältigkeit der Interaktionen, da die Wissenschaftler dort keinesfalls besonders ausgefallene Unternehmungen ansetzten, sondern vielmehr eine breite Palette alltäglicher Aktivitäten beschrieben (wie z.B. gemeinsames Wäschemachen, Besuch von Freunden – aber durchaus auch einen Konzertbesuch), welche dem Erleben von „Nähe“ in einer Beziehung förderlich sind.
Die dritte „Achse“ ihrer Variablen bildete die wechselseitige Einflußnahme der Beziehungsmenschen aufeinander, was die persönlichen Entscheidungen und Pläne betraf. Dies war ein wegweisender Gedanke – den ich persönlich als äußerst oligoamor empfinde – da die Wissenschaftler damit erstmals ein Maß für ein überpersönliches „gemeinames Wir“ formulierten. Also eine Betrachtung all der kleinen Gesten und Zugeständnis, die Menschen in einer echten Beziehung füreinander aufbringen, um zusammen wirkliche Gemeinschaftlichkeit und Verbundenheit zu erleben.
Indem in der Arbeit von Berscheid, Snyder und Omoto erstmals alle drei Faktoren (a-Häufigkeit, b-Vielfältigkeit, c-Aufeinanderbezogenheit) verbunden wurden, konnten auch erste Aussagen über die Belastbarkeit von Beziehungen abgeleitet werden. Denn damit stellte sich auch heraus, wie wichtig das Erfahren von „Nähe“ für essentielle Beziehungsbausteine wie z.B. Verbindlichkeit, Verläßlichkeit, Teilhabe und Identifikation ist. Und als bLogger über Oligoamory möchte ich hinzufügen: Und damit also auch für den „Nachhaltigkeitsfaktor“ einer Beziehung (siehe Eintrag 3).

Die „Nähebestandsaufnahme“ nach Berscheid, Snyder und Omoto brachte in den darauffolgenden Jahren allerdings regelmäßig weitere Wissenschaftler*innen auf den Plan, die bemerkten, daß das Optimieren von „Häufigkeit“, „Vielfältigkeit“ und „Aufeinanderbezogenheit“ zum Gelingen einer Beziehung trotzdem nicht immer ausreichte – oder vielmehr: Daß die Beziehungspersonen dieses „Optimieren“ oftmals scheinbar selbst sabotierten.
Eine der wichtigsten Untersuchungen zu diesem Thema verfassten die Forscher K. Bartholomew und L.M. Horowitz, betitelt „Bindungsstile unter jungen ErwachsenenTest eines vier-Kategorien Modells “ – in der „Zeitschrift für Persönlichkeit und Sozialpsychologie No. 61, S. 226-244 im Jahr 1991.
Bartholomew und Horowitz setzten nämlich noch einen Schritt vor Berscheid, Snyder und Omoto an, und zwar mit der Frage „warum“ Menschen miteinander überhaupt (Liebes)Beziehungen eingehen würden. Da sie bemerkten, daß manche Menschen durch die oben erwähnte „Selbstsabotage“ regelmäßig Schwierigkeiten beim Eingehen und Aufrechterhalten ihrer Liebesbeziehungen hatten, versuchten sie mittels Befragungen mögliche Ursachen zu ermitteln. Und weil Störungen in der Eltern-Kind-Bindung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bei Tieren und Menschen vielfach untersucht worden waren (maßgeblich Harry Harlow, John Bowlby), vermuteten die Wissenschaftler einen Zusammenhang mit erlernten „Bindungsstrategien“ in der Kindheit und fragten daher sowohl nach dem Selbst- wie auch nach dem Fremdbild, welches die Proband*innen im Laufe ihres Aufwachsens entwickelt hatten.
Die Ergebnisse sollten sich an einem zwei-Achsen-Modell orientieren, wobei jeweils „besitzergreifend“ vs. „abweisend“ und „sicher“ vs. „ängstlich“ Gegensatzpaare bildeten.
Auf diese Weise identifizierten die Psychologen in der Tat bei ihren erwachsenen Teilnehmer*innen einen Zusammenhang hinsichtlich unterschiedlicher Bewältigungsstrategien für ein unbefriedigtes Bedürfnis nach Nähe in der früheren Eltern-Kind-Beziehung mancher Proband*innen:
Wer z.B. „Opfer“ eines eher abweisenden elterlichen Stils geworden war, versuchte in der Gegenwart in seinen (Liebes)Beziehungen überwiegend nun ein positives Selbstwertgefühl dadurch aufrechtzuerhalten, daß andere abgewertet wurden.
Bei Menschen, die einen ängstlichen Stil erfahren hatten, schlug sich die erlittene Zurückweisung in Minderwertigkeitsgefühlen und manchmal auch in Vermeidung allzu intensiver Vertrautheit nieder – was tendenziell schon den Aufbau einer Liebesbeziehung deutlich erschwerte.
Die jungen Erwachsenen aus besitzergreifenden Elternhäusern wiederum zeigten in ihren Liebesbeziehungen eher eine Tendenz zu Unselbständigkeit – bis hin zu Selbstaufgabe und Überidentifikation mit ihren Partner*innen.
Interessanterweise zeigte sich aber auch, daß für eine „sichere“ Bindung ebenfalls immer ein Mindestmaß an Anhänglichkeit sowie ein Bezogensein auf den Partner vorhanden sein mußte.
Das „Zwei-Achsen-Modell“ erlaubte nachzuweisen, daß es bei all diesen Erscheinungen zahlreiche Mischformen und sogar widerstreitende Tendenzen geben konnte.
Diese Basisergebnisse wurden in den Folgejahren durch ergänzende Untersuchungen mehrfach abgemildert, da die Befunde ansonsten einen zu hohen Grad an „pathologischer“ Beziehungsführung nahegelegt hätten, wenn nur das Maß elterlicher Zuwendung in der Kindheit für die Beziehungsfähigkeit allein ausschlaggebend wäre (M.W. Baldwin et al. 1996²). Denn es stellte sich zusätzlich heraus, daß Peergroup und Freundeskreis in der späteren Pubertät und beim Eintritt ins Erwachsenenalter einen nahezu gleichwertigen Effekt haben konnten – der dann in der Lage war „Vorschädigungen“ evtl. zu verstärken oder sogar vollständig aufzuheben.
Daß unsere Vergangenheit jedoch immer „mitliebt“, insbesondere was unsere Motivationen angeht warum und wie wir uns „in Beziehung begeben“, erwies sich in das 21. Jahrhundert hinein allerdings als immer deutlicher.

Als wichtiges Beispiel möchte ich darum zuletzt die Studie „Übermäßiges Konkurrenzdenken und Beziehungen: Weitere Auswirkungen auf Liebesbeziehungen, Familie und Peers“ in der Zeitschrift „Psychologie“ No.2, S. 269-274 der Forscher B. Thornton, R. Ryckman und J. Gold aus dem Jahr 2011 hinzuziehen. Denn wiewohl auch diese Betrachtung auf den beiden zuvor genannten aufbaut, zeigte sie trotzdem, daß auch „äußere Faktoren“ in der Gegenwart unsere Beziehungsfähigkeit beeinträchtigen können: Indem wir nämlich derzeit in einer Welt leben, die sehr stark einen „Kult des Individuums“ unterstützt und in der Nähebeziehungen gerne als „unzeitgemäß“ oder „klebrig“ und damit als Modell für Konventionalität oder gar als Beispiel für wechselseitige Abhängigkeit herhalten müssen. Da Nähe dennoch ein menschliches Grundbedürfnis bleibt, finden wir uns allerdings trotz solcher Anschauungen oft in Beziehungen zusammen – und aktuell werden ja gerade Mehrfachbeziehungsformen als Universallösung für unser Drama aus Individualismusstreben und Nähewunsch angepriesen.
Wenn wir allerdings in solchen Beziehungen (nur) auf unsere Individualität und die Erfüllung unserer damit verbundenen Bedürfnisse beharren, ohne die von Berscheid, Snyder und Omoto eingangs erwähnte Aufeinanderbezogenheit und Selbstzurücknahme zu berücksichtigen, dann betreten wir sehr schnell das Territorium des „Übermäßigen Konkurrenzdenkens“ (englisch: Hypercompetitiveness).
In ihrer Arbeit dazu konnten Thornton, Ryckman und Gold nämlich nachweisen, daß in solchen „Wettbewerbsbeziehungen“ ein hoher Grad an Selbstsucht, geringer Einlassung bzw. Oberflächlichkeit und Zweckdienlichkeit vorherrschte. Auch gelang es ihnen zu zeigen, daß die emotionale Unterstützung in solchen Beziehungen geringer ausfiel, das Konfliktpotential erhöht war und auch oft eine höhere Motivation bestand, das Verhalten der anderen Partner übermäßig zu kontrollieren. Selbst für uns Laien ist auf diese Weise zu erkennen, daß solche Merkmale bereits sowohl egoistischen wie auch narzisstischen Tendenzen den Weg bereiten.
Und Hand auf’s Herz – Spuren von übersteigertem Vergleichsdenken bringen wir heutzutage alle ein wenig in unsere (Liebes)Beziehungen ein: Sei es, wenn wir die Anderen stets korrigieren, an ihnen mäkeln oder sie vorführen, sei es, wenn wir ausgerechnet unsere Beziehungsmenschen als Vergleichspunkte wählen, wo sie oder wir „besser“ oder „schlechter“ wegkommen, oder sei es, wenn wir felsenfest überzeugt sind, alles selber schaffen zu müssen, weil auf niemand anderen Verlaß ist.

Amor und Psyche von Antonio Canova (Paris, Louvre)

Als ich schließlich aus den Archiven psychologischer Labore und Fragebögen wieder an das Tageslicht zurückkehre, bin ich genau genommen nachdenklicher als zuvor. Denn die moderne Wissenschaft scheint zu belegen, was die alten Griechen und Römer wohl schon vor gut 2000 Jahren wußten: Daß in uns die Kräfte von Amor und Psyche nach wie vor zahlreiche Abenteuer zu bestehen haben, bevor sie wirklich eine Beziehung auf Augenhöhe miteinander eingehen können. Und wir demgemäß mit unseren Lieblingsmenschen.
Wenn ich in dieser Art die Wissenschaftler*innen der Neuzeit als die modernen Dolmetscher*innen unserer verborgenen Innenwelt ansehe, eine Rolle, die in alten Zeiten eben von Geschichtenerzähler*innen und Poet*innen übernommen wurde, dann wollen auch sie uns zeigen, daß es für menschliche Beziehungen keine einfachen Antworten gibt.

Berscheid, Snyder und Omoto beispielsweise zeigen uns, warum es für nachhaltige Beziehungsführung nicht ausreicht, allabendlich mit der Chipstüte beieinander auf dem selben Sofa zu sitzen und bloß zusammen im Frust über die europäische Grenzpolitik vereint zu sein. Denn um wirkliche Nähe entstehen zu lassen, ist es vielmehr bedeutsam, daß wir wechselseitig unsere Grenzen erkunden, überschreiten und uns in die Partner hineinfühlen. Nähe und Verbundenheit benötigen Gemeinschaftlichkeit, in der wir uns von der inneren Wirklichkeit unserer Liebsten berühren und beeinflussen lassen – uns sie sich von uns. Und dadurch wird klar, warum echte Nähe und Verbindlichkeit Vollzeitprojekte sind, die weder schnell herzustellen, noch ohne regelmäßige Aufmerksamkeit von Dauer sind.

Gerade hinsichtlich dieses „Vollzeitprojekts“ betont dann genau auch eine Studie wie die von Bartholomew und Horowitz, warum es so wichtig ist, uns selbst und die anderen ausreichend wahrzunehmen:
Denn wir starten keinesfalls alle mit dem gleichen Gepäck. Und schnell können wir uns und unsere Liebsten in leidvolle Untiefen bringen, wenn wir „Beziehung“ oder gar „Liebe“ sagen – aber eigentlich unsere Bedürftigkeit nach Nähe zum Zweck der Selbsterhöhung über andere, aus mangelndem Selbstwert oder aus Unselbständigkeit heraus meinen.
Und weil nur wenige von uns mit prall gefüllten Liebestanks und hochglanzpoliertem Selbstwert in unser eigenes Liebesleben starten, gilt ganz besonders für den Aufbruch in Mehrfachbeziehungen wiederum ein Rezept, das schon Griechen und Römer empfahlen „Γνῶθι σεαυτόν”, bzw. „Nosce te ipsum” – nämlich: „Kenne Dich selbst!”. Diese Selbstzurkenntnisnahme, sowohl der eigenen Begrenztheit – aber auch der eigenen Potentiale – macht uns alle menschlicher und gnädiger einander gegenüber. Und das ist gerade in den Zeiten wichtig, wenn es mal nicht glatt läuft, wo uns Zweifel erfüllen und wo wir oder andere uns uns als wenig “beziehungsfähig” erleben.

Zu diesen Zeiten ist es dann besonders gut, wenn wir es schaffen uns nicht auch noch als Teilnehmer*innen eines wettbewerbsorientierten Rattenrennens in Beziehungsdingen mit den Dimensionen „schneller“ oder „mehr ist besser“ wiederzufinden. Thornton, Rickman und Gold konnten zeigen, wie unwillkürlich wir uns in einer selbstgestellten Falle wiederfinden, wenn wir dabei mithalten wollen und beginnen, unsere Beziehungen und die Menschen darin wie unseren Planeten zu behandeln: Als gäbe es jederzeit Ersatz um die nächste Ecke.

Und wer bis hierher noch glauben mag, daß gegenwärtige Wissenschaft und antike Mythen uns doch bestimmt jeweils unvereinbare Ideale vermitteln wollen, dem widme ich diesen letzten versöhnlichen Absatz, in dem ich S. Cohen, L.G. Underwood und B.H. Gottlieb in „Soziale Unterstützung, Bemessung und Intervention – ein Leitfaden für Wissenschaftler im sozialen und medizinischen Bereich “ , Oxford University Press, 2000 zitiere:
Intimität bzw. Nähe ist somit ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.


Manchmal kann Wissenschaft so schön sein.
Amor und Psyche hätten sich gefunden ♥.



¹ Die „Nähebestandsaufnahme“ nach Berscheid, Snyder und Omoto wird in der Fernsehserie „The Big Bang Theory“ von dem Charakter Sheldon Cooper in Folge 162 (8. Staffel, 3. Episode: „Werfen wie ein Mädchen“) erwähnt.

² Baldwin M.W., Keelan J.P.R., Fehr B., Enns V. & Koh-Rangarajoo E. (1996). Sozial-kognitive Konzeptualisierung von Bindungsarbeitsmodellen: Verfügbarkeits- und Zugänglichkeitseffekte. Zeitschrift für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie , Nr. 71, Seiten 94-109

Danke an Francesca Bratto auf Pixabay für das Bild aus dem Louvre.

