Eintrag 10

Europa der vielen Geschwindigkeiten

Die Deutsch-Französische Freundschaft ist legendär. Eigentlich ist sie ja auch mehr als das: Eine echte Partnerschaft.
Und sie reicht schon eine geraume Weile zurück. Obwohl das am Anfang gar nicht so selbstverständlich war; damals hätte das wohl niemand vorherzusagen gewagt.
Denn wer Frankreich und Deutschland noch von ganz früher kannte, wußte: Da lag oft Streit in der Luft und das Trennende wurde betont.
All das, obwohl man schon immer Nachbarn war und quasi Tür an Tür lebte.
Dann aber, als die Idee der (europäischen) Gemeinschaft geboren war, da gab es hüben und drüben fast kein Halten mehr: Schluß mit den Kalamitäten der Vergangenheit! Ein rauschendes Fest wurde gefeiert, woran sich viele noch lange erinnerten – Deutschland und Frankreich rückten eng zusammen.
So eng, daß sie von Freunden und Kritikern bald gemeinschaftlich schon als „Motor“ bezeichnet wurden, so synchron verbunden ging es voran. Das war für die restliche Welt nicht immer einfach: Frankreich und Deutschland, manchmal beinahe wie symbiotische Zwillinge, die unbedingt den anderen beweisen wollten, daß ihre Allianz ein Erfolgsmodell war.
Deutschland und Frankreich – sie gaben darum oft den Takt vor, dem die anderen Folge leisten sollten: Vorbildlich – für ein Leben in Gemeinschaft.
Trotzdem war es nicht immer leicht miteinander. So viel gemeinsame Zeit: Da gab es auch Phasen mit Stürmen, echten Meinungsverschiedenheiten, selbst zeitweilige Alleingänge.
Aber die Sache hielt. Sogar so gut, daß eines Tages frischer Wind gewagt und beschlossen wurde:
Öffnung und Erweiterung! (zu einer europäischen „Union“…)

Österreich hatte ja Frankreich und Deutschland in ihrer Gemeinschaft schon lange beobachten können. Aber in so einer Art von Gemeinschaft hatte sich Österreich nicht wiedergefunden.
Gemeinsamkeiten und Nähe, ja, die gab es doch auch so schon lange genug. Gerade mit Deutschland… – schöne und weniger schöne Erinnerungen von ganz früher.
Die Öffnung zur Union war jetzt aber die Chance für Österreich, endlich „ganz offiziell“ dazuzurücken. Nicht wegen der alten Zeiten halber, sondern vor allem wegen diesem „frischen Wind“, der da jetzt durch das vereinte Ganze wehte (also Europa…). Und insbesondere mit Deutschland stellten sich Nähe und große Ähnlichkeit schnell wieder her.
Das war für Frankreich nicht immer eine leichte Zeit, Deutschland und Österreich so vertraut erneut Seite an Seite zu sehen. Ängste kamen auf, in ein (atlantisches) Abseits zu geraten, nur noch die „zweite Geige“ zu spielen. Und darum wurde es in Debatten jetzt auch manchmal laut, wenn um das „gemeinsame Wir“ gerungen wurde…
Doch trotz aller anfänglichen Zitterpartien und der Skepsis mancher Zweifler gelang die neue Beziehungsform als (europäische) Union, weil das, was alle zu bieten hatten und nun zusammenlegten, größer und mehr wurde als die Summe der Einzelteile.
Frankreich z.B. erkannte sich in Vielem in Österreich wieder: Die Urlaube, das Landleben mit seinen Stärken und Schwächen – und natürlich eine Vorliebe für gutes und reichliches Essen.
Nun konnte es geschehen, daß es sogar Deutschland war, welches von den Interessen der Partner überstimmt wurde – und es dauerte durchaus einen Augenblick, sich in diese neue Rolle mit Würde einzufinden…
Eine neue insgesamte Dynamik entstand: Partnerschaft, ja eine Gemeinschaft von gleich-Berechtigten wie -Verpflichteten.
Unkonventionell zuerst auf jeden Fall – aber visionär und zukunftsfähig.
Österreich, Frankreich und Deutschland wurden zu stärkeren Partnern: Für sich selbst, für einander und auch nach außen.
Und wie es mit der neuen Beziehungsform als Union beschlossen war, sollte es auch weitergehen: Offen für mögliche Erweiterung und die Dinge, die da noch geschehen mochten.

So kam eines Tages Kroatien hinzu, ermutigt und angezogen von den anderen Beteiligten.
Anfängliche Attraktion war sogleich vorhanden, denn mit Deutschland teilte Kroatien die Reiselust, mit Österreich die Leidenschaft für die Berge und mit Frankreich die alte Kunst des Weinbaus. Zu Österreich bestand sogar schon länger eine gewisse Nähe…
Trotzdem ist es für Kroatien nicht leicht, sich in dem längst gut etablierten Bündnis der anderen immer gleich genauso gut zurechtzufinden: Überall sieht sich Kroatien als „Neuankömmling“ vorgezeigt, obwohl es doch durchaus mit eigenen Errungenschaften glänzen könnte. Manches in dieser neuen Union geht Kroatien auch zu schnell – und gelegentlich kommt es sich vor wie ein bloßer „Juniorpartner“ , obwohl doch von Anfang an Gleichberechtigung versprochen wurde. Und etliches ist auch zunächst noch schwer zu verstehen – und nicht immer nehmen sich die „Alteingesessenen“ ausreichend Zeit für sorgfältige Erklärungen.
Aber Kroatien gehört nun dazu – da sind sich alle einig: Gekommen, um zu bleiben. Auch wenn das wieder viel Arbeit und Anpassung für alle bedeutet – auf verschiedene Geschwindigkeiten zu achten, zusammenzuwachsen und dabei alle mitzunehmen.

Frankreich, das ist Vincent, der vor über einem Jahrzehnt nach dem Studium ganz in Deutschland, genau genommen in Bayern geblieben ist, um dort „seine“ Karin zu heiraten.
Als die beiden vor anderthalb Jahren ihre Ehe öffneten, kam Max aus Österreich hinzu, den Karin eigentlich schon lange als Kollegen im Außendienst kannte.
Und nun haben diese drei vor kaum zwei Monaten die Kroatin Ivana auf einer dreitägigen Motorrad-Convention am romantischen Königsee kennengelernt.
Und wie das Leben manchmal so spielt: Im Laufe eines verlängerten Hüttenabends hat es irgendwie bei allen gefunkt…

Karin und Vincent vereinen das Beste aus Deutschland und Frankreich: Bodenständiges Denken mischt sich da mit romanischem Esprit zu einem gutmütigen Eigenwitz, mit dem die beiden seither auch alle Höhen und Tiefen des gemeinsamen Lebens gemeistert haben. Zwei Kinder, jetzt 8 und 10 Jahre alt, haben die beiden übrigens auch.
Über offene Beziehung und Polyamory waren beide ein wenig belesen und hatten in einem Gespräch mal – eher theoretisch – bekundet, daß „das ja für die Entwicklung ihrer Beziehung nicht ausgeschlossen sei…“
Vincent, der nach eigenem Bekunden selber ein „Auge für schöne Frauen“ besitzt, hatte seinerzeit jedoch auch bemerkt, daß der Max für die Karin längst mehr war, als nur der „Kollege im Außendienst“. Karin, beileibe kein Kind von Traurigkeit, hatte mit Vincent dann „erst“ nach zwei Wochen reinen Tisch gemacht, und da stand schon ein „Fortbildungswochenende“ mit Max im Raum, welches so gar nichts mit der Firma zu tun haben sollte.
Bei einer gemeinsamen Aussprache stellte Vincent überrascht fest, daß er Max als den extrem kompetenten Veranstalter „Crostini“ kannte, bei dem er schon zwei Kochkurse mitgemacht hatte – und dessen Social-Media-Grillseite er seither eifrig gefolgt war.
Nun folgte allerdings eine ziemlich „abgekühlte Phase“ in dem Verhältnis der drei, welche erstmal so gar nichts mit Grillen zu tun habe sollte.
Beinahe etwas verzweifelt war es am Ende Max, der plötzlich das Thema „Polyamory“ wie einen Rettungsanker für sich auf den Tisch brachte. Und überrascht feststellte, daß die grundsätzliche Idee davon Karin und Vincent gar nicht besonders neu war.
Ein dreiviertel Jahr und zahlreiche tiefe Gespräche (allseitige und gemeinsame) später, war eine erstaunliche Übereinkunft zustande gekommen. Vincent wollte Stabilität und Vertrauen gewinnen, Karin wollte „ihr Mannsvolk“ erhalten und Max, der ohnehin mit leichtem Gepäck lebte, bekam die Chance, zwei Straßen von den beiden entfernt in ein kleines Appartement zu ziehen.
Mit diesem Tag wurde Max mehr und mehr erst Dauergast und schließlich so etwas wie Dauerbewohner im Hause unseres deutsch-französischen Paars.
Die Kinder fanden diese Entwicklung am spannendsten, denn mit Max kam regelmäßig jemand zum Toben und Bolzen ins Haus – eine Rolle, bei der Vincent, der selbst Fernsehfußball „cruellement“ nennt, gerne jemand anderem den Vortritt ließ.
Durch die sehr unterschiedlichen Arbeitszeiten des Trios ergab sich eine überraschend günstige Dynamik für Haushalt und Freizeitgestaltung, die dem gesamten Miteinander ziemlich förderlich war.
Und eines Nachts, als doch einmal alle zuhause waren, „geschahen Dinge“ im Gemach der Karin mit dem „Mannsvolk“, was Max und Vincent auch ihr Verhältnis zueinander auf ganz anderen Ebenen nochmal überdenken ließ…

Max, ein durchaus „lustiger“ aber gleichzeitig auch sehr nachdenklicher Tiroler, sieht sich nicht als „Bruder Leichtfuß“. Zugegeben, am Anfang hätte er nicht gedacht, wohin ihn „das mit dieser Karin“ mal führt. Aber jetzt ist ihm die „ganze Bande“ ganz schön ans Herz gewachsen. Insbesondere für die Kinder ist er eine Mischung aus Teilzeit-Papa und ältestem Bruder – und er war geradezu überrumpelt, mit wieviel Vorvertrauen er gerade von den Kiddies überrollt wurde.
Die Karin hat er schon immer für ihre große Selbständigkeit und Geradlinigkeit bewundert. Ja, schließlich hat es sich da so richtig reinverliebt, wollte es eines Tages nicht mehr missen.
Wenn er das nur mit dem Vincent, diesem eifrigen Besucher seiner Kurse, nur schon gleich gewußt hätte. Also – daß der zu der Karin gehört. Da hätte er ja schon mal ein Männerwort mit dem suchen können, ohne daß es zwischendurch erstmal zu so einem Kuddelmuddel kommen mußte.
Aber die Kurve haben sie ja gerade mal noch so gewuppt. Der Vincent kann in seinem gallischen Zorn ganz schön beeindruckend sein, daß muß er zugeben, der Max. Aber – das weiß der Max jetzt auch, Vincent hat genauso eine total romantische Seite und einen übermütigen, lausbübischen Charme, da wird nicht nur die Karin rot bis über beide Ohren, wenn er jetzt daran denkt.

Tja. Und nun Ivana. So hatte die sich ihren Urlaub in Deutschland sicher kaum vorgestellt. Erst dieses Bikertreffen am Königssee. „Hüttenabend“, wenn alle noch heute das Wort sagen, dann bekommt sie schon wieder dieses Kribbeln im Bauch… In dieser verrückten Stimmung aus überschäumender Laune und genialer Musik sind Karin und sie nach der letzten Band quasi übereinander hergefallen, die verblüfften Männer im gleichen Raum, noch mit Bier in der Hand, haben die beiden total ignoriert. Max hat sich dann tatsächlich irgendwann, beinahe vorsichtig, mit in das Getümmel gewagt – und wurde tatsächlich wilkommengeheißen. Und Vincent? Der hat die erotische „Installation“, die da plötzlich in seinem Schlafzimmer entstanden war, einfach nur genossen.
Wer die verrückte Idee hatte, die Kroatin dann am nächsten Morgen mit nach Landshut einzuladen, nach Hause, nach nur einer wilden Nacht? Das weiß keiner mehr. Nur, daß Ivana sich das so mir-nix-dir-nix zugetraut hatte.
Aber alle wissen, daß dabei eine total harmonische, ja beinahe familiäre Woche herausgekommen ist, was wirklich niemand hätte besser planen können.
Und alle wissen, daß Max plötzlich einen seiner Internetkontakt aktiviert hatte, wo es um irgendeine Vakanz beim BRSO ging, ob daß nicht etwas für Ivana sein könnte… Denn Ivana ist begabte aber schlechtbezahlte Cellistin am Nationaltheater in Rijeka und vielleicht ließe sich da etwas drehen…
Ivana mußte nach 10 Tagen zurück an die Adria.
Doch nach einem Monat war sie schon wieder zurück, diesmal mit Cello und einem Rollkoffer voller schwarzer Hosenanzüge… Karin, Vincent und Max hörten atemberaubt und durchaus etwas aufgeregt zu, als Ivana per Telefon mit einem Feuerwerk rollender „r“s und ihrer tiefen Stimme aus einem Volontariatsangebot einen Probevertrag herausverhandelt.
„JUHU Ivana kommt mit in den Zoo!“, jubeln die Kinder, noch bevor sie es schafft, den Hörer aufzulegen.