Eintrag 13

Eben war noch alles gut…

Ein ausgewachsener oligoamorer Eingeborener, der mit großen Schritten aus dem Wald auf einen zukommt und dabei zugleich ein Tablet schwenkt, ist ein durchaus imposanter wie auch eigenartiger Anblick. Zudem, wenn es noch früh am Morgen ist und Dunstschleier zwischen den Baumstämmen aufsteigen, die ihrerseits von den ersten Sonnenstrahlen in sagenhaft leuchtende Gebilde verwandelt werden. Noch bevor ich den Teekessel neben dem Lagerfeuer absetzen kann, hat sich der ehrfurchtgebietende Ankömmling jedoch schon schnaufend neben mich auf einen beängstigend knackenden Campingstuhl herabgesenkt und beginnt zu sprechen:

„Deine Geschichte mit dem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hat mir gut gefallen. Und auch wie Du darin zeigst, daß wir Menschen in unseren Beziehungen ganz ähnlich unterschiedliche Geschwindigkeiten haben.“
In einer Mischung aus Überraschung und Einschüchterung gelingt es mir immerhin so etwas wie meinen Dank hervorzustammeln und dem Oligoamoren einen Becher mit Tee anzubieten – den dieser auch annimmt und dann fortfährt:
„…Allerdings hast Du einen interessanten Zeitpunkt gewählt, an dem Du die Geschichte abgebrochen hast.“
„Naja…“, sage ich, indem ich endlich meine Stimme richtig wiederfinde, „Ich schrieb am Ende doch, daß alle Beteiligten in dem Moment eigentlich erst ganz am Anfang ihrer Beziehungsreise miteinander stehen. Und ich beschrieb auch ihre inneren Wünsche, Unklarheiten und Einwendungen, die es zukünftig gemeinsam noch zu integrieren gilt.“
Mein Sitznachbar wiegt den Kopf: „Für den seltsamen Kontinent der Offenen Beziehungen oder das vielgestaltige Archipel der Polyamory mag das vielleicht gerade noch so angehen…“, sagt er, „…aber nach oligoamoren Maßstäben könnte Deine Geschichte sogar da schon zu Ende sein.“
Jetzt falle ich wieder in meine anfängliche Rolle zurück, meinen Besucher mit offenem Mund und geweiteten Augen anzustarren.
Der aber sieht plötzlich sehr ernst aus, beinahe auch irgendwie traurig, als er weiterspricht: „Nun, lieber Oligotropos, Dir sind doch wahrscheinlich genug Mehrfachbeziehungen bekannt, die nach einigen Wochen oder auch Monaten von vielversprechenden und fulminanten Anfängen scheinbar urplötzlich und unvorhersehbar vollkommen aus dem Ruder gelaufen sind – wo oft einzelne oder mehrere Beteiligte ausscherten und zum Entsetzen der Übrigen verkündeten, daß sie so nicht mehr weitermachen könnten…“
Statt zu antworten nicke ich erst mal, denn ich kann erkennen, daß es dem Oligoamoren wohl wirklich um etwas Wichtiges geht.
„Hier, der Vincent in Deiner Geschichte und ebenfalls die Ivana wären solche Personen – ja vielleicht auch der Max.“

Nun hat mein Gesprächspartner mein Interesse vollends geweckt, ich setze mich auf, schenke Tee nach und frage: „Habt Ihr Oligoamoren da von etwas Kenntnis, was uns anderen bisher verborgen geblieben ist? Habt Ihr gar eine Art ‚6. Beziehungssinn‘?“
Mein Besucher gestattet sich nur ein halbes Lächeln, als er antwortet: „Das nun wohl gerade nicht. Dennoch sind manche von uns gute Beobachter – und natürlich haben wir im Laufe der Zeit unsere eigenen Erfahrungen gesammelt. Was nicht heißen soll, daß das entlegene Eiland der Oligoamory völlig von solchen Erscheinungen verschont geblieben ist.“
„Ach, das hätte ich so nicht gedacht“, sage ich. „Erzählt mir bitte alles, was Ihr über diese plötzlichen Stimmungsveränderungen wißt!“
„Nun“, beginnt mein Gast langsam, „zum Beispiel, daß es nie wirklich ‚plötzlich‘ ist.“
„Erklärt es mir!“
„Es ist doch so, daß wir als Lebewesen immer kleine Signale aussenden, auch wenn es vielleicht sogar unbewußt ist.“ „Ja…“
„Wenn nun in den Anfängen einer Mehrfachbeziehung bei einer oder gar mehreren Personen irgendwelche Irritationen im Verborgenen liegen, dann sind auch dafür diese ‚kleinen Signale‘ immer schon da.“
„Ich verstehe.“
„Ja – aber Menschen zeigen dann manchmal auf allen Seiten der Beziehung ein scheinbar seltsames Verhalten, welches Beobachtern oftmals eher auffallen kann als den Betroffenen selbst.“
„Dafür bräuchte ich ein Beispiel…“

„Also – z.B. kommt von manchen an der Gründung von Mehrfachbeziehungen Beteiligen kein großes, klares ‚Ja!‚, sondern mehr Äußerungen wie ‚Ok, lass es uns versuchen…‚ oder ein ‚Wenn Du meinst...‘ oder ‚Das könnte schon irgendwie gehen...‘. Nun ist es aber dadurch für die anderen Personen in der entstehenden Beziehung – vermutlich auch, weil sich alle noch nicht gut genug kennen – zu leicht, in so einem Fall die ‚kleinen Signale‘, nämlich, daß es sich da keineswegs um ein klares ‚Ja!‘ handelt, sondern um eine Befangenheit, die ausgedrückt wurde, zu übersehen. Oder es wird sich auf das Gesagte verlassen, den ein klares ‚Nein!‘ war es ja nun gerade auch nicht.“
„Aber es heißt doch“, wende ich ein, „daß Kommunikation in Mehrfachbeziehungen das Wichtigste ist. Das steht doch schon in nahezu jedem Artikel zum Thema…“
„Das mag schon sein“, erwidert mein Besucher, „aber gleichzeitig haben wir Menschen auch oft Angst, daß wir auf eine Nachfrage etwas hören müssen, was wir nicht hören wollen. Also fragen wir lieber nicht nach, denn die andere Person hat ja noch keinen Umstand ausgedrückt, der das nötig machen würde. Und solange diese nichts gesagt hat, kann ich mir weiter zusprechen, daß wohl alles ok ist und setze mein bisheriges Verhalten fort… Und das kann eine Art Teufelskreis – oder besser eine Teufelsspirale in Gang setzen, weil auch die Person, die ihre Unsicherheit nur indirekt ausgedrückt hat, erleben wird, wie alle Anderen das bisherige Verhalten fortsetzen oder sogar noch verstärken.“
„Aber Du gibst damit ja zu, daß das Erkennen der Unsicherheit schwierig ist…“, wende ich ein.
„Wir müssen nicht immer alles erkennen können, richtig. Wir müssen auch nicht auf die anderen ‚aufpassen‘. Aber als Erwachsene haben wir für uns die Verantwortung, den Mut aufzubringen, auch Dinge hören zu können, die wir vielleicht lieber nicht hören wollen. Schließlich geht es um nichts weniger als um den Aufbau einer Beziehung zueinander. Je rechtzeitiger wir also nachfragen, umso eher wird es auch eine gemeinsame Problemlösung geben können.“
„Ja aber…“
„Oligotropos, Menschen sind sehr unterschiedlich. Manche haben vielleicht keine gute Startposition, was Mehrfachbeziehungen betrifft. Dann ist so manches von Anfang an ‚zuviel‘, was den Stand ihrer inneren Entwicklung angeht. Vielleicht kommt der Mensch bei etwas nicht mit, weil er glaubt, daß es von ihm verlangt wird. Oder sie*er möchte es vielleicht selber gerne geben, weiß aber noch nicht wie. Oder sie*er hat sich noch nie damit auseinandergesetzt, ob sie*er überhaupt jemals so leben wollte.“
„Das klingt schwerwiegend…“
„Ist es für die Betroffenen auch. Denn für sie könnte sich der Beginn einer Mehrfachbeziehung schnell wie ein Sprint von Marathonlänge anfühlen, weil sie durch das Tempo der Anderen merken, daß sie aufholen müssten – und die Diskrepanz zwischen innerer Einstellung und dem, was nach außen gezeigt wird, wird dann häufig immer größer.“
„Ah, jetzt beginn ich, den Einstieg mit der ‚Befangenheit‘ zu verstehen.“
„Ja genau. Denn der anfängliche Graben bleibt – und wird schlimmstenfalls allmählich größer. Und die Inkohärenz zwischen innerer Einstellung und dem, was nach außen gezeigt wird, die in so einem Menschen herrscht, die ist von außen durchaus zu bemerken.“
„Das wäre doch dann wieder der Moment für gute Kommunikation – oder sogar für ein Innehalten!“, sage ich eifrig.

Der Große neben mir seufzt schwer. „Ja, aber oft beginnt da eine weitere Phase, in der dann von den Beteiligten versucht wird, das Verspürte mit unglücklich angebrachtem Humor zu überspielen oder der Person, die Schwierigkeiten hat, das als bloße Schrulligkeit auszulegen. Denn in so einem Moment wirklich nachzufragen, würde ja erst recht das Risiko in sich tragen, nicht mehr mit dem weitermachen zu können, was man eigentlich gerne – und lieber – tun würde.“ Der Oligoamore pausiert und legt die Stirn in Falten, bevor er weiterspricht.
„Das kann auf beiden Seiten zu sehr dummen Gedankengängen führen. Die Seite, die die ersehnte Mehrfachbeziehung unbedingt für sich ins Ziel bringen möchte, denkt an so einem Punkt vielleicht ‚Ich muß mich hierbei jetzt durchsetzen, denn sonst verliere ich mich (und meine Bedürfnisdeckung)…‘ Und die unsichere Seite glaubt vielleicht ängstlich ‚Ich lass Dich machen, denn sonst verliere ich Dich möglicherweise…‘ Und leider wird da dann meistens zu lange gewartet, bis eine*r der Beteiligten sagt: ‚Halt stopp, so geht das jetzt nicht.‘.
An so einem Punkt beginnen alle aus Ängsten heraus zu agieren: Verzichtsangst gegen Verlustangst. Das kann nicht gut gehen.“
„Das wirkt für mich ganz schön dramatisch“, sage ich. „Was könnten die Beziehungsmenschen denn besser machen?“
Der Oligoamore schnauft; er sieht ein bißchen so aus, als ob er an etwas denkt, was ihm einstmals selber widerfahren ist. Wortlos fülle ich seinen Tee auf.
„Es wird nicht umsonst oft genug betont, daß die Langsamen die Tempomacher sein sollen“, fährt er schließlich fort. „Wenn man die Langsamen durch Druck machen oder selbstvergessenes Handeln aus dem Boot verliert, dann hat niemand mehr Freude. Denn irgendwo sitzt dann jemand zuhause, der aus Überforderung aus den Ohren pfeift und sehr unglücklich ist.
Ich meine: Wir reden hier doch über Menschen, die eigentlich starke Gefühle füreinander empfinden, die sich lieben. Eine Lösung findet sich also nur über ein gemeinsames, wohlwollendes Ganzes. Partei A könnte also z.B. sich um Lösungen für die eigene Verunsicherung bemühen. Gleichzeitig müsste Partei B aber mit der ersehnten Umsetzung warten. Und beides müsste in einem wechselseitigen Prozess geschehen – und zwar so, daß es auch wechselseitig spürbar wäre. Während A also ‚Komfortzonenstretching‘ betreibt, muß B sich in Selbstzurücknahme üben. Das ist beides ganz schön anspruchsvoll.“
„Puh, das hört sich für mich auch so an. Erst recht in einer Mehrfachbeziehung, wo gleich mehrerer Personen betroffen sein können…“
„Allerdings. Und das ist nicht alles. Der vorherige Prozess aus Unklarheit und ungenügender Aufmerksamkeit entwickelt sich allmählich, wie eine exponentielle Kurve. Die ‚Explosion‘ oder das ‚Aufgeben‘ von Beteiligten an deren Ende ist fast immer ein Verhalten, was an einem Höchstpunkt gewählt wird, wenn sonst keine andere Strategie mehr wirkt.
Meist müssen dann echte Schritte von den Dingen zurück gemacht werden, die man schon erreicht zu haben glaubte. Und die danach erfolgenden, langsameren Schritte werden eine ganze Weile noch nicht wieder bei dem ‚Schein-Erreichten‘ anlangen.“
„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber das klingt so frustrierend…“

Da aber habe ich mit einem Mal die volle Aufmerksamkeit des Oligoamoren, denn sein Kopf fährt zu mir herum und er schaut mich mit wilden Augen an:
„Was ist die Alternative, Oligotropos? Wer in einer liebenden Beziehung hat die Verantwortung dafür, daß es allen damit gut geht?
Ihr Menschen vom Festland – ihr haltet es da wie mit einem Buch, bei dem ihr mitten in die Geschichte springt, weil Euer Bedürfnis – ja, ich sage sogar Eure Bedürftigkeit – an dem Punkt, an dem ihr endlich das Buch gefunden habt, schon dermaßen groß ist, daß ihr nicht mehr abwarten wollt, wie sich die Geschichte darin zunächst überhaupt entfaltet. Ihr wollt gleich mitten in der Geschichte sein – oder vielmehr an deren glücklichem Ende, ihr wollt dann alles sofort haben, das volle Programm. Es ist dann aber nur eine ‚Schein-Geschichte‘, denn über diesen Versuch einer Abkürzung ist eigentlich gar keine Geschichte entstanden. Und ohne die Geschichte gibt es auch nur die Illusion von diesem ‚Schein-Erreichten‘, das ich eben erwähnte.
Oft stimmt aber irgendetwas nicht für irgendwen, häufig gehen Menschen auf diese Weise über ihre eigenen Grenzen, manche möchten mehr gönnen als sie tatsächlich schon geben können – denn im Hintergrund bleibt ja die Dynamik aus erworbenen Ängsten, Vorbehalten oder Emotionalität trotzdem aktiv.
Gerade das ruft dann bei den Personen, die bislang mit ihrer Befangenheit ringen, eine Zeit lang noch das Phänomen von dargebotener Compliance (diese eher unfreiwillige Mischung aus Fügsamkeit und Konformität) hervor, hinter der im Inneren eigentlich ein sich aufschaukelndes Paradoxon steht: Tempo und Einklang sind noch gar nicht reif – aber der Mensch tut mal so, als ob.
Dabei sind ‚Abkürzungen‘ hier schlichtweg nicht möglich – und führen nur tiefer in den Konflikt der ‚Teufelsspirale‘, von der ich schon sprach.
Die Person gerät für sich selbst und für die anderen zu einem ’schwierigen Fall‘. Denn alle versuchen ein wenig so zu tun, als ob nichts wäre. Und die Selbstwirksamkeit der Betroffenen leidet dabei am meisten – also wird sich trotz noch so blumiger allseitiger Versicherungen kein wirkliches Vertrauen aufbauen.
Jede*r von uns kann sich aber nur wirklich jemandem anvertrauen, dem sie oder er wahrhaft vertraut. Dabei wäre der Selbstausdruck jetzt so wichtig, damit alle verstehen, was in der leidenden Person gerade lebendig ist.“
„Jetzt verstehe ich, was Du mir zu verstehen geben wolltest, als Du anfänglich sagtest, meine Geschichte könnte an dem Punkt, an dem ich sie beendet hatte, wirklich schlimmstenfalls schon tatsächlich ganz und gar zu Ende sein.“ sage ich leise. „Ich werde darüber gründlich nachdenken. Was soll ich aber nun heute meinen Leser*innen in das Blogbuch der Expedition schreiben?“

Der Oligoamore erhebt sich ächzend – und ich erkenne noch mal, wie groß er wirklich ist. „Schreib‘ doch, daß es wichtig ist, daß jede*r sich auf ihre/seine Art äußern können muß. Schreib‘, daß es wichtig ist, daß alle sich im aufrichtigen Ausdruck voreinander üben. Jeder Mensch möchte ernst genommen und gehört werden.
Oft nehmen wir Übrigen so etwas aber dann persönlich, fühlen uns häufig selbst gemeint, vielleicht sogar angegriffen oder schuldig. Das passiert, wenn wir mit dem ‚Appellohr‚ hören: ‚Du mußt jetzt gleich etwas tun, damit es für mich besser wird…!‘ – Aber so ist das fast nie gemeint. Darum, Oligotropos, mochte ich Deine Erzählung unserer Legende vom gefallenen Helden, dem schwarzen Fledermausmann, richtig gerne: Menschen versuchen normalerweise für sich und für einander etwas Gutes zu bewirken; das kann auch ordentlich schief gehen – aber die Absicht dahinter war meist trotzdem erst mal gut. Das ist wichtig im Kopf zu behalten, vor allem in Liebesbeziehungen!“
Ich bin jetzt doch beinahe etwas gebauchpinselt von diesem letzten Lob des Eingeborenen – und darum merke ich gar nicht, daß dieser schon wieder mit langen Schritten fast im Wald verschwunden ist.
Und darum erhasche ich nur einen letzten Blick auf ihn, als dieser mir, sein Tablet dabei über dem Kopf schwenkend, noch zuruft: „Darüber schreibe weiter, Oligotropos. Schreibe weiter und erzähle unsere Geschichten!“
So bleibe ich heute etwas verwirrt an meinem Feuer zurück. Sehr unvermittelt ist diese Begegnung über mich gekommen – und mit ihr dieses ziemlich unbequeme Thema.
Doch plötzlich muß ich doch fast lachen, denn ich denke mit einem Mal: Sich auch etwas nicht so Angenehmes sagen zu lassen – ohne davor wegzulaufen… Vielleicht ist mir das heute auf sonderbare Weise beinahe ein bisschen geglückt.




Danke an Katrin, Kerstin, Sebastian und Silke ohne deren Erlebnisse und Erfahrungen ich diesen Eintrag nicht hätte verfassen können.
Und Dank an holgerheinze0 auf Pixabay für das Bild meines Besuchers.

Eintrag 12

Wie viel ist wenig?

Heute erreichte mich eine Nachricht vom Festland, in der ich gefragt wurde, was für die Oligoamoren denn die vielzitierten „Wenigen“ wären, die sich in einem ihrer Beziehungsnetzwerke zusammenfinden würden. Und wer das im Zweifelsfall festzulegen hätte, insbesondere in dem Fall, wenn Verliebtheit zu der Möglichkeit einer weiteren Beziehungsaufnahme führen könnte.

Diese beiden Fragen finde ich höchst spannend. Und so wie die Fragesteller*in bin ich auch der Meinung, daß sie in gewisser Weise zusammenhängen. Ebenfalls glaube ich, daß diese Fragen viele oligoamore Kernbereiche betreffen – hier also statt kurzer Antwort ein ganzer bLog-Eintrag, mit dem ich versuchen werde, mich diesem Themenbereich zu nähern.