Ende und Abspann, Vorhang und Tusch?
Im Gegenteil. Eigentlich stehen alle vier sogar noch ziemlich am Anfang ihrer gemeinsamen Reise:

Karin hat in Ivana eine Freundin gefunden, bei der sie das Gefühl hat, sie könne dort endlich ganz sie selbst sein und als ob sie sich ihr Leben lang schon kennen würden. Wenn es nach ihr gehen würde, dann hätte sie jetzt endlich all die lieben Menschen um sich versammelt, nach denen sie sich schon immer gesehnt hatte. Hoffentlich teilen die anderen ihren Wunsch nach echter und enger dauerhafter Gemeinschaft…

Vincent ist etwas besorgt, weil er sich an die Zeit erinnert, als Max dazukam, was für ihn wirklich nicht einfach war und beinahe seine damalige Beziehung an den Rand des Abgrunds gebracht hätte. Max ist zwar ein genialer Freund (und mehr) geworden, mit dem es sich prima über Kugelgrill und Smoker fachsimpeln läßt – aber das vollständige Vertrauen zu ihm ist auch nach anderhalb Jahren noch nicht ganz wieder hergestellt.
Er weiß auch, daß er selbst zusammen mit Karin oft „das Programm“ im Hause vorgibt – aber er und sie sind ja auch noch Eltern, da spielen auch die Belange der Kinder nach wie vor eine gewichtige Rolle – und Kompromisse müssen berücksichtigt werden, damit diese Stabilität und Fürsorge erfahren können…

Max ist tief in sich verunsichert, weil er das Gefühl hat, er müsse sich gerade gänzlich neu erfinden. Er hatte gedacht, mit Karin seinen Stern zu finden und war dafür unter allen Umständen bereit, ihr Leben auch mit Vincent an der Seite zu teilen. Jetzt hat ihn diese Ivana voll erwischt – und zum ersten mal fühlt er sich zwischen zwei ganz verschiedenen Frauen hin- und hergerissen. Max weiß gerade gar nicht, wo er steht und wünscht sich Vincents französische Leichtigkeit. Vielleicht sollte er sich seinem allerbesten Freund und Quasi-Partner offenbaren, damit nicht wieder so ein Durcheinander wie vor über einem Jahr geschieht. Max möchte gerne endlich ankommen, eigentlich hatte er gehofft, es würde nun ruhiger, statt turbulenter…

Ivana erkennt sich selbst nicht wieder. Vor einem Vierteljahr hat sie das Wort „Mehrfachpartnerschaft“ noch nicht einmal gekannt. Geht so etwas überhaupt? Jetzt hat sie gerade Gefühle für drei Menschen entwickelt, die schon anfangen darüber zu sprechen, ob sie nicht in ein gemeinsames Haus ziehen sollten.
Ivana kommt aus einer Familie, bei der sie nicht einmal weiß, wie sie zuhause überhaupt erklären soll, was sie mit diesen Leuten so intensiv verbindet. Sie hat Angst – und ein Teil von ihr schämt sich auf seltsame Art sogar. Es ist alles neu: Karin, die Liebe zu einer Frau, ist das nicht verrückt? Max, ein lieber Kerl – aber mit seiner krachledernen Art geht er ihr manchmal auf den Senkel. Und Vincent? Mag der sie überhaupt wirklich? Es gibt Momente, da kann sie ihn noch ganz schlecht einschätzen. Manchmal scheint er sie geradezu ängstlich anzusehen…

Epilog:
Die lange Einleitung über die staatlichen „Vorbilder“ unserer Protagonist*innen habe ich gewählt um zu zeigen, daß es, wie in Europa, auch in Beziehung immer „vielerlei verschiedene Geschwindigkeiten“ gibt. Und so einheitlich wie Europa nach außen als Union auftritt – oder unsere vier Held*innen als geschlossene Biker-Formation auf einem Treffen – so unterschiedlich kann das Innenverhältnis darin aussehen.
Mit meiner kleinen und vielleicht etwas idealen Geschichte, bei der keineswegs abzusehen ist, wie sie ausgehen wird, möchte ich dazu anregen, über „(Mehrfach)Beziehungen der verschiedenen Geschwindigkeiten“ nachzudenken.
Und ich möchte zeigen, daß es wichtig ist im Hinterkopf zu behalten, daß diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten in den Handlungen und Wünschen unterschiedlicher Menschen immer aktiv sind, weshalb nach Momenten großer Eintracht auch immer wieder Situationen großer Differenzen und Scherkräfte in Mehrfachbeziehungen erlebt werden können.

Oligoamor möchte ich abschließend sagen: Je mehr den Beteiligten ein „gemeinsames Europa“ also ihr „gemeinsames Wir“, ihre „gemeinsame Mitte“ wichtig ist, umso besser werden sie diese verschiedenen Geschwindigkeiten erkennen, berücksichtigen und mit Respekt integrieren können.
Redet miteinander!



Svenja und Tobi: Das ist für Euch!

Danke an Marc Sendra Martorell auf Unsplash.com für das schwungvolle Bild.

Eintrag 9

Geheimnisvoller Emotionalvertrag

Wer heute im Internet nach dem Stichwort „Emotionalvertrag“ sucht, wird vorwiegend zwei Anwendungskategorien finden: Zum einen (und hauptsächlich) Beiträge, in denen es um Problemstellungen hinsichtlich familiärer Belastungen der Eltern/Kind-Beziehung geht, vor allem aufgrund unsicherer Bindungserfahrungen in der Phase des Aufwachsens. Oder es wird in betrieblichen Zusammenhängen von der „emotionalen Verbindung“ von Arbeitnehmer*innen zum Unternehmen gesprochen – oftmals allerdings hinsichtlich der extremsten Konsequenz davon: Der gefürchteten „Inneren Kündigung“.
Daß in beiden Fällen ein „Emotionalvertrag“ erwähnt wird, der offensichtlich in eine Krise geraten ist, scheint kein Zufall. Und ebenso offensichtlich scheint es sich in beiden Fällen um eine Art „unsichtbaren Vertrag“zu handeln, der irgendwie konkludent eingegangen wurde, also im Juristendeutsch: „Wenn jemand seinen Willen stillschweigend zum Ausdruck bringt und der redliche Empfänger hieraus auf einen Rechtsbindungswillen schließen darf, sodass ein Vertrag auch ohne ausdrückliche Willenserklärung zustande kommen kann.
Dabei weist allein diese Definition schon auf das innewohnende Problem der beiden genannten Anwendungsbeispiele hin: Denn es gibt wohl kaum weder einen stillschweigenden Willensausdruck eines Kindes, mit dem es zustimmt, fürderhin Emotional- und Erziehungsobjekt seiner Eltern zu sein, noch ein konkludentes Anrecht von Arbeitgeber*innen auf die emotionale (und daher schwer überprüfbare) Unternehmensverbundenheit der Mitarbeiter*innen.
Aber genau damit sind wir trotzdem mitten im Thema.
Denn nicht nur der Eltern-Kind-Bindung oder einem Arbeitsverhältnis, sondern jeder Beziehung liegt streng genommen so ein unsichtbarer „Emotionalvertrag“ zugrunde.
Darum ist es wichtig, dieses Phänomen gerade in Liebesbeziehungen und insbesondere in non-monogamen Mehrfachbeziehungen für alle Beteiligten möglichst sichtbar – und damit gestaltbar – zu machen.

Warum benutze ich die Bezeichnung „Emotionalvertrag“? Dazu möchte ich hier zunächst noch einmal mit der Definition der deutschen Wikipedia darlegen, was ein „Vertrag“ ist – und überraschenderweise klingen einige Formulierungen dort schon beinahe ideal oligoamor:

Ein Vertrag ist im Recht und in der Wirtschaft die aus übereinstimmenden Willenserklärungen zustande kommende Einigung von mindestens zwei Rechtssubjekten […].

Ein Vertrag koordiniert und regelt das soziale Verhalten durch eine gegenseitige Selbstverpflichtung. Er wird freiwillig zwischen zwei (oder auch mehr) Parteien geschlossen. Im Vertrag verspricht jede Partei der anderen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen (und damit eine von der anderen Partei gewünschte Leistung zu erbringen). Dadurch wird die Zukunft für die Parteien berechenbarer. Wenn eine Partei den Vertrag bricht, so kann dies die andere Partei ganz oder teilweise von ihrer Verpflichtung zur Erfüllung des Vertrags entbinden.

Der Inhalt der vertraglichen Vereinbarung muss von den Vertragsparteien im gleichen Sinne verstanden werden. Andernfalls kommt es zu unterschiedlichen Auslegungen des Vertrages, und der Zweck des Vertrages, die Koordination zukünftigen Verhaltens, wird verfehlt. Deshalb sind auch Täuschungen der anderen Partei über das Vereinbarte unzulässig.

Die Selbstverpflichtung durch Versprechen setzt voraus, dass die betreffende Partei bezüglich des Vertragsgegenstandes mündig ist und für sich selber sprechen und entscheiden kann und darf, d. h. die betreffende Partei muss rechtlich geschäftsfähig sein. Eine geschäftsfähige Person kann wirksame Willenserklärung abgeben und am Geschäftsverkehr teilnehmen. Eine geschäftsunfähige Person dagegen kann keine wirksame Willenserklärung abgeben. Jede Partei muss außerdem grundsätzlich befähigt und berechtigt sein, wie versprochen zu handeln. Insofern müssen die Parteien entsprechend autonom und verfügungsberechtigt sein.

Wenn die Leistungen der Parteien zeitlich versetzt erbracht werden, muss diejenige Partei, die in Vorleistung geht, darauf vertrauen, dass die andere Partei ihre Verpflichtungen ebenfalls noch erfüllen wird, ansonsten besteht ein Vorleistungsrisiko. Da ohne eine Vertrauensbasis niemand einen Vertrag abschließen wird, ist es für die Parteien wichtig, einen guten Ruf als zuverlässige Vertragspartner zu haben.

Wenn sich die vereinbarten Leistungen bis weit in die Zukunft erstrecken, so können in der Zwischenzeit unvorhergesehene Ereignisse eintreten, die die mit dem Vertrag verbundenen Absichten der Parteien gegenstandslos machen (Wegfall der Geschäftsgrundlage). In diesem Fall kann es zu einer Aufhebung des Vertrages kommen.

Der Inhalt eines Vertrages wird von den Parteien ausgehandelt. Zu welcher Vereinbarung es schließlich kommt, hängt von der Interessenlage der Parteien, ihren Handlungsmöglichkeiten und ihrem Verhandlungsgeschick ab. Grundsätzlich gilt, dass dabei jeder Partei freigestellt ist, innerhalb des gegebenen rechtlichen Rahmens ihre Interessen frei zu verfolgen. Die Parteien werden bei rationalem Handeln also nur einen solchen Vertrag abschließen, durch den sie besser gestellt werden als ohne diesen Vertrag.

Zwischen dem Punkt, wo ein Vertrag für die Parteien vorteilhaft wird, und dem Punkt, wo er nachteilig wird, gibt es einen mehr oder weniger großen Spielraum für Verhandlungen. Dabei kann die Verhandlungsmacht der Parteien sehr unterschiedlich sein, je nachdem wie dringlich sie den Vertragsabschluss jeweils benötigen.“

Die meisten meiner Leser*innen werden wohl noch mitgehen, wenn ich die Beteiligten einer Liebesbeziehung im juristischen Sinne als „Rechtssubjekte“ bezeichne, handelt es sich doch im Normalfall um die berühmten „wechselseitig zustimmenden Erwachsenen“ (Englisch: mutual consenting adults).
Was vor allem bei obiger Beschreibung spannend ist, ist, daß auf der gesamten (vollständigen) Wikipedia-Seite überhaupt nicht von konkludenten oder stillschweigenden Verträgen die Rede ist: Also scheinen Verträge von ihrer grundsätzlichen Konzeption her erst einmal für alle beteiligten Parteien durch und durch bewußte und nachvollziehbare Übereinkünfte zu sein (!).
Interessant wird es allerdings bei der Frage des „Vetragsgegenstandes“ – also dem, worüber der Vertrag geschlossen wurde: Die oben so bezeichnete „Leistung“. Diese kann, das weiß jede*r aus dem Alltag, ein konkreter Gegenstand (z.B. ein Brot) oder eine messbare Handlung (z.B. eine Autowäsche) sein.
Der Begriff des „Emotionalvertrags“ in Liebesbeziehungen kann daher im ersten Moment mißverständlich wirken, da „Liebe“, „Zuwendung“, „Empfindung füreinander“, „Zärtlichkeit“ etc. wohl weder konkret noch (wie die emotionale Bindung zum Unternehmen oben) wirklich messbar sind.
Also kann es im weiteren Sinne darum auch nicht gehen. Allerdings spielt es im im engeren Sinne durchaus mit hinein, wie ich hoffentlich noch zeigen werde.