In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckte der britische Psychologe Robin Dunbar bezüglich der Größe von Primaten-Gemeinschaften eine interessante Korrelation zwischen Gehirngröße und der Anzahl der möglichen Individuen solcher Gemeinschaften, aus der er schließlich die sogenannte „Dunbar-Zahl“ entwickelte, die er für Menschen mit durchschnittlich 150 bezifferte. Zum besseren Verständnis teilte er dieses Feld von 150 Personen noch in mehrere konzentrische Kreise ein, deren Mittelpunkt eine Einzelperson – also quasi Du oder ich – darstellt.
Den ersten und engsten Kreis beschrieb Dunbar mit der Bezeichnung „Intimität und Nähe“ und ordnete diesem die Zahl von 5 Personen zu. Er führte aus, daß in diesem „Kreis“ Leute versammelt seien, mit denen ein Mensch meist eng zusammenleben würde, die einen selbst sehr genau kennen würden (und umgekehrt), mit denen ein sehr hoher Grad an sozialer Interaktion bestünde und denen man das meiste Vertrauen entgegenbrächte.
Den zweiten Kreis beschrieb er mit der Bezeichnung „Freundschaft“ und gab dessen Zahl mit 15 Personen an. Diesem Kreis ordnete er jene Nahbeziehungen zu, mit denen immer noch sehr starke Verbindungen bestehen würde, z.B. daß Träume, Pläne, Freude und Leid miteinander geteilt würden, obwohl vielleicht miteinander nicht mehr unbedingt eine räumliche oder finanzielle Gemeinschaft bestünde und nicht mehr ein Großteil der Zeit miteinander verbracht würde.
Den dritten Kreis, der mit dem Begriff „Anteilnahme“ beschrieben werden kann, enthält etwa 35-50 Personen, die in ungefähr das abbilden, was viele von uns mit „Bekannte“ bezeichnen. Also auch engere Arbeitskollegen, Leute aus der eigenen Gemeinde oder dem Vereinsleben mit denen wir regelmäßig zu tun haben – auf jeden Fall eine Gruppe, deren Zugehörigkeit schon deutlich heterogen (uneinheitlich zusammengesetzt) ist. Dunbar verwies darauf, daß zu dieser Gruppe auch all jene Beziehungen und Freundschaften zählten, die nicht (mehr) regelmäßig gepflegt würden.
Die Bedeutung des vierten Kreises schließlich, der dann je nach Individuum 100 bis 200 Menschen stark wäre, könnte mit dem Terminus „im-Austausch-stehen“ beschrieben werden. Dort wären dann all die Personen angesiedelt, die uns noch gerade namentlich bekannt wären, mit denen wir aber eher bloß punktuelle Erledigungen oder Vorgänge verbänden, wie z.B. ein*e Hausärzt*in, eine Putzhilfe, evtl. eigene Kunden oder Ähnliches.
[Manche Dunbar-Modelle arbeiten noch mit darüber hinaus gehenden Kreisen von ca.500 bis1500 Leuten. Diese bilden dann Personenfelder ab, bei denen wir vom Gesicht her möglicherweise gerade noch wissen, daß diese z.B. wahrscheinlich in unserem Unternehmen oder an unserer Bildungsstätte tätig sind, obwohl uns der Name nicht mehr ohne weiteres zu ihnen einfallen würde – oder wo wir recht sicher sind, daß sie in unserer Stadt oder in unserem Viertel leben, wir aber keinerlei weitere biographischen Daten zu ihnen haben (und auch nie daran interessiert waren)]

Nun sind wir – um gewissermaßen Patrick McGoohan¹ zu zitieren, selbstverständlich keine bloßen Zahlen sondern echte Menschen. Dennoch fanden und finden sich für die Dunbar-Zahl und ihre „Kreise“ überraschend menschliche Entsprechungen im wirklichen Leben, die sich ohne künstliche Anordnung herausbilden, weil sie offenbar tatsächlich einem gewissen „menschlichen Maß“ nachkommen, mit dem wir uns unwillkürlich im Alltag gut arrangieren können. Anthropologische Beobachtungen zeigten z.B., daß afrikanische Selbstversorger-Dörfer sich noch heute häufig in zwei Siedlungen auftrennen, wenn die Marke von 150 bis 200 Einwohner*innen überschritten wird. Lager von kooperierenden Jägern und Sammlern von der menschlichen Frühzeit bis in das heutige Amazonien bestehen regelmäßig aus nicht mehr als 35 bis 50 Einzelwesen, um die Effizienz eines Beutezuges sicherzustellen.
Und von den 12 Jüngern Jesu bis hin zu im Internet angebotenen Fortbildungen, Intensivkursen oder Teambuilding-Seminaren wird man auf Wunsch-Teilnehmerzahlen von 8 bis 15 Beteiligten stoßen.
Insbesondere mit Letzteren betreten wir den oligoamor relevanten Bereich.

Denn interessanterweise weisen vor allem viele sowohl spirituelle als auch psychologische Beispiele auf eine intime „Obergrenze“ von ungefähr diesem „Dutzend“ Teilnehmer*innen hin: Seien es eben die oben zitierten Jünger, seien es Ausbildungsgruppen in katholischen Priesterseminaren, die Größe von kirchlichen Hauskreisen, Hexenzirkeln (im Neopaganismus) oder eben auch Gesprächsgruppen und Therapiekreise – aber auch kleine Musikensemble, die ohne Dirigenten auskommen (und sich also „intuitiv verständigen“).
Für die intensive Beschäftigung mit einem gemeinsamen Thema oder miteinander wird das schon seit jeher ganz handfeste Gründe gehabt haben: Denn irgendwo bei dem „Dutzend“ liegt ganz sicher die Schmerzgrenze, wo aus einer „Gruppe“ eine „Menge“ wird, in der entweder Einzelne zu kurz kommen oder sich Teilmengen, „Untergrüppchen“ oder gar Parteiungen bilden (und damit genau die Art „Heterogenität“ entsteht, wodurch in Dunbars 3. Kreis aus Freunden „Bekannte“ werden).
Weniger „handfest“, dafür aber um so bedeutsamer scheint hingegen zu sein, daß wir Menschen unterhalb dieser „Schmerzgrenze“ offenbar dazu tendieren uns tatsächlich eher auf einen „Gruppenprozeß“ einzulassen, es eventuell wagen, uns zu öffnen und damit sogar auf die Möglichkeit eines Konfliktfalles hin Verletzlichkeit riskieren (und auch das Zeigen unserer Fehlbarkeit und Verletzlichkeit!). Was nichts weniger bedeutet, als daß wir in dieser Beziehungsgröße wohl unterschiedliche Meinungen, Bedürfnisse oder Interessen gerade noch an uns heran lassen können, weil wir trotz eventuell situativ verspürtem Zorn oder Verletzung hier noch ein Gefühl von Übersichtlichkeit und Berechenbarkeit entgegensetzen, daß eine Atmosphäre von Respekt und Vertrauen (wieder)herstellbar ist.

Wenn mich also als Autor dieses bLog-Projekts zu verbindlich-nachhaltigen Mehrfachbeziehungen jemand wirklich festlegen wollte, dann sage ich: Bis zu ca.12 Beteiligten reicht auch aus meiner Erfahrung ein Bereich, in dem für alle Beteiligten eines kleinen (oligoamoren) Mehrfachbeziehungsnetzwerks genau die Verbindlichkeit und die Nachhaltigkeit noch lebbar und vor allem er-lebbar bleibt. Denn erstens wird genau die darüber hinausgehende Heterogenität eines Teilnehmer*innenfeldes die Verbindlichkeit für das Individuum beeinträchtigen, indem Integrität und Verläßlichkeit bei immer vielfältigeren Reizen schnell zu einer buchstäblich über-menschlichen Herkules-Aufgabe werden können. Und zweitens verwässern jenseits davon zunehmend die Nachhaltigkeitskriterien Beständigkeit (Konsistenz), Geeignetheit (Effizienz) und Genügsamkeit (Suffizienz) [diese angestrebten „Werte“ der Oligoamory finden sich in Eintrag 3].

Gibt es für mich als Autor auch eine „Idealgröße“?
Das jüdische Sprichwort besagt „Wer eine einzige Seele rettet, rettet eine ganze Welt.“ (Jerusalemer Talmud; Sanhedrin, 23 a-b; [ähnliche Aussage übrigens auch im Koran 5:32]).
Wenn ich dieses Bild mit dem Anaïs Nin-Zitat in Zusammenhang lese „daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wird, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und das nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann“ (dazu Eintrag 6), dann könnte folglich schon das Führen einer einzigen Beziehung zu „nur“ einem weiteren Menschen eine intensive Entdeckungsreise in ein völlig einzigartiges Universum eröffnen, die uns mit ihrer unendlichen Vielfältigkeit ein ganzes Leben lang beschäftigen wird.
Und Hand aufs Herz: Allein die Aussicht auf eine solche Entdeckungsreise beim Verlieben in einen neuen Menschen fühlt sich doch schon dermaßen intensiv an, daß es uns in so einem Moment nahezu komplett in Beschlag nimmt.
Genau dieses Phänomen spielt ja insbesondere bei der Öffnung einer schon bestehenden Beziehung hin zu einer Mehrfachbeziehung oft so eine profunde Rolle: Für (meist) einen der Beteiligten tut sich so eine „neue Welt“ auf, was zunächst häufig zu formidablen Turbulenzen hinsichtlich Ressourcenmanagement, Zeitverteilung und einer Neuorientierung der Bedürfnisbefriedigung führt.
Die Herausforderungen von Ressourcenmanagement, Zeitverteilung und Bedürfnislage bleiben in Mehrfachbeziehungen allerdings immer ein wichtiges Thema, selbst wenn sich das anfängliche und nicht selten mit reichlich Hormonaufwallung versehene Chaos allmählich zu lichten beginnt.
Sensiblere Naturen (wie ich es als Hochsensible Person / HSP beispielsweise bin) können dann bereits mit zwei nahen Bezugsmenschen vollauf eingebunden sein, was sicher auch gelegentlich den Wunsch nach triadischen Dreier-Konstellationen besonders beflügelt (wenn auch vielleicht so kurzsichtig wie verständlich: Schließlich setzt sich ein Menschenwesen erst einmal selbst an die Stelle des „Zentralpunktes“ seines Beziehungsnetzwerkes).
Konsequent zu Ende gedacht finden wir uns mit der Oligoamory dennoch vermutlich dann irgendwo in Dunbars „Erstem Kreis“ wieder: Eine Gruppe von bis zu 6 Personen (nämlich 5 + ich), die miteinander den beschriebenen hohen Grad an Intimität und Nähe teilen, der für die gemeinsame Aufrechterhaltung sowohl von allseitigem Vertrauen als auch von allseitiger Vertrautheit so bedeutsam ist.
►Nicht zu vergessen: Wir sprechen hier über die Intensität in einer engen, aufeinander bezogenen Liebesbeziehung. Und „Beziehung“ heißt ja in diesem Kontext, daß es sich dabei dann um die Menschen handelt, mit denen wir maßgeblich unser Leben gestalten – und denen wir im Gegenzug unsererseits gestatten, maßgeblich auf unser Leben Einfluß zu nehmen. Denn die liebevollen Verbindungen und die vertrauensvollen Verhältnisse, die daraus (hoffentlich) miteinander entstehen, bedeuten im Idealfall nichts weniger, als darin die höchst erfüllende Gewissheit zu erfahren, daß alle einander gemeinschaftlich so wichtig sind, daß sie einander stets auch in wichtigere individuelle Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse – wenigstens gedanklich – miteinbeziehen.
Dieses Letzte ist für mich ein sehr oligoamorer Kerngedanke, da für mich hier die übersichtliche und menschlich berechenbare „Anzahl“ der wenigen Beteiligten direkt mit der Gewährleistung der oligoamoren Werte (insbesondere der Bereiche Verbindlichkeit, Berechtigung, Aufrichtigkeit, Identifikation und Nachhaltigkeit [siehe Eintrag 4]) verbunden ist.

Genau hier ergibt sich auch die Überleitung zu der zweiten Frage „Und wer entscheidet das?
Grundsätzlich ist sicherlich festzuhalten, daß zwischen Menschen immer Faszination, Attraktion, „Für-einander-Empfinden“ und Verliebtheit aufkommen kann – und wird.
Die Wahrscheinlichkeit, daß dies erst einmal die „kleinste mögliche Einheit“ betrifft – und damit zunächst oft nur zwei Menschen (egal, ob diese sich schon in Beziehung befinden oder nicht) – ist ebenfalls sehr hoch. In Folge lassen sich die Beteiligten dieser „kleinsten Einheit“ dann ja auf einen möglichen Prozess des Kennenlernens – und auch potentiell des Liebenlernens – ein.
Wenn dieser Prozess schließlich in die Überlegungen zu einer sich abzeichnenden Beziehung übergeht, dann werden dabei, selbst unwillkürlich, auch Fragen des jeweiligen Lebensentwurfs auf jeden Fall berührt, z.B.: Wie sehen sich die Beteiligten selbst? Als Einzelwesen, welches sich situativ immer mal wieder punktuell „in Beziehung begibt“ – oder eher als Gruppenzugehörige*r eines eventuell größeren Ganzen?
Eine oligoamore Beziehungsauffassung enthält sehr stark die Neugierde darauf, sich selbst als „mehr als die Summe seiner Teile“ zu erleben – und damit auch, sich intensiv mit der eigenen menschlichen Natur als „Gemeinschaftswesen“ auseinanderzusetzen.
So ein Ansinnen enthält allerdings bereits ein gewisses Maß an Lust auf Selbsterkenntnis und damit auch an Eigenverantwortung: „Ich möchte zu einem gemeinsamen Schatz an Wissen, Begabungen und Erfahrungen beitragen und daran teilhaben. Ich werde dabei viel von mir selber offenbaren (wie es ja auch Dunbar für den ersten und zweiten „Kreis“ darlegte) und auch die anderen Beteiligten werden sich mir gegenüber öffnen – was auch sein muß, denn ohne diese Gegenseitigkeit kein Vertrauensaufbau.“
Dadurch ist es letztendlich genau diese „Eigenverantwortung“, mit der jede*r schließlich für sich selbst darüber entscheiden muß, in wieweit neue Personen mittel- und langfristig zum eigenen Netzwerk passen werden.
Denn im Hinblick auf meine Zugehörigen, die ich mir so in gewisser Weise erwähle (und meine Zugehörigen erwählen mich), möchte ich ja auch an dem Potential unserer Gemeinschaft teilhaben , welches sich wiederum aus dem Potential der Einzelnen mit ihren Eigenheiten und Begabungen zusammensetzt. Im besten Fall also profitiere ich von beidem. Und genau dadurch erhält gerade dieses persönliche Nah-Umfeld in der Oligoamory so große Bedeutung.

Für manche Leser*innen mag dieser letzte Teil recht ideal und vielleicht schon etwas abgehoben klingen.
Darum kann eine „Gegenprobe“ mit der persönlichen Einstellung zu den Menschen im eigenen Beziehungsnetzwerk manchmal ein Gedankenanstoß sein.
Ich habe z.B. bemerkt, daß für mich das Führen von Fern- und Wochenendbeziehungen in obiger Hinsicht eine Herausforderung ist, weil ich oft Schwierigkeiten habe, dort einen für mich befriedigenden Grad an Gegenseitigkeit zu erleben. Denn in diesen Verbindungen befinde ich mich aus meiner Sicht meistens mit Menschen, die für das eigene Leben eine hohe Bedeutung haben sollten – die aber gleichzeitig räumlich oder zeitlich häufig von mir getrennt sind. Bei mir selber führt das oft zu einem Gefühl, daß sowohl die betroffenen Beziehungen als auch die Menschen darin für mein Leben nicht so recht Gestalt annehmen bzw. wortwörtlich „real“ werden, allein indem sie an meinem alltäglichen Leben weniger Anteil nehmen.
Ich persönlich habe für mich wahrgenommen, daß ich diese Beziehungen bereits mittelfristig als oligoamor schwer aufrechtzuerhalten empfunden habe, denn ich erlebe mich dort eher von einem „spannenden Feature“ fasziniert als wirklich in einer echten Verbindung zu einem Menschen aus Fleisch und Blut.
Womit meine Reise wieder bei Robin Dunbar angekommen wäre, der mir vermutlich aufzeigen würde, daß solche Beziehungen bei mir in eindeutiger Gefahr sind, von den beiden inneren Kreisen recht bald zum Rand des Dritten, mit den bloßen „Bekanntschaften“ darin, abzutreiben.

Ich selber möchte doch auch nicht darauf hoffen, daß meine Faszination als optional zuschaltbares Feature möglichst lange anhalten wird, denn wir verdienen es schließlich alle, als echte Menschen mit unseren Ecken und Kanten von unseren erwählten Liebsten wirklich ganz und gar akzeptiert und geliebt zu werden.
Und in dieser Hinsicht möchte ich mit der Oligoamory dazu einladen, in jedem Fall der Qualität und der Intensität den Vorzug vor Quantität und Zeitvertreib (neudt.: Entertainment) zu geben.²




¹ Richtig gelesen: Das Zitat stammt nicht ursprünglich aus einem Songtext von Iron Maiden, sondern aus der Fernsehserie „Nummer 6“ von 1967.

² Im Gegensatz zu meinen Vorstellungen der Oligoamory halte ich das Führen von – ich sage mal – weniger anspruchsvollen Mehrfach-Beziehungen in der Polyamory für absolut möglich und auch von dem dortigen Konzept abgedeckt. Die diesbezüglich kritischen Gedanken, die daher für mich zu einem eigenen Ansatz geführt haben, habe ich in Eintrag 2 niedergelegt.

Danke an Christine für die anregenden Fragen und an rawpixel auf unsplash.com für das Foto!

Eintrag 11

Held im eigenen Film

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern. Eine beliebte Gestalt, die an den Lagerfeuern besonders gerne beschworen wird, weil sich die Zuhörer*innen so sehr mit ihr identifizieren können, ist der schwarze Fledermausmann.
[Die Geschichte würde natürlich auch mit dem WunderWeib oder der DiversDiva als Protagonist*in funktionieren – aber heute möchte ich Euch die Geschichte so wiedergeben, wie ich sie von den Eingeborenen des entlegenen Eilands der Oligoamory selber zum ersten Mal gehört habe]:

Er ist ein Held.
Er ist der Fledermausmann,
der schwarze Chevalier.
Er gibt sein Bestes.
Er tut, was er tun muß:
das Richtige.
Er lebt für einen weiteren Tag.

Aber heute sitzt der Held grübelnd auf dem großen Wasserspeier aus Marmor, hoch über der Stadt und ist sehr nachdenklich. Denn in letzter Zeit scheinen seine Heldentaten nicht mehr so recht heroisch zu geraten – und er kann sich einfach nicht erklären, woran es liegt.
Er selbst weiß sich nichts vorzuwerfen: Er handelt, wie er seit jeher gehandelt hat, er ist mutig, er kämpft für das Gute – oder wenigstens für das, was er gestern noch dafür hielt.

Aber in den letzten Tagen scheint sein rastloser Einsatz immer weniger den beabsichtigten edlen Zielen zu dienen, denen sich der Fledermausmann aus eigenem Antrieb verpflichtet sieht.
So ist er doch eigentlich durch und durch das Ideal eines oligoamoren Beziehungsmenschen: Loyal, verläßlich, verantwortlich und integer.
Letztes Wochenende kam er also in dieser Weise von einem Treffen mit einem Paar – beide enge Liebste und Vertraute des Fledermausmannes. Es war ein intensives Wochenende, welches die Nähe und Intimität der Beziehung zwischen ihnen allen drei nochmals gestärkt hatte. Insbesondere zu der Frau konnte der Fledermausmann diesmal noch vertrautere Bande knüpfen, was ihm schon im Vorfeld für die gesamte Gemeinschaftlichkeit wichtig gewesen war.
Diese gesamte Gemeinschaftlichkeit hatte ihn ganz und gar erfüllt und auch auf dem Rückweg noch vollkommen in Bann geschlagen. Wie könnte er diesem einzigartigen Gefühl noch mehr Ausdruck verleihen und es in sich noch mehr steigern, jetzt, wo es ihn quasi von Kopf bis Fuß durchströmte? Er wäre nicht der Fledermausmann gewesen, wenn ihm dazu nichts eingefallen wäre: Noch vor der abendlichen Ankunft in seinem Geheimversteck wendete er sein dunkles Gefährt und sauste sogleich zu seiner dritten Liebsten, um mit ihr in dieser Nacht seine gewonnene Erfüllung zu teilen.
Am nächsten Morgen sah er im Spiegel nicht nur den Helden, der er war, sondern er spürte es auch in jeder seiner Fasern. Und darum lag die nächste oligoamore Heldentat wie selbstverständlich auf der Hand: Sofortige Transparenzherstellung und Teilen seiner Erlebnisse und Erkenntnisse mit seinen vorherigen Gastgebern. Heute mache ich alles richtig!
Was aber dann über unseren guten Fledermausmann hereinbrach, war nicht das, was er erwartet hatte. Denn gerade von der Frau seines dortigen Beziehungspaares wurde ihm ein gänzlich unheroisches Zeugnis ausgestellt: Wie er sich denn nach dem innigen Wochenende so bedürftig und so undankbar hätte aufführen können, daß er sich ja wohl in seinem Lustrausch und in seiner Unersättlichkeit noch auf der Rückfahrt an den nächsten Busen hätte werfen müssen? Ob ihm denn die intensive Nähe von Körper, Geist und Seele des Wochenendes so wenig bedeuten würden, daß es sie sofort mit der nächsten Sensation überschreiben müsste? Da sollte er einmal darüber nachdenken, ob es gut sei, wie beliebig er es mit seinen Liebsten halten würde…

Wenn es nur dabei geblieben wäre! Doch auch mit seiner dritten Liebsten schien er im Verlauf der Woche immer weiter vom selbstgesetzten Pfad der Tugend abzuweichen.
Mit ihr hatte er nämlich selbstverständlich auch eine Vereinbarung über Transparenz und Aufrichtigkeit – und so hatte er ihr nach und nach im Laufe des Montags das ganze Wochenende mit seinen Begebenheiten geschildert. Dabei war unserem Fledermausmann – achtsamer Beziehungsmensch der er ja war – aufgefallen, daß seine hiesige Liebste durchaus nicht alle Details so souverän verkraftet hatte, ja, daß er z.T. eine Spur von innerer Erschütterung, vielleicht gar von Ängstlichkeit oder Irritation an ihr wahrgenommen hatte. Ein klarer Fall für den Fledermausmann: Beziehungsleid erkannt – Beziehungsleid gebannt! Gerade darum war er doch ein oligoamorer Held, um tief eingelassen für Beständigkeit zu sorgen. Weiteren Nachfragen seiner Liebsten in den folgenden Tagen kam er nun mit weniger Einzelheiten und eher allgemeiner Beschreibung nach, um ihr quasi die Hand in einer für sie nicht ganz leichten Beziehungssituation zu halten und zu beweisen: Auf den Fledermausmann ist Verlaß als achtsamer Wächter und Wahrer deiner sensiblen Grenzen!
Doch am Donnerstag brach es dann wie ein Ungewitter seiner Liebsten über ihn herein: Daß sie diese ganzen Heimlichkeiten und das Würmer-aus der-Nase ziehen hinsichtlich x und y ganz schlimm fände. Daß er aus falsch verstandener Bevormundung ihr die ganze Wahrheit vorenthalten würde, ja es mit der Transparenz offensichtlich aalglatt halten würde. Wie überhaupt sein Verhalten in der Sache so wenig oligoamor sei…

Da war er dann auf seinen einsamen Wasserspeier geflohen, gebrochen, verzweifelt, sich mißverstanden fühlend. Nieselregen hüllt ihn ein und legt sich wie ein Schleier auf das Herz des schwarzen Chevalier. Wie hatte ein Held wie er nur so tief fallen können?

Die tragische Gestalt des Fledermausmannes in den oligoamoren Legenden ist für uns – wie auch für die gebannt lauschenden Zuhörer am Lagerfeuer – als Archetyp geradezu eine Art „Seelenverwandter“ und hat sehr viel mit uns selbst zu tun:
Denn Marshall B. Rosenberg erklärt anhand seines Modells der „Gewaltfreien Kommunikation“, daß nahezu alle Menschen für ihr Handeln normalerweise „sehr gute (persönliche) Gründe“ haben.
Wer diesen Satz jetzt schnell gelesen hat, die/den bitte ich, es nochmal zu tun – und dabei das Wort „gute“ liebevoll und ausdrücklich zu betonen, denn dies ist für das weitere Verständnis von äußerster Wichtigkeit!

Die psychologische Forschung (insbesondere die humanistische Psychologie mit den Vertreter*innen V. Satir, C. Rogers und A. Maslow) legt diesen „Guten Gründen“ das Vorhandensein universeller menschlicher Bedürfnisse zugrunde, die sich alle Mitglieder der Spezies „Homo sapiens“ zu erfüllen suchen (►Dazu zählen lebenserhaltende Bedürfnisse wie Luft, Wasser, Nahrung, Wärme, Licht und Schlaf; Bedürfnisse die Sicherheit und Schutz dienen – wie z.B. physische Gesundheit, Obdach und Privatsphäre; Bedürfnisse die Gemeinschaft und Beteiligung sicherstellen – wie z.B. Geborgenheit, Unterstützung und Kontakt; Bedürfnisse rund um Verständigung und Kommunikation – wie z.B. Aufmerksamkeit, Austausch, Wertschätzung und Aufrichtigkeit; Bedürfnisse hinsichtlich Zuneigung und Liebe – wie z.B. Angenommensein, Beständigkeit, Fürsorge oder Sexualität; Bedürfnisse bezüglich Erholung und Muße – wie z.B. Entspannung, Harmonie und Spiel; Bedürfnisse die Kreativität ausdrücken – wie z.B. Lernen, Selbstwirksamkeit, Spontaneität oder Eigenentfaltung; Bedürfnisse nach Autonomie und Identität – wie z.B. Selbstwert, Identifikation Erfolg oder Sinn – und auch Bedürfnisse der Lebensgestaltung und Sinnsuche – wie z.B. Bedeutsamkeit, Würde, Achtsamkeit und Kompetenz).

Diese allen Menschenwesen gemeinsamen „universellen“ Bedürfnisse sind aus sich selber heraus weder positiv noch negativ; jedoch motivieren sie uns Menschen zwecks Erfüllung zu bestimmten Handlungen.
Für unser gegenseitiges Verständnis, ja, für menschliche Kommunikation und Interaktion insgesamt könnte sich das grundsätzlich als phantastische Botschaft lesen: Wir alle haben die gleichen Bedürfnisse, wir alle sind gleich in unserem Streben nach Erfüllung dieser.
Was also ist zusätzlich zu beachten – wo steckt das „Häkchen“?
Darin, daß es im zweiten Schritt ganz wichtig zu beachten ist, daß sich die Art und Weise der Bedürfniserfüllung von Individuum zu Individuum sehr wohl unterscheidet. Folglich müssen wir zwischen „(universellem) Bedürfnis“ und „(individueller) Bedürfniserfüllstrategie“ trennen.
Was bedeutet, daß bei der Erfüllung also individuelle Prioritäten gesetzt werden.
Genau diese Unterscheidung zeigt, daß damit durchaus Konflikte entstehen können, wenn Bedürfniserfüllung z.B. auf Kosten anderer Lebewesen (und deren Bedürfnisse) betrieben wird.
Und die Tatsche, daß wir so zwischen „Motivation“ und „Strategie“ unterscheiden können, erlaubt uns, eine Ursache zu verstehen und sogar zu respektieren – aber gleichzeitig mit der Wirkung (auf uns bzw. die Umwelt) trotzdem nicht einverstanden sein zu müssen.
Kein Lebewesen, kein Mensch, hat also negative oder gar „böse“ Bedürfnisse – allerdings kann er/sie/es problematische Herangehensweisen zu deren Erfüllung wählen.
Doch selbst dabei ist es für einen einigermaßen gesunden Menschen immer noch fast ausgeschlossen, bei normal-unbewußtem Handeln wirklich abgrundtiefe Scheußlichkeiten zu vollbringen.
Denn die Hirnforschung der letzten Jahre (insbesondere J. Panksepp und T. Insel zu sozialer Anerkennung im hirneigenen Belohnungszentrum) und die Primatenforschung an unseren nächsten Verwandten (insbesondere F. de Waal) haben zusätzlich erwiesen, daß wir Menschen aufgrund unserer „Hordennatur“ normalerweise sehr stark nach der (positiv formulierten) Maxime „Was ich will, was man mir tu‘ – das füg‘ auch ich euch zu“ handeln. Heißt: Bei unserem Streben nach persönlicher Bedürfniserfüllung und persönlichem Nutzen sind wir aufgrund unserer biologischen und sozialen Komponenten fast immer sehr stark ebenfalls zu einem „Gruppennutzen“ motiviert, der am Ende natürlich auch wieder uns selbst zu Gute kommen könnte.

Fazit: Aufgrund unseres Strebens nach persönlicher Bedürfniserfüllung und der daraus hervorgehenden Motivation in Kombination mit unserer Tendenz zur Maximierung eines möglichst umfassenden sozialen Wohlergehens sind wir buchstäblich als handelnde Person „Held*in in unserem eigenen Film“.
Denn das oben Dargelegte zeigt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß hinter nahezu jedem menschlichem Tun eine grundsätzliche „gute Absicht“ steckt, die auf die Erhöhung von (irgendeinem) Wohlergehen bzw. auf Zufriedenheit abzielt, exorbitant hoch ist.
Und wiewohl insbesondere mediale Berichterstattung und Fiktion häufig von der gegenteiligen Faszination leben, so bitte ich – insbesondere in Liebesbeziehungen – zusammen mit Marshall Rosenbergs Konzept von „Gewaltlosigkeit“ doch erst einmal dem (sogar rational) viel naheliegenderen Vertrauen in die gute Absicht Raum zu geben.
Was also selbst im Falle von eigener Verletzung wenigstens bedeutet, zunächst ganz bodenständige, allzu menschliche Faktoren für einen Konflikt / ein Unglück wie Unbewusstheit/Unreflektiertheit, Bequemlichkeit, Ungenauigkeit, Selbstvergessenheit oder Überforderung anzunehmen, statt grausame Absicht und berechnenden Verletzungswillen zu vermuten.

Warum?
Meiner Ansicht nach ist der Nutzen, den wir für unsere menschlichen Beziehungen aus so einer Haltung eines eher wohlwollenden Vorvertrauens haben, dreifach.

  • Erstens beeinflußt dies ganz direkt das Bild, welches wir uns in so einem Moment von dem abgelaufenen Vorgang, der handelnden Person und somit auch vom gesamten Film – also unserer Welt – machen: Da ist ein Mensch, der aus seiner Sicht so gut wie möglich versucht(e), seine Bedürfnisse zu erfüllen. Sie*Er will/wollte es irgendwie richtig machen. Wenn dies nicht gelungen ist – und es vielleicht sogar schmerzliche Kollateralschäden gab – so ist die handelnde Person dadurch eher ein „gefallener Held“, vielleicht auch ein gebrochener Held (wie eben der schwarze Chevalier oder viele andere Superhelden, die eine nicht-lineare Legende haben); nicht aber das planvoll Böse, nicht der Antagonist, nicht der Feind. Allein durch diese Haltung verhindere ich, daß ich selber in eine polare Welt aus „Gut vs. Böse“, „Richtig vs. Falsch“, „Schwarz vs. Weiß“ abtauche. Ich bleibe offen, kann differenzieren und weiter Schattierungen und Zwischentöne wahrnehmen. Das ist gut für Gehirn und Herz: Denn mein Gesamtgefühl von Selbstwirksamkeit und Sicherheit bleibt intakt.
  • Zweitens erhält uns diese Sicht die Chance auf echtes Vertrauen, weil wir nicht „dichtmachen“, sondern verstehen wollen, was auf „der anderen Seite“ geschehen ist: Welche Bedürfnisse waren da denn nun eigentlich in Unterdeckung, daß es so gekommen ist? Allein schon dieses Interesse bildet nämlich genau genommen bereits die Knospe für eine entstehende Verbindung zum Gegenüber. Denn dadurch kann ein echter Prozess eingeleitet werden, indem das wechselseitige Verstehen der Motive und Motivationen in den Vordergrund rückt: Warum wurde so gehandelt? Und wie ist das bei Dir angekommen? Wer anfängt auf diese Weise zu denken, macht einen Dialog auf, in dem sowohl die „fremden“ als auch die eigenen Motive und Strategien zur Bedürfniserfüllung überdacht werden können.
    Und wer gemeinsam so weit kommt, steht schon kurz vor einer Synthese und dem Ausstieg aus dem möglichen Konflikt: Gibt es vielleicht künftig ein Vorgehen, was uns beiden/allen (bedürfnis)gerecht werden könnte?
  • Drittens erhalten wir uns auf diese Weise die Perspektive wahrzunehmen, daß wir alle vermutlich vielfach gefallene oder gebrochene Held*innen (aber nichtsdestoweniger Held*innen!) sind, die trotzdem immer noch jeden Tag versuchen, wieder und wieder – auch unter widrigsten Bedingungen – ihr Bestmögliches zu geben. Damit gestatten wir uns und den Anderen, daß wir Fehler machen dürfen, daß wir bereit sind darin dazuzulernen und daß wir weiter streben und es erneut anpacken können. Und das ist definitiv ein wirklich heroischer Beitrag zu einer (mit)menschlicheren Welt.

Insbesondere was unsere Liebsten und Lieblingsmenschen angeht, können das alles enorm beruhigender Gedanken sein – gerade in Momenten, wenn irgendetwas nicht glatt läuft und die Welt kopfzustehen scheint. Denn in dieser Weise sind wir also alle stets wirkliche „Helden im Alltag“, die durch die Bedürfnisse hinter ihren „sehr guten Gründen“ sogar in einer Art „Menschheits-Liga“ nach gleichen Zielen streben, egal ob WunderWeib, MultiMann oder DiversDiva.
Nur in der Wahl unserer Mittel unterscheiden wir uns – aber unter Superhelden ist das ja auch wahrscheinlich, da wir alle mit ganz unterschiedlichen Biographien, Kräften und Begabungen ausgestattet sind.

So wie der Protagonist unserer obigen Geschichte.
Denn auch er lebt für einen weiteren Tag.
Da wird er das Richtige machen und tun, was er tun muß:
Er wird sein Bestes geben.
Er ist der Fledermausmann,
der schwarze Chevalier –
und er ist ein Held.




Danke an Richard David Precht und seine ausführlichen Gedanken zur Natur und Moral des Menschen in seinem Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ (Goldmann 2010);
und an Marcel auf Unsplash für das passende Foto vom Helden-Graffito.