Die Wirklichkeit – und damit befinden sich die meisten Emotionalverträge, auch in Liebesbeziehungen, in der eher traurigen Gesellschaft der beiden Eingangsbeispiele – ist, daß sie meist keineswegs übereinstimmende Willenserklärungen nach mündiger inhaltlicher Aushandlung sind.
Denn Emotionalverträge sind – und auch dies stand bei ihrer Namensgebung Pate – fast immer höchst subjektive, „gefühlte“ Arrangements des Gebens und Nehmens (oder sanfter: des Beitragens und Genießens) in menschlichen Beziehungen. Und eben auch dieses „Geben und Nehmen“ ist fast immer eine nur einseitig-subjektive – und darum oft hinsichtlich Quantität und Qualität emotional beeinflußte – Anschauung von jenen konkreten Dingen, messbaren Handlungen und, ja, gerade auch dem gefühlsmäßigen Engagement in der Beziehung – und für die Beziehung

Wenn wir als Menschen in Beziehungen zusammenkommen, geraten wir vor allem dann dort umso schneller in problematische Bereiche bzw. Konflikte, je unbewußter wir uns zu dem Phänomen „Emotionalvertrag“ verhalten; denn bekanntlich modern verdrängte Dinge unter dem Teppich doch am allerbesten vor sich hin, nur um dort auf den Moment zu warten, wo sie den meisten Schaden verursachen können…
Für ehemalige Bewohner der „Alten Welt der Monoamorie“ wie mich konnte und kann das sehr weitreichende Konsequenzen haben, da oft sogar die Wahl des Beziehungsmodells selber davon betroffen war (und oft genug noch ist).
Ich vergleiche das gerne mit einem Kleinwagenkauf: Mensch sieht ein bestimmtes Modell mit einer bestimmten (Standard)Ausstattung überall, das Ding ist offensichtlich bewährt und alle anderen Nutzer*innen wirken überwiegend damit zufrieden. Also entscheidet Mensch sich auch für so ein Auto, setzt bei den AGBs einen Haken, ohne sie durchzulesen (alle anderen scheinen doch einigermaßen sorgenfrei zu sein und kommen offensichtlich an ihre Ziele – also wird es wohl schon keine Fallstricke im Kleingedruckten geben…) und – ja, dann sitzt Mensch da mit dem Kleinwagen und stellt evtl. bereits mittelfristig fest, daß das Ding gar nicht zu den eigenen Bedürfnissen paßt…
Vielfach verhalten wir uns also beim Eingehen von Liebesbeziehungen, die langfristige Auswirkungen auf unser gesamtes Leben haben werden, in etwa so schludrig wie beim Onlineshopping.
Wer dann z.B. auch noch standesrechtlich geheiratet hat, ist sogar einen ganz echten Vertrag eingegangen, der einklagbare versorgungs- sowie güterrechtliche Konsequenzen enthält

An dieser Stelle scheint es mir wichtig darauf hinzuweisen, daß ich hier keineswegs für das einer Beziehung vorausgehende Ausfertigen von Eheverträgen im Sinne US-amerikanischer Filmstars und Multimillionäre eintrete (die im englischen Sprachraum auch korrekt „Voreheliche Vereinbarung“ genannt werden). Zum einen regeln diese bloße materielle Eventualitäten, zum anderen könnten diese niemals geeignet sein, die Flexibilität und die wandelbare Natur der inneren Dynamik von Liebesbeziehungen abzudecken.

Ebenso problematisch wäre nach meinem Empfinden eine Evaluation oder gar ein Aufrechnen der „anhängigen Leistungen“ im Emotionalvertrag: Wie oft Kinder zu Bett bringen entspricht einem Nachmittag Gartenarbeit? Entspricht die Stundenzahl beim Frühjahrsputz der dreitägigen Personalmanagement-Fortbildung? Sind Qualifikation und Leistung der Beziehungsmenschen überhaupt linear vergleichbar?
Die Gefahren solcher Aufrechnerei werden dabei für die Liebe höher sein, als der tatsächliche (Gerechtigkeits-)Nutzen: Es besteht das Risiko, daß irgendwann unter Umständen sämtliche Handreichungen in der Beziehung mit einem nominellen Tauschwert versehen werden (Eltern pubertierender Teenager kennen das vermutlich). Einer rein kalkulatorischen Verteilungsgerechtigkeit wird damit Tür und Tor geöffnet, bis hin zu der Absurdität, daß „Konten“ geführt werden, deren Ausgleich penibel beobachtet und eingefordert wird.
Es ist leicht zu sehen, daß so ein Umgang, der eher schon an Rosenkrieg oder Scheidungspaare in Auflösung erinnert, weder liebevoll noch wirklich menschlich geraten wird.

Die vielfache Verflochtenheit von freiwillig übernommenen Aufgaben, engagierten Selbstverpflichtungen und quasi-karitativen Liebesdiensten auf zahlreichen Ebenen in Beziehungen ist meist enorm hoch.
Diese Verflochtenheit ist so sprichwörtlich, daß Franklin Veaux und Eve Rickert das anhängige Kapitel in ihrem sehr umfangreichen Buch „More than Two“ zum Thema Polyamory „Sex and Laundry“ (deutsch: Sex und [Schmutz]Wäsche) nannten – und das Kapitel mit der Anekdote eröffneten, daß die am häufigsten gestellte Fragen an Beteiligte von Mehrfachbeziehungen „Wie ist das bei Euch mit dem Sex? direkt gefolgt von „Und wer macht bei Euch die Wäsche?“ seien.
Insbesondere hinsichtlich Mehrfachbeziehungen kann ein mehr oder weniger im „unbewußten Dunkelfeld“ liegender, sich selbst überlassener Emotionalvertrag über längere Zeit das Potential zu einem sozialen Brandsatz entwickeln. Besonderes Augenmerk benötigen nach meiner Erfahrung die folgenden zwei Konstellationen:

1) Vorhandene Bestandsbeziehung als „Altlast“:
Es wäre doch ein hübsches Ideal, wenn wir nun, wo wir diesen Blogeintrag zur Kenntnis genommen haben, ab jetzt bei jeder potentiellen Beziehungsanbahnung unsere eigenen materiellen, geistigen und emotionalen Ressourcen höchst bewußt zur Kenntnis nehmen würden, um diese dann ebenso bewußt in einer sich entwickelnden Beziehung mit einem hohen Maß an Integrität einzubringen und anzuwenden – und das Gleiche würde für die andere(n) beteiligte(n) Partei(en) gelten.
Selbst dieser Idealfall läge ja aber nur dann vor, wenn wir gerade Single wären und in diesem Moment der Möglichkeit einer neuen Beziehungsbildung gegenüberstünden.
Häufig aber ist es eher so, daß wir uns bereits in eingegangenen Beziehungen befinden (und Aussiedler der monoamoren Altwelt meist dazu noch mit einem monogamen Standard-Altvertrag inklusive einem Wust nachlässig abgezeichneter AGB…).
Eigentlich möchte ich solche vermeintlich abfälligen Worte für schon bestehende Liebesbeziehung gar nicht wählen, denn – Emotionalvertrag hin oder her – diese können in ihrer Ausprägung wunderbare, langfristige und allseitig erfüllende Verbindungen sein.
Gerade wegen der „unsubstantiellen Natur“ von Emotionalverträgen kann es aber dennoch sein, daß sich ein oder mehr Menschen solcherart in einem Beziehungsgeflecht befinden, wo grundlegende Auffassungen hinsichtlich der Art der Beziehung, was Ansprüche, Entwicklungsfähigkeit, Bedürfnisse und Wünsche der Beteiligten angeht, hinter den Kulissen überraschend stark unterscheiden. Und dies stellt genau in solchen Fällen ein Problem da, wenn unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten, auseinanderklaffende Ansichten oder Konflikte urplötzlich den tief vergrabenen Emotionalvertrag an das harte Licht des Tages zerren.
Demgemäß werbe ich also gerade bei solchen gemeinsamen „Altlasten“ dafür, sie schon einmal rechtzeitig bei gutem Wetter gemeinsam hervorzuholen und zu sichten, als an einem schlimmen Tag bei rauer Beziehungssee von den Konsequenzen unvorbereitet überrollt zu werden (was dazu oligoamor hilfreich sein könnte, werde ich im letzten Absatz skizzieren).