Eintrag 10

Europa der vielen Geschwindigkeiten

Die Deutsch-Französische Freundschaft ist legendär. Eigentlich ist sie ja auch mehr als das: Eine echte Partnerschaft.
Und sie reicht schon eine geraume Weile zurück. Obwohl das am Anfang gar nicht so selbstverständlich war; damals hätte das wohl niemand vorherzusagen gewagt.
Denn wer Frankreich und Deutschland noch von ganz früher kannte, wußte: Da lag oft Streit in der Luft und das Trennende wurde betont.
All das, obwohl man schon immer Nachbarn war und quasi Tür an Tür lebte.
Dann aber, als die Idee der (europäischen) Gemeinschaft geboren war, da gab es hüben und drüben fast kein Halten mehr: Schluß mit den Kalamitäten der Vergangenheit! Ein rauschendes Fest wurde gefeiert, woran sich viele noch lange erinnerten – Deutschland und Frankreich rückten eng zusammen.
So eng, daß sie von Freunden und Kritikern bald gemeinschaftlich schon als „Motor“ bezeichnet wurden, so synchron verbunden ging es voran. Das war für die restliche Welt nicht immer einfach: Frankreich und Deutschland, manchmal beinahe wie symbiotische Zwillinge, die unbedingt den anderen beweisen wollten, daß ihre Allianz ein Erfolgsmodell war.
Deutschland und Frankreich – sie gaben darum oft den Takt vor, dem die anderen Folge leisten sollten: Vorbildlich – für ein Leben in Gemeinschaft.
Trotzdem war es nicht immer leicht miteinander. So viel gemeinsame Zeit: Da gab es auch Phasen mit Stürmen, echten Meinungsverschiedenheiten, selbst zeitweilige Alleingänge.
Aber die Sache hielt. Sogar so gut, daß eines Tages frischer Wind gewagt und beschlossen wurde:
Öffnung und Erweiterung! (zu einer europäischen „Union“…)

Österreich hatte ja Frankreich und Deutschland in ihrer Gemeinschaft schon lange beobachten können. Aber in so einer Art von Gemeinschaft hatte sich Österreich nicht wiedergefunden.
Gemeinsamkeiten und Nähe, ja, die gab es doch auch so schon lange genug. Gerade mit Deutschland… – schöne und weniger schöne Erinnerungen von ganz früher.
Die Öffnung zur Union war jetzt aber die Chance für Österreich, endlich „ganz offiziell“ dazuzurücken. Nicht wegen der alten Zeiten halber, sondern vor allem wegen diesem „frischen Wind“, der da jetzt durch das vereinte Ganze wehte (also Europa…). Und insbesondere mit Deutschland stellten sich Nähe und große Ähnlichkeit schnell wieder her.
Das war für Frankreich nicht immer eine leichte Zeit, Deutschland und Österreich so vertraut erneut Seite an Seite zu sehen. Ängste kamen auf, in ein (atlantisches) Abseits zu geraten, nur noch die „zweite Geige“ zu spielen. Und darum wurde es in Debatten jetzt auch manchmal laut, wenn um das „gemeinsame Wir“ gerungen wurde…
Doch trotz aller anfänglichen Zitterpartien und der Skepsis mancher Zweifler gelang die neue Beziehungsform als (europäische) Union, weil das, was alle zu bieten hatten und nun zusammenlegten, größer und mehr wurde als die Summe der Einzelteile.
Frankreich z.B. erkannte sich in Vielem in Österreich wieder: Die Urlaube, das Landleben mit seinen Stärken und Schwächen – und natürlich eine Vorliebe für gutes und reichliches Essen.
Nun konnte es geschehen, daß es sogar Deutschland war, welches von den Interessen der Partner überstimmt wurde – und es dauerte durchaus einen Augenblick, sich in diese neue Rolle mit Würde einzufinden…
Eine neue insgesamte Dynamik entstand: Partnerschaft, ja eine Gemeinschaft von gleich-Berechtigten wie -Verpflichteten.
Unkonventionell zuerst auf jeden Fall – aber visionär und zukunftsfähig.
Österreich, Frankreich und Deutschland wurden zu stärkeren Partnern: Für sich selbst, für einander und auch nach außen.
Und wie es mit der neuen Beziehungsform als Union beschlossen war, sollte es auch weitergehen: Offen für mögliche Erweiterung und die Dinge, die da noch geschehen mochten.

So kam eines Tages Kroatien hinzu, ermutigt und angezogen von den anderen Beteiligten.
Anfängliche Attraktion war sogleich vorhanden, denn mit Deutschland teilte Kroatien die Reiselust, mit Österreich die Leidenschaft für die Berge und mit Frankreich die alte Kunst des Weinbaus. Zu Österreich bestand sogar schon länger eine gewisse Nähe…
Trotzdem ist es für Kroatien nicht leicht, sich in dem längst gut etablierten Bündnis der anderen immer gleich genauso gut zurechtzufinden: Überall sieht sich Kroatien als „Neuankömmling“ vorgezeigt, obwohl es doch durchaus mit eigenen Errungenschaften glänzen könnte. Manches in dieser neuen Union geht Kroatien auch zu schnell – und gelegentlich kommt es sich vor wie ein bloßer „Juniorpartner“ , obwohl doch von Anfang an Gleichberechtigung versprochen wurde. Und etliches ist auch zunächst noch schwer zu verstehen – und nicht immer nehmen sich die „Alteingesessenen“ ausreichend Zeit für sorgfältige Erklärungen.
Aber Kroatien gehört nun dazu – da sind sich alle einig: Gekommen, um zu bleiben. Auch wenn das wieder viel Arbeit und Anpassung für alle bedeutet – auf verschiedene Geschwindigkeiten zu achten, zusammenzuwachsen und dabei alle mitzunehmen.

Frankreich, das ist Vincent, der vor über einem Jahrzehnt nach dem Studium ganz in Deutschland, genau genommen in Bayern geblieben ist, um dort „seine“ Karin zu heiraten.
Als die beiden vor anderthalb Jahren ihre Ehe öffneten, kam Max aus Österreich hinzu, den Karin eigentlich schon lange als Kollegen im Außendienst kannte.
Und nun haben diese drei vor kaum zwei Monaten die Kroatin Ivana auf einer dreitägigen Motorrad-Convention am romantischen Königsee kennengelernt.
Und wie das Leben manchmal so spielt: Im Laufe eines verlängerten Hüttenabends hat es irgendwie bei allen gefunkt…

Karin und Vincent vereinen das Beste aus Deutschland und Frankreich: Bodenständiges Denken mischt sich da mit romanischem Esprit zu einem gutmütigen Eigenwitz, mit dem die beiden seither auch alle Höhen und Tiefen des gemeinsamen Lebens gemeistert haben. Zwei Kinder, jetzt 8 und 10 Jahre alt, haben die beiden übrigens auch.
Über offene Beziehung und Polyamory waren beide ein wenig belesen und hatten in einem Gespräch mal – eher theoretisch – bekundet, daß „das ja für die Entwicklung ihrer Beziehung nicht ausgeschlossen sei…“
Vincent, der nach eigenem Bekunden selber ein „Auge für schöne Frauen“ besitzt, hatte seinerzeit jedoch auch bemerkt, daß der Max für die Karin längst mehr war, als nur der „Kollege im Außendienst“. Karin, beileibe kein Kind von Traurigkeit, hatte mit Vincent dann „erst“ nach zwei Wochen reinen Tisch gemacht, und da stand schon ein „Fortbildungswochenende“ mit Max im Raum, welches so gar nichts mit der Firma zu tun haben sollte.
Bei einer gemeinsamen Aussprache stellte Vincent überrascht fest, daß er Max als den extrem kompetenten Veranstalter „Crostini“ kannte, bei dem er schon zwei Kochkurse mitgemacht hatte – und dessen Social-Media-Grillseite er seither eifrig gefolgt war.
Nun folgte allerdings eine ziemlich „abgekühlte Phase“ in dem Verhältnis der drei, welche erstmal so gar nichts mit Grillen zu tun habe sollte.
Beinahe etwas verzweifelt war es am Ende Max, der plötzlich das Thema „Polyamory“ wie einen Rettungsanker für sich auf den Tisch brachte. Und überrascht feststellte, daß die grundsätzliche Idee davon Karin und Vincent gar nicht besonders neu war.
Ein dreiviertel Jahr und zahlreiche tiefe Gespräche (allseitige und gemeinsame) später, war eine erstaunliche Übereinkunft zustande gekommen. Vincent wollte Stabilität und Vertrauen gewinnen, Karin wollte „ihr Mannsvolk“ erhalten und Max, der ohnehin mit leichtem Gepäck lebte, bekam die Chance, zwei Straßen von den beiden entfernt in ein kleines Appartement zu ziehen.
Mit diesem Tag wurde Max mehr und mehr erst Dauergast und schließlich so etwas wie Dauerbewohner im Hause unseres deutsch-französischen Paars.
Die Kinder fanden diese Entwicklung am spannendsten, denn mit Max kam regelmäßig jemand zum Toben und Bolzen ins Haus – eine Rolle, bei der Vincent, der selbst Fernsehfußball „cruellement“ nennt, gerne jemand anderem den Vortritt ließ.
Durch die sehr unterschiedlichen Arbeitszeiten des Trios ergab sich eine überraschend günstige Dynamik für Haushalt und Freizeitgestaltung, die dem gesamten Miteinander ziemlich förderlich war.
Und eines Nachts, als doch einmal alle zuhause waren, „geschahen Dinge“ im Gemach der Karin mit dem „Mannsvolk“, was Max und Vincent auch ihr Verhältnis zueinander auf ganz anderen Ebenen nochmal überdenken ließ…

Max, ein durchaus „lustiger“ aber gleichzeitig auch sehr nachdenklicher Tiroler, sieht sich nicht als „Bruder Leichtfuß“. Zugegeben, am Anfang hätte er nicht gedacht, wohin ihn „das mit dieser Karin“ mal führt. Aber jetzt ist ihm die „ganze Bande“ ganz schön ans Herz gewachsen. Insbesondere für die Kinder ist er eine Mischung aus Teilzeit-Papa und ältestem Bruder – und er war geradezu überrumpelt, mit wieviel Vorvertrauen er gerade von den Kiddies überrollt wurde.
Die Karin hat er schon immer für ihre große Selbständigkeit und Geradlinigkeit bewundert. Ja, schließlich hat es sich da so richtig reinverliebt, wollte es eines Tages nicht mehr missen.
Wenn er das nur mit dem Vincent, diesem eifrigen Besucher seiner Kurse, nur schon gleich gewußt hätte. Also – daß der zu der Karin gehört. Da hätte er ja schon mal ein Männerwort mit dem suchen können, ohne daß es zwischendurch erstmal zu so einem Kuddelmuddel kommen mußte.
Aber die Kurve haben sie ja gerade mal noch so gewuppt. Der Vincent kann in seinem gallischen Zorn ganz schön beeindruckend sein, daß muß er zugeben, der Max. Aber – das weiß der Max jetzt auch, Vincent hat genauso eine total romantische Seite und einen übermütigen, lausbübischen Charme, da wird nicht nur die Karin rot bis über beide Ohren, wenn er jetzt daran denkt.

Tja. Und nun Ivana. So hatte die sich ihren Urlaub in Deutschland sicher kaum vorgestellt. Erst dieses Bikertreffen am Königssee. „Hüttenabend“, wenn alle noch heute das Wort sagen, dann bekommt sie schon wieder dieses Kribbeln im Bauch… In dieser verrückten Stimmung aus überschäumender Laune und genialer Musik sind Karin und sie nach der letzten Band quasi übereinander hergefallen, die verblüfften Männer im gleichen Raum, noch mit Bier in der Hand, haben die beiden total ignoriert. Max hat sich dann tatsächlich irgendwann, beinahe vorsichtig, mit in das Getümmel gewagt – und wurde tatsächlich wilkommengeheißen. Und Vincent? Der hat die erotische „Installation“, die da plötzlich in seinem Schlafzimmer entstanden war, einfach nur genossen.
Wer die verrückte Idee hatte, die Kroatin dann am nächsten Morgen mit nach Landshut einzuladen, nach Hause, nach nur einer wilden Nacht? Das weiß keiner mehr. Nur, daß Ivana sich das so mir-nix-dir-nix zugetraut hatte.
Aber alle wissen, daß dabei eine total harmonische, ja beinahe familiäre Woche herausgekommen ist, was wirklich niemand hätte besser planen können.
Und alle wissen, daß Max plötzlich einen seiner Internetkontakt aktiviert hatte, wo es um irgendeine Vakanz beim BRSO ging, ob daß nicht etwas für Ivana sein könnte… Denn Ivana ist begabte aber schlechtbezahlte Cellistin am Nationaltheater in Rijeka und vielleicht ließe sich da etwas drehen…
Ivana mußte nach 10 Tagen zurück an die Adria.
Doch nach einem Monat war sie schon wieder zurück, diesmal mit Cello und einem Rollkoffer voller schwarzer Hosenanzüge… Karin, Vincent und Max hörten atemberaubt und durchaus etwas aufgeregt zu, als Ivana per Telefon mit einem Feuerwerk rollender „r“s und ihrer tiefen Stimme aus einem Volontariatsangebot einen Probevertrag herausverhandelt.
„JUHU Ivana kommt mit in den Zoo!“, jubeln die Kinder, noch bevor sie es schafft, den Hörer aufzulegen.

Ende und Abspann, Vorhang und Tusch?
Im Gegenteil. Eigentlich stehen alle vier sogar noch ziemlich am Anfang ihrer gemeinsamen Reise:

Karin hat in Ivana eine Freundin gefunden, bei der sie das Gefühl hat, sie könne dort endlich ganz sie selbst sein und als ob sie sich ihr Leben lang schon kennen würden. Wenn es nach ihr gehen würde, dann hätte sie jetzt endlich all die lieben Menschen um sich versammelt, nach denen sie sich schon immer gesehnt hatte. Hoffentlich teilen die anderen ihren Wunsch nach echter und enger dauerhafter Gemeinschaft…

Vincent ist etwas besorgt, weil er sich an die Zeit erinnert, als Max dazukam, was für ihn wirklich nicht einfach war und beinahe seine damalige Beziehung an den Rand des Abgrunds gebracht hätte. Max ist zwar ein genialer Freund (und mehr) geworden, mit dem es sich prima über Kugelgrill und Smoker fachsimpeln läßt – aber das vollständige Vertrauen zu ihm ist auch nach anderhalb Jahren noch nicht ganz wieder hergestellt.
Er weiß auch, daß er selbst zusammen mit Karin oft „das Programm“ im Hause vorgibt – aber er und sie sind ja auch noch Eltern, da spielen auch die Belange der Kinder nach wie vor eine gewichtige Rolle – und Kompromisse müssen berücksichtigt werden, damit diese Stabilität und Fürsorge erfahren können…

Max ist tief in sich verunsichert, weil er das Gefühl hat, er müsse sich gerade gänzlich neu erfinden. Er hatte gedacht, mit Karin seinen Stern zu finden und war dafür unter allen Umständen bereit, ihr Leben auch mit Vincent an der Seite zu teilen. Jetzt hat ihn diese Ivana voll erwischt – und zum ersten mal fühlt er sich zwischen zwei ganz verschiedenen Frauen hin- und hergerissen. Max weiß gerade gar nicht, wo er steht und wünscht sich Vincents französische Leichtigkeit. Vielleicht sollte er sich seinem allerbesten Freund und Quasi-Partner offenbaren, damit nicht wieder so ein Durcheinander wie vor über einem Jahr geschieht. Max möchte gerne endlich ankommen, eigentlich hatte er gehofft, es würde nun ruhiger, statt turbulenter…

Ivana erkennt sich selbst nicht wieder. Vor einem Vierteljahr hat sie das Wort „Mehrfachpartnerschaft“ noch nicht einmal gekannt. Geht so etwas überhaupt? Jetzt hat sie gerade Gefühle für drei Menschen entwickelt, die schon anfangen darüber zu sprechen, ob sie nicht in ein gemeinsames Haus ziehen sollten.
Ivana kommt aus einer Familie, bei der sie nicht einmal weiß, wie sie zuhause überhaupt erklären soll, was sie mit diesen Leuten so intensiv verbindet. Sie hat Angst – und ein Teil von ihr schämt sich auf seltsame Art sogar. Es ist alles neu: Karin, die Liebe zu einer Frau, ist das nicht verrückt? Max, ein lieber Kerl – aber mit seiner krachledernen Art geht er ihr manchmal auf den Senkel. Und Vincent? Mag der sie überhaupt wirklich? Es gibt Momente, da kann sie ihn noch ganz schlecht einschätzen. Manchmal scheint er sie geradezu ängstlich anzusehen…

Epilog:
Die lange Einleitung über die staatlichen „Vorbilder“ unserer Protagonist*innen habe ich gewählt um zu zeigen, daß es, wie in Europa, auch in Beziehung immer „vielerlei verschiedene Geschwindigkeiten“ gibt. Und so einheitlich wie Europa nach außen als Union auftritt – oder unsere vier Held*innen als geschlossene Biker-Formation auf einem Treffen – so unterschiedlich kann das Innenverhältnis darin aussehen.
Mit meiner kleinen und vielleicht etwas idealen Geschichte, bei der keineswegs abzusehen ist, wie sie ausgehen wird, möchte ich dazu anregen, über „(Mehrfach)Beziehungen der verschiedenen Geschwindigkeiten“ nachzudenken.
Und ich möchte zeigen, daß es wichtig ist im Hinterkopf zu behalten, daß diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten in den Handlungen und Wünschen unterschiedlicher Menschen immer aktiv sind, weshalb nach Momenten großer Eintracht auch immer wieder Situationen großer Differenzen und Scherkräfte in Mehrfachbeziehungen erlebt werden können.

Oligoamor möchte ich abschließend sagen: Je mehr den Beteiligten ein „gemeinsames Europa“ also ihr „gemeinsames Wir“, ihre „gemeinsame Mitte“ wichtig ist, umso besser werden sie diese verschiedenen Geschwindigkeiten erkennen, berücksichtigen und mit Respekt integrieren können.
Redet miteinander!



Svenja und Tobi: Das ist für Euch!

Danke an Marc Sendra Martorell auf Unsplash.com für das schwungvolle Bild.

Eintrag 9

Geheimnisvoller Emotionalvertrag

Wer heute im Internet nach dem Stichwort „Emotionalvertrag“ sucht, wird vorwiegend zwei Anwendungskategorien finden: Zum einen (und hauptsächlich) Beiträge, in denen es um Problemstellungen hinsichtlich familiärer Belastungen der Eltern/Kind-Beziehung geht, vor allem aufgrund unsicherer Bindungserfahrungen in der Phase des Aufwachsens. Oder es wird in betrieblichen Zusammenhängen von der „emotionalen Verbindung“ von Arbeitnehmer*innen zum Unternehmen gesprochen – oftmals allerdings hinsichtlich der extremsten Konsequenz davon: Der gefürchteten „Inneren Kündigung“.
Daß in beiden Fällen ein „Emotionalvertrag“ erwähnt wird, der offensichtlich in eine Krise geraten ist, scheint kein Zufall. Und ebenso offensichtlich scheint es sich in beiden Fällen um eine Art „unsichtbaren Vertrag“zu handeln, der irgendwie konkludent eingegangen wurde, also im Juristendeutsch: „Wenn jemand seinen Willen stillschweigend zum Ausdruck bringt und der redliche Empfänger hieraus auf einen Rechtsbindungswillen schließen darf, sodass ein Vertrag auch ohne ausdrückliche Willenserklärung zustande kommen kann.
Dabei weist allein diese Definition schon auf das innewohnende Problem der beiden genannten Anwendungsbeispiele hin: Denn es gibt wohl kaum weder einen stillschweigenden Willensausdruck eines Kindes, mit dem es zustimmt, fürderhin Emotional- und Erziehungsobjekt seiner Eltern zu sein, noch ein konkludentes Anrecht von Arbeitgeber*innen auf die emotionale (und daher schwer überprüfbare) Unternehmensverbundenheit der Mitarbeiter*innen.
Aber genau damit sind wir trotzdem mitten im Thema.
Denn nicht nur der Eltern-Kind-Bindung oder einem Arbeitsverhältnis, sondern jeder Beziehung liegt streng genommen so ein unsichtbarer „Emotionalvertrag“ zugrunde.
Darum ist es wichtig, dieses Phänomen gerade in Liebesbeziehungen und insbesondere in non-monogamen Mehrfachbeziehungen für alle Beteiligten möglichst sichtbar – und damit gestaltbar – zu machen.

Warum benutze ich die Bezeichnung „Emotionalvertrag“? Dazu möchte ich hier zunächst noch einmal mit der Definition der deutschen Wikipedia darlegen, was ein „Vertrag“ ist – und überraschenderweise klingen einige Formulierungen dort schon beinahe ideal oligoamor:

Ein Vertrag ist im Recht und in der Wirtschaft die aus übereinstimmenden Willenserklärungen zustande kommende Einigung von mindestens zwei Rechtssubjekten […].

Ein Vertrag koordiniert und regelt das soziale Verhalten durch eine gegenseitige Selbstverpflichtung. Er wird freiwillig zwischen zwei (oder auch mehr) Parteien geschlossen. Im Vertrag verspricht jede Partei der anderen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen (und damit eine von der anderen Partei gewünschte Leistung zu erbringen). Dadurch wird die Zukunft für die Parteien berechenbarer. Wenn eine Partei den Vertrag bricht, so kann dies die andere Partei ganz oder teilweise von ihrer Verpflichtung zur Erfüllung des Vertrags entbinden.

Der Inhalt der vertraglichen Vereinbarung muss von den Vertragsparteien im gleichen Sinne verstanden werden. Andernfalls kommt es zu unterschiedlichen Auslegungen des Vertrages, und der Zweck des Vertrages, die Koordination zukünftigen Verhaltens, wird verfehlt. Deshalb sind auch Täuschungen der anderen Partei über das Vereinbarte unzulässig.

Die Selbstverpflichtung durch Versprechen setzt voraus, dass die betreffende Partei bezüglich des Vertragsgegenstandes mündig ist und für sich selber sprechen und entscheiden kann und darf, d. h. die betreffende Partei muss rechtlich geschäftsfähig sein. Eine geschäftsfähige Person kann wirksame Willenserklärung abgeben und am Geschäftsverkehr teilnehmen. Eine geschäftsunfähige Person dagegen kann keine wirksame Willenserklärung abgeben. Jede Partei muss außerdem grundsätzlich befähigt und berechtigt sein, wie versprochen zu handeln. Insofern müssen die Parteien entsprechend autonom und verfügungsberechtigt sein.

Wenn die Leistungen der Parteien zeitlich versetzt erbracht werden, muss diejenige Partei, die in Vorleistung geht, darauf vertrauen, dass die andere Partei ihre Verpflichtungen ebenfalls noch erfüllen wird, ansonsten besteht ein Vorleistungsrisiko. Da ohne eine Vertrauensbasis niemand einen Vertrag abschließen wird, ist es für die Parteien wichtig, einen guten Ruf als zuverlässige Vertragspartner zu haben.

Wenn sich die vereinbarten Leistungen bis weit in die Zukunft erstrecken, so können in der Zwischenzeit unvorhergesehene Ereignisse eintreten, die die mit dem Vertrag verbundenen Absichten der Parteien gegenstandslos machen (Wegfall der Geschäftsgrundlage). In diesem Fall kann es zu einer Aufhebung des Vertrages kommen.

Der Inhalt eines Vertrages wird von den Parteien ausgehandelt. Zu welcher Vereinbarung es schließlich kommt, hängt von der Interessenlage der Parteien, ihren Handlungsmöglichkeiten und ihrem Verhandlungsgeschick ab. Grundsätzlich gilt, dass dabei jeder Partei freigestellt ist, innerhalb des gegebenen rechtlichen Rahmens ihre Interessen frei zu verfolgen. Die Parteien werden bei rationalem Handeln also nur einen solchen Vertrag abschließen, durch den sie besser gestellt werden als ohne diesen Vertrag.

Zwischen dem Punkt, wo ein Vertrag für die Parteien vorteilhaft wird, und dem Punkt, wo er nachteilig wird, gibt es einen mehr oder weniger großen Spielraum für Verhandlungen. Dabei kann die Verhandlungsmacht der Parteien sehr unterschiedlich sein, je nachdem wie dringlich sie den Vertragsabschluss jeweils benötigen.“

Die meisten meiner Leser*innen werden wohl noch mitgehen, wenn ich die Beteiligten einer Liebesbeziehung im juristischen Sinne als „Rechtssubjekte“ bezeichne, handelt es sich doch im Normalfall um die berühmten „wechselseitig zustimmenden Erwachsenen“ (Englisch: mutual consenting adults).
Was vor allem bei obiger Beschreibung spannend ist, ist, daß auf der gesamten (vollständigen) Wikipedia-Seite überhaupt nicht von konkludenten oder stillschweigenden Verträgen die Rede ist: Also scheinen Verträge von ihrer grundsätzlichen Konzeption her erst einmal für alle beteiligten Parteien durch und durch bewußte und nachvollziehbare Übereinkünfte zu sein (!).
Interessant wird es allerdings bei der Frage des „Vetragsgegenstandes“ – also dem, worüber der Vertrag geschlossen wurde: Die oben so bezeichnete „Leistung“. Diese kann, das weiß jede*r aus dem Alltag, ein konkreter Gegenstand (z.B. ein Brot) oder eine messbare Handlung (z.B. eine Autowäsche) sein.
Der Begriff des „Emotionalvertrags“ in Liebesbeziehungen kann daher im ersten Moment mißverständlich wirken, da „Liebe“, „Zuwendung“, „Empfindung füreinander“, „Zärtlichkeit“ etc. wohl weder konkret noch (wie die emotionale Bindung zum Unternehmen oben) wirklich messbar sind.
Also kann es im weiteren Sinne darum auch nicht gehen. Allerdings spielt es im im engeren Sinne durchaus mit hinein, wie ich hoffentlich noch zeigen werde.

Die Wirklichkeit – und damit befinden sich die meisten Emotionalverträge, auch in Liebesbeziehungen, in der eher traurigen Gesellschaft der beiden Eingangsbeispiele – ist, daß sie meist keineswegs übereinstimmende Willenserklärungen nach mündiger inhaltlicher Aushandlung sind.
Denn Emotionalverträge sind – und auch dies stand bei ihrer Namensgebung Pate – fast immer höchst subjektive, „gefühlte“ Arrangements des Gebens und Nehmens (oder sanfter: des Beitragens und Genießens) in menschlichen Beziehungen. Und eben auch dieses „Geben und Nehmen“ ist fast immer eine nur einseitig-subjektive – und darum oft hinsichtlich Quantität und Qualität emotional beeinflußte – Anschauung von jenen konkreten Dingen, messbaren Handlungen und, ja, gerade auch dem gefühlsmäßigen Engagement in der Beziehung – und für die Beziehung

Wenn wir als Menschen in Beziehungen zusammenkommen, geraten wir vor allem dann dort umso schneller in problematische Bereiche bzw. Konflikte, je unbewußter wir uns zu dem Phänomen „Emotionalvertrag“ verhalten; denn bekanntlich modern verdrängte Dinge unter dem Teppich doch am allerbesten vor sich hin, nur um dort auf den Moment zu warten, wo sie den meisten Schaden verursachen können…
Für ehemalige Bewohner der „Alten Welt der Monoamorie“ wie mich konnte und kann das sehr weitreichende Konsequenzen haben, da oft sogar die Wahl des Beziehungsmodells selber davon betroffen war (und oft genug noch ist).
Ich vergleiche das gerne mit einem Kleinwagenkauf: Mensch sieht ein bestimmtes Modell mit einer bestimmten (Standard)Ausstattung überall, das Ding ist offensichtlich bewährt und alle anderen Nutzer*innen wirken überwiegend damit zufrieden. Also entscheidet Mensch sich auch für so ein Auto, setzt bei den AGBs einen Haken, ohne sie durchzulesen (alle anderen scheinen doch einigermaßen sorgenfrei zu sein und kommen offensichtlich an ihre Ziele – also wird es wohl schon keine Fallstricke im Kleingedruckten geben…) und – ja, dann sitzt Mensch da mit dem Kleinwagen und stellt evtl. bereits mittelfristig fest, daß das Ding gar nicht zu den eigenen Bedürfnissen paßt…
Vielfach verhalten wir uns also beim Eingehen von Liebesbeziehungen, die langfristige Auswirkungen auf unser gesamtes Leben haben werden, in etwa so schludrig wie beim Onlineshopping.
Wer dann z.B. auch noch standesrechtlich geheiratet hat, ist sogar einen ganz echten Vertrag eingegangen, der einklagbare versorgungs- sowie güterrechtliche Konsequenzen enthält

An dieser Stelle scheint es mir wichtig darauf hinzuweisen, daß ich hier keineswegs für das einer Beziehung vorausgehende Ausfertigen von Eheverträgen im Sinne US-amerikanischer Filmstars und Multimillionäre eintrete (die im englischen Sprachraum auch korrekt „Voreheliche Vereinbarung“ genannt werden). Zum einen regeln diese bloße materielle Eventualitäten, zum anderen könnten diese niemals geeignet sein, die Flexibilität und die wandelbare Natur der inneren Dynamik von Liebesbeziehungen abzudecken.

Ebenso problematisch wäre nach meinem Empfinden eine Evaluation oder gar ein Aufrechnen der „anhängigen Leistungen“ im Emotionalvertrag: Wie oft Kinder zu Bett bringen entspricht einem Nachmittag Gartenarbeit? Entspricht die Stundenzahl beim Frühjahrsputz der dreitägigen Personalmanagement-Fortbildung? Sind Qualifikation und Leistung der Beziehungsmenschen überhaupt linear vergleichbar?
Die Gefahren solcher Aufrechnerei werden dabei für die Liebe höher sein, als der tatsächliche (Gerechtigkeits-)Nutzen: Es besteht das Risiko, daß irgendwann unter Umständen sämtliche Handreichungen in der Beziehung mit einem nominellen Tauschwert versehen werden (Eltern pubertierender Teenager kennen das vermutlich). Einer rein kalkulatorischen Verteilungsgerechtigkeit wird damit Tür und Tor geöffnet, bis hin zu der Absurdität, daß „Konten“ geführt werden, deren Ausgleich penibel beobachtet und eingefordert wird.
Es ist leicht zu sehen, daß so ein Umgang, der eher schon an Rosenkrieg oder Scheidungspaare in Auflösung erinnert, weder liebevoll noch wirklich menschlich geraten wird.

Die vielfache Verflochtenheit von freiwillig übernommenen Aufgaben, engagierten Selbstverpflichtungen und quasi-karitativen Liebesdiensten auf zahlreichen Ebenen in Beziehungen ist meist enorm hoch.
Diese Verflochtenheit ist so sprichwörtlich, daß Franklin Veaux und Eve Rickert das anhängige Kapitel in ihrem sehr umfangreichen Buch „More than Two“ zum Thema Polyamory „Sex and Laundry“ (deutsch: Sex und [Schmutz]Wäsche) nannten – und das Kapitel mit der Anekdote eröffneten, daß die am häufigsten gestellte Fragen an Beteiligte von Mehrfachbeziehungen „Wie ist das bei Euch mit dem Sex? direkt gefolgt von „Und wer macht bei Euch die Wäsche?“ seien (siehe auch Eintrag 93).
Insbesondere hinsichtlich Mehrfachbeziehungen kann ein mehr oder weniger im „unbewußten Dunkelfeld“ liegender, sich selbst überlassener Emotionalvertrag über längere Zeit das Potential zu einem sozialen Brandsatz entwickeln. Besonderes Augenmerk benötigen nach meiner Erfahrung die folgenden zwei Konstellationen:

1) Vorhandene Bestandsbeziehung als „Altlast“:
Es wäre doch ein hübsches Ideal, wenn wir nun, wo wir diesen Blogeintrag zur Kenntnis genommen haben, ab jetzt bei jeder potentiellen Beziehungsanbahnung unsere eigenen materiellen, geistigen und emotionalen Ressourcen höchst bewußt zur Kenntnis nehmen würden, um diese dann ebenso bewußt in einer sich entwickelnden Beziehung mit einem hohen Maß an Integrität einzubringen und anzuwenden – und das Gleiche würde für die andere(n) beteiligte(n) Partei(en) gelten.
Selbst dieser Idealfall läge ja aber nur dann vor, wenn wir gerade Single wären und in diesem Moment der Möglichkeit einer neuen Beziehungsbildung gegenüberstünden.
Häufig aber ist es eher so, daß wir uns bereits in eingegangenen Beziehungen befinden (und Aussiedler der monoamoren Altwelt meist dazu noch mit einem monogamen Standard-Altvertrag inklusive einem Wust nachlässig abgezeichneter AGB…).
Eigentlich möchte ich solche vermeintlich abfälligen Worte für schon bestehende Liebesbeziehung gar nicht wählen, denn – Emotionalvertrag hin oder her – diese können in ihrer Ausprägung wunderbare, langfristige und allseitig erfüllende Verbindungen sein.
Gerade wegen der „unsubstantiellen Natur“ von Emotionalverträgen kann es aber dennoch sein, daß sich ein oder mehr Menschen solcherart in einem Beziehungsgeflecht befinden, wo grundlegende Auffassungen hinsichtlich der Art der Beziehung, was Ansprüche, Entwicklungsfähigkeit, Bedürfnisse und Wünsche der Beteiligten angeht, hinter den Kulissen überraschend stark unterscheiden. Und dies stellt genau in solchen Fällen ein Problem da, wenn unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten, auseinanderklaffende Ansichten oder Konflikte urplötzlich den tief vergrabenen Emotionalvertrag an das harte Licht des Tages zerren.
Demgemäß werbe ich also gerade bei solchen gemeinsamen „Altlasten“ dafür, sie schon einmal rechtzeitig bei gutem Wetter gemeinsam hervorzuholen und zu sichten, als an einem schlimmen Tag bei rauer Beziehungssee von den Konsequenzen unvorbereitet überrollt zu werden (was dazu oligoamor hilfreich sein könnte, werde ich im letzten Absatz skizzieren).

2) Ressourcenmanagement in (Mehrfach)Beziehungen:
Auch für ein gut eingespieltes Beziehungsgeflecht – egal ob mit „nur“ zwei oder mehr Beteiligten – ist jeder „Konversionsmoment“ (Wandlungsmoment), wenn eine weitere Beziehung(sperson) hinzukommt, eine echte Herausforderung.
Und auch dies hängt vor allem mit dem Modus des zugrunde liegenden Emotionalvertrags zusammen. Ich sage „Modus“ weil sich für Mehrfachbeziehungen in so einem Moment sogleich kristallisiert, ob eine (Mehrfach)Beziehung tendenziell eher über eine oligoamore Struktur (mit einem „gemeinsamen Wir“ als Mittelpunkt) verfügt oder ob es sich dabei stärker um einen Zusammenschluß von größtenteils autonomen Einzelpersonen handelt (was sowohl bei offenen Beziehungen, Polyamory oder Beziehungsanarchie vorkommen kann).
Wenn es aber ein „gemeinsames Wir“ gibt – was bedeutet, daß nicht jede Person ihr eigenes Ressourcenmanagement betreibt, worin sie kontextuell darüber entscheidet, wie viel Verbindlichkeit sie situativ in den Zusammenschluß einbringt – dann berührt eine neue Beziehung(sperson) auch immer sogleich den gemeinschaftlichen Kern der Gesamtbeziehung – und damit die Gesamtressourcen.
Genau hier zeigt sich, warum in so einem Moment höchstmögliche Transparenz und Aufrichtigkeit wichtig sind, denn jeder neu hinzukommende Mensch wird ja sofort sowohl mit seiner „energetischen Signatur“ (wie in der „Geschichte von Anday und Tavitih“) als auch mit seinen ganz tatsächlichen materiellen Bedürfnissen sofort Einfluß auf die Bestandsbeziehung nehmen.
Daraus geht hervor, daß dadurch auch sofort eine neue Distribution des bisherigen Ressourcenmanagements im Raum steht. Und dies wird eher zu einer Chance und einem Zugewinn für alle geraten, wenn
a) alle Beteiligten von Anfang an informiert sind und
b) auf diese Weise bereitwillig ihr Potential zur Mitgestaltung aktivieren.