2) Ressourcenmanagement in (Mehrfach)Beziehungen:
Auch für ein gut eingespieltes Beziehungsgeflecht – egal ob mit „nur“ zwei oder mehr Beteiligten – ist jeder „Konversionsmoment“ (Wandlungsmoment), wenn eine weitere Beziehung(sperson) hinzukommt, eine echte Herausforderung.
Und auch dies hängt vor allem mit dem Modus des zugrunde liegenden Emotionalvertrags zusammen. Ich sage „Modus“ weil sich für Mehrfachbeziehungen in so einem Moment sogleich kristallisiert, ob eine (Mehrfach)Beziehung tendenziell eher über eine oligoamore Struktur (mit einem „gemeinsamen Wir“ als Mittelpunkt) verfügt oder ob es sich dabei stärker um einen Zusammenschluß von größtenteils autonomen Einzelpersonen handelt (was sowohl bei offenen Beziehungen, Polyamory oder Beziehungsanarchie vorkommen kann).
Wenn es aber ein „gemeinsames Wir“ gibt – was bedeutet, daß nicht jede Person ihr eigenes Ressourcenmanagement betreibt, worin sie kontextuell darüber entscheidet, wie viel Verbindlichkeit sie situativ in den Zusammenschluß einbringt – dann berührt eine neue Beziehung(sperson) auch immer sogleich den gemeinschaftlichen Kern der Gesamtbeziehung – und damit die Gesamtressourcen.
Genau hier zeigt sich, warum in so einem Moment höchstmögliche Transparenz und Aufrichtigkeit wichtig sind, denn jeder neu hinzukommende Mensch wird ja sofort sowohl mit seiner „energetischen Signatur“ (wie in der „Geschichte von Anday und Tavitih“) als auch mit seinen ganz tatsächlichen materiellen Bedürfnissen sofort Einfluß auf die Bestandsbeziehung nehmen.
Daraus geht hervor, daß dadurch auch sofort eine neue Distribution des bisherigen Ressourcenmanagements im Raum steht. Und dies wird eher zu einer Chance und einem Zugewinn für alle geraten, wenn
a) alle Beteiligten von Anfang an informiert sind und
b) auf diese Weise bereitwillig ihr Potential zur Mitgestaltung aktivieren.

Aus dem zuvor Gesagten ist deutlich zu erkennen, daß spätestens hinsichtlich der Aufnahme und dem Führen von Mehrfachbeziehungen dringlich die Bewußtmachung des Emotionalvertrags angeraten ist: Die „Öffnung einer Ehe“ enthält u.a. meist genau deshalb mittelfristig soviel Sprengstoff, weil die „Bestandsinsassen“ oft gar nicht die Art und Weise ihrer verflochtenen Bezogenheiten und die Zuordnung ihrer (materiellen wie emotionalen) Ressourcen geklärt haben, so daß beim Hinzukommen einer weiteren Person meist dieses ganze heikle Gebilde überstrapaziert wird – und oft die Opfer danach einzeln an Trümmer geklammert auseinandertreiben…

Der Emotionalvertrag – Definition und (kleine) Hilfestellung:

Emotionalvertrag:
„Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“

(© Julius Otto Röber, Oligoamory.org)

Zuallererst – und das habe ich mit den beiden obigen Beispielen schon angedeutet – ist die Bewußtmachung das Wichtigste, daß es in nahezu allen (Beziehungs)Fällen einen konkludenten Emotionalvertrag gibt. Diese gewonnene Bewußtheit ist buchstäblich mehr als „die halbe Miete“, denn sie ist die Grundlage jeder weiteren erreichbaren persönlichen Selbstwirksamkeit und Gestaltungsfähigkeit in Hinblick auf diese „unsichtbare Übereinkunft“.
Weil wir Menschen dazu tendieren, uns über solche „Unsichtbarkeit“ Sorgen zu machen, ist es ebenso eine gute Idee, sich bezüglich der Konkludenz Beruhigung zu verschaffen. Denn diese klingt komplizierter als sie ist, und in unserem Alltag üben wir sie regelmäßig aus, ohne uns Sorgen zu machen: Etwa, wenn wir zulassen, daß uns von der Bäckereifachverkäuferin unseres Lieblings-Stehcafes eine neue Leckerei aufgrund unserer ihr bereits bekannten Vorlieben empfohlen wird (womit wir z.B. jedesmal konkludent die neue DSGVO ratifizieren).
Darüber hinaus ist es gut, sich klarzumachen daß auch eine konkludente (stillschweigende) Zustimmung (eines Erwachsenen!) normalerweise eine echte Willensbekundung ist; gemäß dem Motto „Eine Entscheidung für etwas ist immer auch eine Entscheidung gegen etwas anderes (egal, ob ausgesprochen oder nicht).
Mit dem Aufnehmen einer (Liebes)Beziehung drücken wir also auf diese Weise stets eine Erklärung unseres Willens zur Einlassung (auf diese Beziehung) aus.

Mit dieser Erklärung zur Einlassung ist ein Spielfeld, ein Gestaltungsraum entstanden, der durch Unbewußtheit oft brach liegt oder (bislang häufiger) mit tradierten Konventionen überschrieben wird.
Darum ist es wichtig, sich gemeinsam darum zu bemühen, in erster Linie die Beziehung, hinter der der Emotionalvertrag steht, möglichst bewußt zu führen und zu pflegen. Dies bedeutet allseitig Aktivität und Teilnahme und erhält die Möglichkeit zur erwähnten Mitgestaltung.
„Oligoamor“ wird es, wenn wir dabei unsere Beziehung nicht als ein Spiel kalkulierender Verhandlungspartner*innen (siehe Eintrag 8 – „Beziehungsschach mit dem Zen-Meister“) ansehen, sondern sie von vornherein als „Joint Venture“, als eine gemeinschaftliche Bemühung um das „gemeinsamen Wir“ auffassen.
Dadurch stehen uns die „Werte“ der Oligoamory, insbesondere die Themenfelder Verbindlichkeit (vor allem in der Form von Integrität und Berechenbarkeit), Berechtigung, Aufrichtigkeit, Identifikation und Nachhaltigkeit als Werkzeuge zur Verfügung (beschrieben in Eintrag 3 und Eintrag 4).