Aus dem zuvor Gesagten ist deutlich zu erkennen, daß spätestens hinsichtlich der Aufnahme und dem Führen von Mehrfachbeziehungen dringlich die Bewußtmachung des Emotionalvertrags angeraten ist: Die „Öffnung einer Ehe“ enthält u.a. meist genau deshalb mittelfristig soviel Sprengstoff, weil die „Bestandsinsassen“ oft gar nicht die Art und Weise ihrer verflochtenen Bezogenheiten und die Zuordnung ihrer (materiellen wie emotionalen) Ressourcen geklärt haben, so daß beim Hinzukommen einer weiteren Person meist dieses ganze heikle Gebilde überstrapaziert wird – und oft die Opfer danach einzeln an Trümmer geklammert auseinandertreiben…

Der Emotionalvertrag – Definition und (kleine) Hilfestellung:

Emotionalvertrag:
„Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“

(© Julius Otto Röber, Oligoamory.org)

Zuallererst – und das habe ich mit den beiden obigen Beispielen schon angedeutet – ist die Bewußtmachung das Wichtigste, daß es in nahezu allen (Beziehungs)Fällen einen konkludenten Emotionalvertrag gibt. Diese gewonnene Bewußtheit ist buchstäblich mehr als „die halbe Miete“, denn sie ist die Grundlage jeder weiteren erreichbaren persönlichen Selbstwirksamkeit und Gestaltungsfähigkeit in Hinblick auf diese „unsichtbare Übereinkunft“.
Weil wir Menschen dazu tendieren, uns über solche „Unsichtbarkeit“ Sorgen zu machen, ist es ebenso eine gute Idee, sich bezüglich der Konkludenz Beruhigung zu verschaffen. Denn diese klingt komplizierter als sie ist, und in unserem Alltag üben wir sie regelmäßig aus, ohne uns Sorgen zu machen: Etwa, wenn wir zulassen, daß uns von der Bäckereifachverkäuferin unseres Lieblings-Stehcafes eine neue Leckerei aufgrund unserer ihr bereits bekannten Vorlieben empfohlen wird (womit wir z.B. jedesmal konkludent die neue DSGVO ratifizieren).
Darüber hinaus ist es gut, sich klarzumachen daß auch eine konkludente (stillschweigende) Zustimmung (eines Erwachsenen!) normalerweise eine echte Willensbekundung ist; gemäß dem Motto „Eine Entscheidung für etwas ist immer auch eine Entscheidung gegen etwas anderes (egal, ob ausgesprochen oder nicht).
Mit dem Aufnehmen einer (Liebes)Beziehung drücken wir also auf diese Weise stets eine Erklärung unseres Willens zur Einlassung (auf diese Beziehung) aus.

Mit dieser Erklärung zur Einlassung ist ein Spielfeld, ein Gestaltungsraum entstanden, der durch Unbewußtheit oft brach liegt oder (bislang häufiger) mit tradierten Konventionen überschrieben wird.
Darum ist es wichtig, sich gemeinsam darum zu bemühen, in erster Linie die Beziehung, hinter der der Emotionalvertrag steht, möglichst bewußt zu führen und zu pflegen. Dies bedeutet allseitig Aktivität und Teilnahme und erhält die Möglichkeit zur erwähnten Mitgestaltung.
„Oligoamor“ wird es, wenn wir dabei unsere Beziehung nicht als ein Spiel kalkulierender Verhandlungspartner*innen (siehe Eintrag 8 – „Beziehungsschach mit dem Zen-Meister“) ansehen, sondern sie von vornherein als „Joint Venture“, als eine gemeinschaftliche Bemühung um das „gemeinsamen Wir“ auffassen.
Dadurch stehen uns die „Werte“ der Oligoamory, insbesondere die Themenfelder Verbindlichkeit (vor allem in der Form von Integrität und Berechenbarkeit), Berechtigung, Aufrichtigkeit, Identifikation und Nachhaltigkeit als Werkzeuge zur Verfügung (beschrieben in Eintrag 3 und Eintrag 4).

Wie aber mit dem nur allzu menschlichen Wunsch nach Anerkennung und Gesehen-Werden umgehen, der sich irgendwann in fast jeder noch so idealen Beziehung trotzdem ergibt? Wie können wir das Risiko mindern, daß wir uns eines Tages doch irgendwann gegenseitig versuchen mit unseren „großen Opfern“ zu überbieten, die jede*r für den Erhalt der Beziehung erbringt?
Erwartungen an andere Beteiligte sind immer problematisch, so auch die Erwartung nach Anerkennung.
In liebevollen Beziehungen können wir dabei so ein bißchen etwas wie eine „Spiegel-Taktik“ anwenden, die Marshall Rosenberg in der „Gewaltfreien Kommunikation“ die „Celebration of Life“ (deutsch: Feier des Lebens) nannte. Statt laut zu betonen „Also ich mache ja das und das…!“ (wodurch die allgemeine Abrechnungsrunde eröffnet wäre), ist es wesentlich zielführender, in einem Gespräch zu benennen, womit die Anderen zum eigenen Wohlergehen (und dem guten Verlauf der Beziehung) beitragen.

Wenn wir uns klar darüber sind, daß Emotionalverträge allein schon aufgrund der Natur ihres Zustandekommens höchst subjektive Angelegenheiten sind, dann können wir uns dies hinsichtlich der inhaltlichen Zuschreibung und Verantwortung zunutze machen, indem wir selber möglichst aus eigenem Antrieb auf das achten und zu dem stehen, was wir regelmäßig (bereits) einbringen. Und indem wir uns darum vor Augen halten, daß „die Anderen“ möglicherweise unsere eingebrachtes Engagement anders auffassen können als wir. Wenn wir dabei jedoch trotzdem mit Verbindlichkeit und Integrität (ich erinnere: Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem) vorgehen, zeigen wir uns für unsere Beziehungsmenschen als berechenbare*r und verläßliche*r Mitwirkende*r.
Wenn unsere Beziehungen keine Einbahnstraßen sind, kann so eine „Celebration of Life“ also auch zu einem Moment geraten, in dem regelrecht aufscheint, wie aus „Deinem“, „Meinem“, „Ihrem“ und „Seinem“ ein „Unseres“ – eben ein „gemeinsames Wir“ – hervorgeht.
In jedem Fall entsteht ein Moment von erneuter Bewußtmachung, der immer auch die Chance für Kommunikation oder eventuelle (Neu/Wieder)Verhandlung der eingebrachten Anteile – und damit des nun längst nicht mehr so geheimnisvollen Emotionalvertrages enthält.



Danke an Michael Henry auf Unsplash.com für das großartige Foto.

Eintrag 8

Beziehungsschach mit dem Zen-Meister

Manchmal gibt es auf dem entlegenen Eiland der Oligoamory sogar Internet. Via Satellitenlink. An manchen Tagen funktioniert es nicht – heute klappt es. Schnell checke ich Nachrichtenportale, browse kurz durch den bunten Blätterwald.
Doch da – BÄM! – prangt plötzlich ein großes Zitat von Bhagwan Shree Rajneesh1 auf meinem Bildschirm; angetan mit irgendeinem hübschen Hintergrundbildchen:

Wir werden alleine geboren, wir sterben alleine. Zwischen diesen beiden Tatsachen erschaffen wir uns tausend und eine Illusion von Miteinander – alle möglichen Arten von Beziehungen, Freunde und Feinde, Geliebte und Verhaßte, Nationen, Rassen, Religionen. Wir schaffen Halluzinationen aller Art, nur um einen Umstand zu vermeiden: Daß wir allein sind. Aber was immer wir tun, die Wahrheit kann nicht geändert werden. Es ist so, und anstatt zu versuchen davor zu entkommen, ist die beste Möglichkeit, sich daran zu erfreuen.
Freude am eigenen Alleinsein ist das, worum es z.B. bei der Meditation geht. Der Meditierende ist jemand, der tief in das Alleinsein eintaucht und weiß, dass wir alleine geboren werden, wir alleine sterben werden und tief im Inneren auch alleine leben. Warum also nicht erleben, was dieses Alleinsein ist? Es ist unsere tiefste Natur, es ist unser innerstes Wesen.

(The Sound of One Hand Clapping, Rede Nr. 14)

Augenblicklich wühlt sich alles in mir auf: „Woah! Das ist ja sowas von anti-oligoamor! Und überhaupt: Wieder mal so ein Zitat, welches vermutlich vor allem die Jungen und Gesunden anspricht, solange die ihr Leben selbst in der Hand haben…!“
Natürlich versuche ich mich sogleich ein bißchen zu beruhigen. Weiß ich doch auch ein paar Autoritäten auf meiner Seite, die das ebenfalls so auf keinen Fall stehen lassen würden:
Der Kinderarzt Dr. William Sears fällt mir sofort ein, der achtsame Vertreter des „Attachment Parenting2“ (deutsch etwa: zuneigungsbetonte Elternschaft), der sich ja gerade für die Natürlichkeit und Wichtigkeit einsetzt, sofort mit unserer Geburt in eine enge menschliche Verbindung hineingeboren zu werden. Ebenso der dänische Familientherapeut Jesper Juul, der anhand von Kindern und Jugendlichen immer wieder bestätigt hat, wie wichtig es für uns Menschen ist, uns ein Leben lang in Gemeinschaft sowohl als verbunden als auch als frei zu erleben, um Sozialkompetenz und Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Und nicht zuletzt die große Verhaltens- und Primatenforscherin Jane Goodall, die sogar bei unseren nächsten tierischen Verwandten beobachtet und nachgewiesen hat, daß auch bei diesen Geboren-Werden und Sterben Prozesse hoher Gruppendynamik und Anteilnahme der Gemeinschaft sind – und somit offenbar sehr tief auch in unserer eigenen Soziologie und Biologie verankert sind.

Dennoch bin ich vor einigen Tagen bei einem Landausflug zum Archipel einem Polyamoren begegnet, der mir zu meinem letzten Eintrag über Freiheit und Verbindlichkeit wörtlich sagte:
„Nach meiner Erfahrung ist Liebe nicht personenbezogen. Ich kann mich entscheiden meine Liebe zu teilen mit wem oder wie vielen Menschen ich will. Aber wenn ich jemanden vermisse, vermisse ich entweder meine Vorstellung von ihm oder vermisse das, was er mir gibt. Als ich mich mal so nach Menschen verzehrt habe und sie vermisst habe, habe ich mich gefragt, was ich wirklich vermisse: Den anderen Menschen oder das Gefühl was er mir gibt? Und dann habe ich mich gefragt warum vermisse ich dieses oder jenes Gefühl. Die Antwort war ziemlich ernüchternd…: Weil ich selbst einen Mangel an gerade diesen Gefühlen: Nähe, Anerkennung, Liebe, Selbstbewusstsein, Bindung etc. in mir gefühlt habe. Und ich habe daraus gelernt, dass eine fehlende Bindung (Nähe, Anerkennung etc.) zu mir selbst nicht durch Verbindungen zu anderen kompensiert werden kann.“
Gerade wenn man Lehren wie die von Rajneesh oben so hinsichtlich der Liebe auf das „un-anhängige Selbst“ anwendet, wirkt das doch erst mal wie eine gründliche (Selbst)Erkenntnis, durchaus nachvollziehbar – und natürlich hört es sich auch wunderschön an.

Demgegenüber ist aber eben auch unser Grundbedürfnis nach anderen Menschen bzw. menschlicher Gemeinschaft eine unumstößliche Tatsache…
Woraus resultiert dieser Widerspruch – und ist es überhaupt ein solcher?

Als Bhagwan Shree Rajneesh vor allem in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in seinen Reden Menschen westlicher Industrienationen gemäß hinduistischem Sannyasa und buddhistischem Zen die Hingabe an die Leere nahebrachte, konfrontierte er damals direkt eine Lebensweise lärmender Massenbetriebsamkeit und die erste große Hochblüte populärer Unterhaltungskultur. U.a. dem von der Hippiebewegung wieder aufgegriffenen Ausdruck der „Gemeinschaftlichkeit“ (englisch: togetherness) setzte er gezielt das Konzept des Alleinseins, ja der „Alleinheit“ (englisch: aloneness), entgegen – und entschied sich sehr bewußt dafür, dies gerade nicht als „Einsamkeit“ (englisch: lonliness) zu definieren.
Die Form von „Gemeinschaftlichkeit (togetherness)“, die Rajneesh bei uns Westmenschen seinerzeit beobachtete, mußte ihm vermutlich oft oberflächlich, übertrieben und wie eine Flucht ins Außen erscheinen. Begriff und Lebensweise solcher Art „togetherness“ wurden von Rajneesh mehrfach in seinen Reden deutlich kritisiert3.

Das, was wir heute als gemeinschaftliches Konzept der Polyamory kennen, steckte damals buchstäblich noch in den Windeln. Morning Glory Zell-Ravenheart gab dem „Baby“ überhaupt erst in dem Jahr seinen Namen, in dem Rajneesh als „Osho“ starb (1990).
„Gemeinschaftlichkeit“ (togetherness), wie sie heute in der Polyamory und erst recht in der Oligoamory aufgefasst wird, bedeutet nämlich eigentlich etwas sehr Wichtiges; so definiert das Collins English Dictonary dies als:
eine Empfindung von Nähe oder Zuneigung durch die Verbindung mit anderen Menschen“ – und Webster’s New World College Dictionary schreibt in seiner 4. Edition sogar:
das miteinander Verbringen von viel Zeit, wie z.B. von Freizeit- oder sozialen Aktivitäten durch die Mitglieder einer Gruppe, insbesondere wenn davon auszugehen ist, daß dies zu einer stärker verbundenen, stabilen Beziehung führt“.
Also Verhaltensbeschreibungen, mit denen wohl auch Dr. Sears, Jesper Juul und Jane Goodall recht einverstanden wären.

Wie kann es demgegenüber trotzdem so scheinen, als ob Rajneesh in seiner Lehre den Menschen ein Dasein als „einsamer Wolf“ oder vielleicht besser in „Allein-heit“ empfiehlt?
Einsame Wölfe, die nichts in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen sollen, denen ihr Selbst genug sein muss und die die anderen Menschen bestenfalls als Luxus4, als „Lebensdreingabe“ um sich zulassen.

Kann es sein, daß „wir Westmenschen“ dann schon wieder in die nächste Falle gestolpert sind?
Eigentlich wollen das hinduistische Sannyasa und das buddhistische Zen doch vor allem Folgendes sagen:

„Lass die Vorstellung von Deinem ‚Ich‘ los. Dann kannst Du ‚Ich‘ wahrhaftig sein.“

Dieser Wunsch, dieses Ziel, ist wirklich weise: Denn im Alltag sind ja vor allem sowohl die Vorstellungen von uns selbst, wie auch auch unsere Vorstellungen, die wir uns hinsichtlich der Anderen machen, das, was uns das Leben schwer macht.
Marshall B. Rosenberg, der „Vater der gewaltfreien Kommunikation“ nannte eben diese Vorstellungen und Annahmen zutreffend „Diagnosen und Beurteilungen“.
Ebenso wie hinduistische Sannyasin oder buddhistische Zen-Meister erklärt aber auch Rosenberg, daß diese Diagnosen und Beurteilungen fast immer irrational sind, weil sie vor allem unseren eigenen angeeigneten Glaubenssätzen entsprängen, wie etwas/jemand sein „müsste“ – und nicht etwa echter konkreter (Sinnes)Wahrnehmung im Hier&Jetzt.
Genau darum ist gute Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung auch so schwer.
Der US-amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Scott Peck, der sich wohl am intensivsten mit der Praxis von Gemeinschaftsbildung auseinandergesetzt hat, nannte die vier Phasen eines solchen Prozesses „Pseudogemeinschaft“, „Chaos“, „Leere“ und „Gemeinschaft“. Ich werde sie hier mal „Oberflächliches-gut-Verstehen“, „Krise“, „Klarheit“ und „echte Beziehung“ nennen. Und ohne jetzt tiefer auf diese verschiedenen Phasen einzugehen, möchte ich zeigen, was diese Phasen mit dem bisher Gesagten zu tun haben.