Wie aber mit dem nur allzu menschlichen Wunsch nach Anerkennung und Gesehen-Werden umgehen, der sich irgendwann in fast jeder noch so idealen Beziehung trotzdem ergibt? Wie können wir das Risiko mindern, daß wir uns eines Tages doch irgendwann gegenseitig versuchen mit unseren „großen Opfern“ zu überbieten, die jede*r für den Erhalt der Beziehung erbringt?
Erwartungen an andere Beteiligte sind immer problematisch, so auch die Erwartung nach Anerkennung.
In liebevollen Beziehungen können wir dabei so ein bißchen etwas wie eine „Spiegel-Taktik“ anwenden, die Marshall Rosenberg in der „Gewaltfreien Kommunikation“ die „Celebration of Life“ (deutsch: Feier des Lebens) nannte. Statt laut zu betonen „Also ich mache ja das und das…!“ (wodurch die allgemeine Abrechnungsrunde eröffnet wäre), ist es wesentlich zielführender, in einem Gespräch zu benennen, womit die Anderen zum eigenen Wohlergehen (und dem guten Verlauf der Beziehung) beitragen.

Wenn wir uns klar darüber sind, daß Emotionalverträge allein schon aufgrund der Natur ihres Zustandekommens höchst subjektive Angelegenheiten sind, dann können wir uns dies hinsichtlich der inhaltlichen Zuschreibung und Verantwortung zunutze machen, indem wir selber möglichst aus eigenem Antrieb auf das achten und zu dem stehen, was wir regelmäßig (bereits) einbringen. Und indem wir uns darum vor Augen halten, daß „die Anderen“ möglicherweise unsere eingebrachtes Engagement anders auffassen können als wir. Wenn wir dabei jedoch trotzdem mit Verbindlichkeit und Integrität (ich erinnere: Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem) vorgehen, zeigen wir uns für unsere Beziehungsmenschen als berechenbare*r und verläßliche*r Mitwirkende*r.
Wenn unsere Beziehungen keine Einbahnstraßen sind, kann so eine „Celebration of Life“ also auch zu einem Moment geraten, in dem regelrecht aufscheint, wie aus „Deinem“, „Meinem“, „Ihrem“ und „Seinem“ ein „Unseres“ – eben ein „gemeinsames Wir“ – hervorgeht.
In jedem Fall entsteht ein Moment von erneuter Bewußtmachung, der immer auch die Chance für Kommunikation oder eventuelle (Neu/Wieder)Verhandlung der eingebrachten Anteile – und damit des nun längst nicht mehr so geheimnisvollen Emotionalvertrages enthält.



Danke an Michael Henry auf Unsplash.com für das großartige Foto.

Eintrag 8

Beziehungsschach mit dem Zen-Meister

Manchmal gibt es auf dem entlegenen Eiland der Oligoamory sogar Internet. Via Satellitenlink. An manchen Tagen funktioniert es nicht – heute klappt es. Schnell checke ich Nachrichtenportale, browse kurz durch den bunten Blätterwald.
Doch da – BÄM! – prangt plötzlich ein großes Zitat von Bhagwan Shree Rajneesh1 auf meinem Bildschirm; angetan mit irgendeinem hübschen Hintergrundbildchen:

Wir werden alleine geboren, wir sterben alleine. Zwischen diesen beiden Tatsachen erschaffen wir uns tausend und eine Illusion von Miteinander – alle möglichen Arten von Beziehungen, Freunde und Feinde, Geliebte und Verhaßte, Nationen, Rassen, Religionen. Wir schaffen Halluzinationen aller Art, nur um einen Umstand zu vermeiden: Daß wir allein sind. Aber was immer wir tun, die Wahrheit kann nicht geändert werden. Es ist so, und anstatt zu versuchen davor zu entkommen, ist die beste Möglichkeit, sich daran zu erfreuen.
Freude am eigenen Alleinsein ist das, worum es z.B. bei der Meditation geht. Der Meditierende ist jemand, der tief in das Alleinsein eintaucht und weiß, dass wir alleine geboren werden, wir alleine sterben werden und tief im Inneren auch alleine leben. Warum also nicht erleben, was dieses Alleinsein ist? Es ist unsere tiefste Natur, es ist unser innerstes Wesen.

(The Sound of One Hand Clapping, Rede Nr. 14)

Augenblicklich wühlt sich alles in mir auf: „Woah! Das ist ja sowas von anti-oligoamor! Und überhaupt: Wieder mal so ein Zitat, welches vermutlich vor allem die Jungen und Gesunden anspricht, solange die ihr Leben selbst in der Hand haben…!“
Natürlich versuche ich mich sogleich ein bißchen zu beruhigen. Weiß ich doch auch ein paar Autoritäten auf meiner Seite, die das ebenfalls so auf keinen Fall stehen lassen würden:
Der Kinderarzt Dr. William Sears fällt mir sofort ein, der achtsame Vertreter des „Attachment Parenting2“ (deutsch etwa: zuneigungsbetonte Elternschaft), der sich ja gerade für die Natürlichkeit und Wichtigkeit einsetzt, sofort mit unserer Geburt in eine enge menschliche Verbindung hineingeboren zu werden. Ebenso der dänische Familientherapeut Jesper Juul, der anhand von Kindern und Jugendlichen immer wieder bestätigt hat, wie wichtig es für uns Menschen ist, uns ein Leben lang in Gemeinschaft sowohl als verbunden als auch als frei zu erleben, um Sozialkompetenz und Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Und nicht zuletzt die große Verhaltens- und Primatenforscherin Jane Goodall, die sogar bei unseren nächsten tierischen Verwandten beobachtet und nachgewiesen hat, daß auch bei diesen Geboren-Werden und Sterben Prozesse hoher Gruppendynamik und Anteilnahme der Gemeinschaft sind – und somit offenbar sehr tief auch in unserer eigenen Soziologie und Biologie verankert sind.