Bezüglich Scott Peck und seiner Gemeinschaftsbildung war ich lange irritiert, wenn er über Gruppen von 60 und mehr Personen schrieb. Ich hielt dies für kaum glaublich und nahm an, daß kleine Gruppen doch viel leichter in Beziehung zu bringen sein müssten, weil ich insbesondere für die „Chaosphase“ die Gleichung aufmachte: Mehr Beteiligte = Größeres Durcheinander.
Meine eigenen Nah- und Mehrfachbeziehungen bewiesen mir aber nahezu das Gegenteil. Wenige Beteiligte können es aufgrund des viel höheren Nähefaktors und genau wegen der wenigen Mitwirkenden tatsächlich sehr viel schwerer haben.

In die Chaos-/Krisenphase bringen wir nämlich genau die zuvor erwähnten Vorstellungen, Annahmen, Diagnosen und Beurteilungen über uns und die Anderen mit hinein – und fangen dort damit an uns aneinander „abzuarbeiten“.
Mit wenigen „Mitspieler*innen“ (zwei oder drei, z.B.) kann dies regelrecht zu einer Art „Beziehungsschach“ oder „-skat“ geraten (und auch als „Beziehungsdoppelkopf“ oder „-Poker“ wird es mit vier bis sechs Beteiligten nicht besser). Da werden dann buchstäblich Züge geplant und Trümpfe gegeneinander ausgespielt. Und alles in dem Bestreben, dieses „Spiel“ am Ende für sich zu entscheiden. Was bedeutet: Den anderen Beteiligten so zu zeigen, daß nur die eigene (Spiel)Weise die erwiesenermaßen vorteilhafteste und darum richtige sein muß (und die der Anderen damit natürlich nachweislich als nicht erfolgreich und daher falsch bloßgestellt wird).
Scott Peck beschreibt nun, daß diese Konkurrenz- und Krisenphase erst dann endet, wenn alle Beteiligten genau diese Strategie für sich als unsinnig und nicht zielführend entlarven.
Und hier befürchte ich eben, daß es die „Wenigen“ miteinander eventuell deutlich schwerer haben, bis sie sich aus gegenseitiger Umklammerung, Erniedrigungsversuchen oder Schuldzuweisungen entlassen können. Denn bei wenigen Beteiligten ist es allzu leicht, sich sehr lange einzureden, daß es doch noch eine Chance oder einen bislang unbekannten Winkelzug zum vermeintlichen „Sieg“ gibt – oder darauf zu hoffen,daß die Anderen vielleicht einfach von sich aus irgendwann aufgeben…
Bei 40, 60 oder mehr Teilnehmer*innen würde selbst sehr hartnäckigen Spieler*innen die letztendliche Vergeblichkeit oder Unsinnigkeit einer solchen Sisyphusaufgabe viel schneller einleuchten…

Erst also, wenn wir in unseren Liebesbeziehungen an diesen Punkt kommen, dann treffen all die hier beschriebenen Philosophien erst wirklich zusammen und die vermeintlich beharrlichen Widersprüche lösen sich auf.
Darum auch nannte Scott Peck die darauffolgende, dritte Phase nicht sogleich „Gemeinschaft“, sondern „Leere“: Weil diese Erkenntnis, dieses Loslassen der eigenen Voreingenommenheit und des eigenen Sendungsbewußtseins nichts anderes ist als das Zen der Buddhisten, das Sannyasa der Hindus und die Urteilsfreiheit der „Gewaltfreien Kommunikation“.
Diese „Leere“ ist der Moment den z.B. Sportler, Künstler oder Handwerker als „Flow“ kennen, der aus einer Einheit von purem Wahrnehmen sowie Tun und Sein in einem besteht – der Moment aus dem heraus viele Erkenntnisse und Errungenschaften entstehen können.
Auch deswegen folgt die „Gemeinschaft“ oder die „echte Beziehung“ nicht gleich nach der Krise, weil diese „Leere“ ja ebenfalls einen „Augenblick großer Klarheit“ ist, der uns unsere Wahl- und Handlungsfreiheit zurückgibt, um uns un-verstellt zu entscheiden.
Und dieser Augenblick großer Klarheit kann sich in Beziehung eben auch erst dann vollständig entfalten, wenn alle Beteiligten ihn gemeinsam erreichen.
Was zugleich bedeutet, daß dies auch ein Zustand großer selbstgewählt-zugelassener Verletzlichkeit ist. Auch und gerade vor sich selbst, wenn man sich just seiner liebgewonnen und oft auch lange Zeit sinnstiftenden Glaubenssätze entledigt hat…

Egal, was dann passiert: Es ist Raum entstanden für etwas Neues und Echtes.
Vielleicht wird es eine wirkliche Beziehung; vielleicht wird es echte Gemeinschaftlichkeit.

Aber ohne die vorhergehende wirkliche Krise, ohne die darauffolgende Auseinandersetzung, ohne die Reibung aneinander, können wir uns noch sehr lange für den alleinigen Mittelpunkt der Welt halten.
Denn auch dafür brauchen wir die anderen liebenden Menschen vom Geboren-Werden bis zum Sterben um uns:
Nicht nur, um zu erleben, daß es gar nicht darauf ankommt, ob wir dieser Mittelpunkt sind.
Sondern um die Chance zu haben, zu erfahren, daß in unseren liebevollen Beziehungen und in echter Gemeinschaft das Potential unserer Vielfältigkeit immer noch unendlich viel größer wird als das Potential unserer Einzigartigkeit alleine.

1 Erst in seinem letzten Lebensjahr gab Rajneesh die Weisung, alle seine Arbeiten und Publikationen fortan unter einem von ihm neu angenommenen Namen „Osho“ herauszubringen. Da mir der Autor für den Großteil meines eigenen Lebens unter seiner am längsten geführten Bezeichnung „Rajneesh“ bekannt war, werde ich diese weiterhin verwenden.

2 Dr. Sears Standpunkt wurde direkt von den Ergebnissen der Autorin und Anthropologin Jean Liedloff beeinflußt (Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit).

3Vom Trug der Gemeinschaftlichkeit (The Fallacy of Togetherness, 1968)

4Die Macht der Liebe, Kapitel 2: Er sagte / Sie sagte; Von Liebe in einer Beziehung

Dank geht an Jason Leung auf Unsplash.com für das schöne Schachbrettbild.

Noch mehr zu Thema #Vertrauen und Verbindlichkeit gibt es HIER in Eintrag 43

Eintrag 7

Der Tagtraum – Verbindliche Weite

Ich sitze am Ufer des entlegenen Eilands der Oligoamory. Kleine friedliche Wellen schlagen leise an den Strand – die Sonne scheint, aber hier am Strand geht meistens ein frischer Wind.
Irgendwo in den Wäldern des Inselinneren hinter mir glaube ich ganz fern eine Flöte zu hören – nur eine schlichte Folge von Tönen.
In mir hallt die Geschichte von Anday und Tavitih noch nach.
Hätten die Oligoamoren sie auch auf dem Festland oder dem vielgestaltigen Archipel der Polyamory so erzählen können?
Oder hätten sie damit Kritik und Unverständnis hervorgerufen?
Wären die Protagonist*innen als besetzend oder vereinnahmend angesehen worden? Wäre ihr Verhalten gar als besitzergreifend interpretiert worden, ihre enge, fast schon spirituelle Verflochtenheit und Feinfühligkeit als wechselseitige Abhängigkeit?
Hätte das dortige Publikum die Geschichte alsbald für sich abgehakt und Anday und Tavitih für künftige Begegnungen den Satz ins Stammbuch geschrieben „Wahre Liebe gibt frei!“ ?

Gedankenverloren blinzle ich durch mein Kelchglas mit halbdurchsichtigem Cuja-Cuja-Nektar hindurch in die Ferne, in der Himmel und Meer nun grün-gelblich erscheinen.
„Wahre Liebe“, denke ich – und dabei fallen mir all die zahlreichen Mären und Geschichten ein, die alleine ich schon kenne und die sich um dieses Thema ranken. Held*innen gibt es da und Schurk*innen, große Ideale und rabenschwarze Abgründe. Widersprüchliches also, in mannigfacher Gestalt.
„Wahre Liebe“, ich wiege die Worte nochmals auf meiner Zunge – und denke dann: „Wahre Liebe… – …macht erst einmal… …gar nichts!“
Sie ist – ja. Sie entsteht irgendwann zwischen Lebewesen – und die sind es dann eigentlich immer, die ihrerseits irgendetwas mit der Liebe oder wenigstens in ihrem Namen anstellen.
Wenn also Liebe erst einmal nur eine Verbindung, eine Art Energie zwischen Lebewesen ist… – haben dann die obigen Fürsprecher*innen nicht eventuell Recht, daß es wichtig wäre, sie darum frei und unbesetzt fließen zu lassen – wohin sie will?

Was würden die Oligoamoren wohl dazu sagen?
Den freien Fluß der Liebe würden sie wahrscheinlich gar nicht in Frage stellen. Aber wie ich das nachhaltige Völkchen kenne, hätten sie zu der Qualität vermutlich einiges zu sagen:
„Frei ja – aber nicht beliebig! Schau, Oligotropos, das paßt doch genau.“, würden sie dann verkünden. „Es ist buchstäblich wie mit Deiner Energie, die Du ‚Strom‘ nennst: Scheinbar neutral steht er Dir konstant in gleicher Stärke jeden Tag ab Deiner Steckdose zur Verfügung. Der Strom ist immer da – und ihm ist es egal, ob Du damit eine Schraube eindrehst oder ein Orchester erklingen läßt. Dir wird aber vermutlich nicht egal sein, ob seine Quelle nukleares Feuer oder Windkraft ist. Das ist es, wo Verbindlichkeit ins Spiel kommt – aber Verbindlichkeit und Freiheit müssen darum trotzdem kein Widerspruch sein!“
Tja. Manchmal überfordern diese kecken Oligoamoren sogar mich noch, wenn sie in dieser Weise von Nachhaltigkeit zur Verbindlichkeit springen… Oft suchen sie dann ein Beispiel, von welchem sie annehmen, daß ich es besser verstehen könnte: „Wie Knüpfteppiche…“
„Knüpfteppiche, also ehrlich…,“ will ich noch sagen, da sind sie schon mitten im Thema:

„Ja, stell‘ Dir vor, Du handeltest mit Knüpfteppichen. Würdest Du für Deine Kunden nicht die makelloseste Qualität zum besten Preis einkaufen wollen?“
„Durchaus…“
„Dann stell Dir vor, daß Du einen Hersteller finden würdest, der Dir das bietet: Feinste Beschaffenheit, filigranste Muster – und das zu einem Preis weit unter dem der Konkurrenten.“
„Verführerisch…!“
„Nicht wahr? – Nun würdest Du aber herausfinden, daß die Teppiche nur deshalb so fein geknüpft sind, weil sie von Kindern hergestellt werden, die eben sehr kleine Finger haben. Und weil es Kinder sind, bezahlt der Hersteller diese schlecht und gibt Dir das als niedrige Einkaufspreise weiter…“
„Ich verstehe.“
„Obwohl die Teppiche also faktisch exzellent und auch noch preisgünstig wären, wäre es für Dich vermutlich sofort nicht mehr beliebig, wie dieses Ergebnis zustande kommt.
Du würdest nun aber vielleicht im Interesse Deiner lieben Kunden und möglicherweise auch dem der ausgenutzten Kinder von Deiner Freiheit, nämlich Deiner Willens- und Wahlfreiheit Gebrauch machen – und nicht Teil dieses An- und Verkaufs werden.“
„Sehr wahrscheinlich!“
„Damit zeigst Du, daß Du Deine Freiheit sowohl nachhaltig wie auch verbindlich einsetzt.“
„Das mit der Nachhaltigkeit leuchtet mir ein, die Verbindlichkeit bleibt mir noch etwas nebulös…“
„Also Oligotropos: Den unlauteren Hersteller hast Du aussortiert…“ „Ja…“
„Nun möchtest Du aber, um ähnlichen, zweifelhaften Angeboten nicht länger ausgeliefert zu sein, nicht mehr nur passiver Teilnehmer im Teppichgeschäft bleiben. Du möchtest darum aktiv teilhaben und gestalten, einige Umstände selbst in die Hand nehmen.“
„Jetzt dämmert’s mir…!“
„Ja, z.B. gründest Du eine Qualitätsoffensive, die für bessere Bedingungen und fairen Handel wirbt. Du setzt Dich für die Handwerker*innen vor Ort ein und kämpfst mit ihnen für die Anerkennung kleiner Manufakturen…“
„Und dann bin ich verbindlich?“
„Wenn Du es ernst meinst und in Deinem Handeln konsequent bist, dann ja. Erinnerst Du Dich, daß auf dem Stein der Oligoamoren auch der Begriff ‚Integrität‘ verzeichnet war, was ja ‚Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem‘ bedeutet?“
„Habe ich nicht vergessen.“
„Das ist gut, denn es ist ja klar, daß so ein Prozess nicht immer ein Sonntagsspaziergang sein kann. Es wird Herausforderungen geben, Schwierigkeiten, auch Rückschläge…!“
„Ich ahne, worauf das hinausläuft…“
„Genau, damit sind wir nämlich schon auf der Beziehungsebene:
Wer es mit der eigenen Freiheit genau wie mit der Freiheit der anderen in Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit ernst meint, der kann seine Beziehungen nicht wie einen Aktienfonds verwalten. Heißt: Die eigenen Anteile freigeben und ausklinken, wenn es mal kriselt oder der Kurs schwankt – und sich dann nach neuen grüneren Weiden umsehen.
Womit übrigens auch wieder die Berechenbarkeit mit an Bord ist, die wir schon mal beim Vertrauen erwähnten: Integrität und Berechenbarkeit gehen in Beziehungen Hand in Hand…“

„Ausgefuchstes System, ich hab‘ so was geahnt…“, so murmele ich zu mir selbst, denn ich sitze ja noch immer am Strand und keine Seele ist weit und breit zu sehen. Nur zu der Flöte im fernen Wald hat sich unterdessen das ab und an herüberschallende Tam-Tam einer Handtrommel gesellt.
„Das wird schon alles so sein…“, gähne ich – „…aber so’n bisschen abhängig ist man dann ja doch: Vom Kurs der eigenen Aktien, wie auch vom Wohl und Wehe seiner Lieblingsmenschen in den Beziehungen…“ Mit diesem Gedanken döse ich in der Nachmittagssonne ein.

Die Geräusche von Flöte und Trommel scheinen sich aber in meine Träume zu mischen und bald sehe ich die beiden Musiker*innen auf ihrer Waldlichtung im Geiste quasi vor mir:
Sie lachen und spielen sich die Töne zu, improvisieren und wechseln dabei immer wieder die Rollen…
Da begreife ich, daß die Oligoamoren mir mit ihrem seltsamen Teppichbeispiel noch mehr sagen wollten:
In dem, was ich selber wähle, dort wo ich gestalterisch eingreife und aktiv Teil habe, bin ich nicht abhängig. Insbesondere nicht bei Dingen, die mir am Herzen liegen, die ich mit Leidenschaft aufgenommen habe und betreibe.
Und das alles, obwohl es manchmal Mißtöne geben kann und eventuell sogar mal jemand anders gerade die Melodie führt… Verbunden und doch frei…

Ich wache schlagartig auf. Der Cuja-Cuja-Nektar ist umgekippt und längst im Sand versickert. Die Musik ist auch verklungen. Oligoamory, Du seltsames Eiland..

Ich klappe meinen Campingstuhl zusammen und kehre beschwingt zu unserer Habitatsphäre zurück, die bislang das Zentrum unseres kleinen Lagers bildet. Im Eingang davon steht meine Gefährtin – gerade spricht sie aufgebracht in ein Funkgerät. Vielleicht mit jemandem von der Presse, auf jeden Fall aber mit jemandem vom Festland. Sie gestikuliert dabei und sagt:
„Warum ist Verbindlichkeit vereinnahmend? Wo ist das Problem?
Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich mich mit jemanden unterhalte und über diesen Menschen etwas wissen möchte, wenn der anfängt: ‚Hmm ja…, irgendwie bin ich irgendwas, irgendwo zwischen naja und nicht ganz…‘
Was hat das ’sich-selbst-Kennen‘ und dann in Kommunikation ’sich-selbst-Erklären‘, damit das Gegenüber eine Chance hat zu wissen – anstatt zu spekulieren – wo ich stehe, mit Vereinnahmung zu tun?
Heißt ja nicht, daß Menschen sich dann nicht mehr entwickeln oder verändern dürfen.
Habt ihr Angst, die Leute könnten sich auf eure Aussagen verlassen und ihr könntet es dann im Fall der Fälle nicht mehr so hinbiegen, wie es Euch gerade paßt?“

Ich grinse und denke: „Deutlicher hätten es auch die Oligoamoren selber nicht sagen können…“



“Du bist frei darin, eine Wahl zu treffen – aber Du bist nicht darin frei, die Konsequenzen Deiner Wahl zu verändern.” ¹

Ein Paradoxon?

Nach meinem Verständnis nicht: Es ist die angemessene Selbstzuschreibung, daß unsere Handlungen (oder nicht-Handlungen) jedesmal Weichenstellungen sind, die darum immer Auswirkungen auf den gesamten so gewählten Kurs haben werden.



¹Dieses in verschiedenen Versionen im Internet kursierende Zitat stammt ursprünglich von dem ehemaligen US-Landwirtschaftsminister Ezra Taft Benson (1899-1994).

Dank geht an Toa Heftiba auf unsplash.com für das Bild, sowie an meine Nesting-Partnerin Kerstin für ihr wunderbares Forumszitat.