Dennoch bin ich vor einigen Tagen bei einem Landausflug zum Archipel einem Polyamoren begegnet, der mir zu meinem letzten Eintrag über Freiheit und Verbindlichkeit wörtlich sagte:
„Nach meiner Erfahrung ist Liebe nicht personenbezogen. Ich kann mich entscheiden meine Liebe zu teilen mit wem oder wie vielen Menschen ich will. Aber wenn ich jemanden vermisse, vermisse ich entweder meine Vorstellung von ihm oder vermisse das, was er mir gibt. Als ich mich mal so nach Menschen verzehrt habe und sie vermisst habe, habe ich mich gefragt, was ich wirklich vermisse: Den anderen Menschen oder das Gefühl was er mir gibt? Und dann habe ich mich gefragt warum vermisse ich dieses oder jenes Gefühl. Die Antwort war ziemlich ernüchternd…: Weil ich selbst einen Mangel an gerade diesen Gefühlen: Nähe, Anerkennung, Liebe, Selbstbewusstsein, Bindung etc. in mir gefühlt habe. Und ich habe daraus gelernt, dass eine fehlende Bindung (Nähe, Anerkennung etc.) zu mir selbst nicht durch Verbindungen zu anderen kompensiert werden kann.“
Gerade wenn man Lehren wie die von Rajneesh oben so hinsichtlich der Liebe auf das „un-anhängige Selbst“ anwendet, wirkt das doch erst mal wie eine gründliche (Selbst)Erkenntnis, durchaus nachvollziehbar – und natürlich hört es sich auch wunderschön an.

Demgegenüber ist aber eben auch unser Grundbedürfnis nach anderen Menschen bzw. menschlicher Gemeinschaft eine unumstößliche Tatsache…
Woraus resultiert dieser Widerspruch – und ist es überhaupt ein solcher?

Als Bhagwan Shree Rajneesh vor allem in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in seinen Reden Menschen westlicher Industrienationen gemäß hinduistischem Sannyasa und buddhistischem Zen die Hingabe an die Leere nahebrachte, konfrontierte er damals direkt eine Lebensweise lärmender Massenbetriebsamkeit und die erste große Hochblüte populärer Unterhaltungskultur. U.a. dem von der Hippiebewegung wieder aufgegriffenen Ausdruck der „Gemeinschaftlichkeit“ (englisch: togetherness) setzte er gezielt das Konzept des Alleinseins, ja der „Alleinheit“ (englisch: aloneness), entgegen – und entschied sich sehr bewußt dafür, dies gerade nicht als „Einsamkeit“ (englisch: lonliness) zu definieren.
Die Form von „Gemeinschaftlichkeit (togetherness)“, die Rajneesh bei uns Westmenschen seinerzeit beobachtete, mußte ihm vermutlich oft oberflächlich, übertrieben und wie eine Flucht ins Außen erscheinen. Begriff und Lebensweise solcher Art „togetherness“ wurden von Rajneesh mehrfach in seinen Reden deutlich kritisiert3.

Das, was wir heute als gemeinschaftliches Konzept der Polyamory kennen, steckte damals buchstäblich noch in den Windeln. Morning Glory Zell-Ravenheart gab dem „Baby“ überhaupt erst in dem Jahr seinen Namen, in dem Rajneesh als „Osho“ starb (1990).
„Gemeinschaftlichkeit“ (togetherness), wie sie heute in der Polyamory und erst recht in der Oligoamory aufgefasst wird, bedeutet nämlich eigentlich etwas sehr Wichtiges; so definiert das Collins English Dictonary dies als:
eine Empfindung von Nähe oder Zuneigung durch die Verbindung mit anderen Menschen“ – und Webster’s New World College Dictionary schreibt in seiner 4. Edition sogar:
das miteinander Verbringen von viel Zeit, wie z.B. von Freizeit- oder sozialen Aktivitäten durch die Mitglieder einer Gruppe, insbesondere wenn davon auszugehen ist, daß dies zu einer stärker verbundenen, stabilen Beziehung führt“.
Also Verhaltensbeschreibungen, mit denen wohl auch Dr. Sears, Jesper Juul und Jane Goodall recht einverstanden wären.

Wie kann es demgegenüber trotzdem so scheinen, als ob Rajneesh in seiner Lehre den Menschen ein Dasein als „einsamer Wolf“ oder vielleicht besser in „Allein-heit“ empfiehlt?
Einsame Wölfe, die nichts in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen sollen, denen ihr Selbst genug sein muss und die die anderen Menschen bestenfalls als Luxus4, als „Lebensdreingabe“ um sich zulassen.

Kann es sein, daß „wir Westmenschen“ dann schon wieder in die nächste Falle gestolpert sind?
Eigentlich wollen das hinduistische Sannyasa und das buddhistische Zen doch vor allem Folgendes sagen:

„Lass die Vorstellung von Deinem ‚Ich‘ los. Dann kannst Du ‚Ich‘ wahrhaftig sein.“

Dieser Wunsch, dieses Ziel, ist wirklich weise: Denn im Alltag sind ja vor allem sowohl die Vorstellungen von uns selbst, wie auch auch unsere Vorstellungen, die wir uns hinsichtlich der Anderen machen, das, was uns das Leben schwer macht.
Marshall B. Rosenberg, der „Vater der gewaltfreien Kommunikation“ nannte eben diese Vorstellungen und Annahmen zutreffend „Diagnosen und Beurteilungen“.
Ebenso wie hinduistische Sannyasin oder buddhistische Zen-Meister erklärt aber auch Rosenberg, daß diese Diagnosen und Beurteilungen fast immer irrational sind, weil sie vor allem unseren eigenen angeeigneten Glaubenssätzen entsprängen, wie etwas/jemand sein „müsste“ – und nicht etwa echter konkreter (Sinnes)Wahrnehmung im Hier&Jetzt.
Genau darum ist gute Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung auch so schwer.
Der US-amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Scott Peck, der sich wohl am intensivsten mit der Praxis von Gemeinschaftsbildung auseinandergesetzt hat, nannte die vier Phasen eines solchen Prozesses „Pseudogemeinschaft“, „Chaos“, „Leere“ und „Gemeinschaft“. Ich werde sie hier mal „Oberflächliches-gut-Verstehen“, „Krise“, „Klarheit“ und „echte Beziehung“ nennen. Und ohne jetzt tiefer auf diese verschiedenen Phasen einzugehen, möchte ich zeigen, was diese Phasen mit dem bisher Gesagten zu tun haben.

Bezüglich Scott Peck und seiner Gemeinschaftsbildung war ich lange irritiert, wenn er über Gruppen von 60 und mehr Personen schrieb. Ich hielt dies für kaum glaublich und nahm an, daß kleine Gruppen doch viel leichter in Beziehung zu bringen sein müssten, weil ich insbesondere für die „Chaosphase“ die Gleichung aufmachte: Mehr Beteiligte = Größeres Durcheinander.
Meine eigenen Nah- und Mehrfachbeziehungen bewiesen mir aber nahezu das Gegenteil. Wenige Beteiligte können es aufgrund des viel höheren Nähefaktors und genau wegen der wenigen Mitwirkenden tatsächlich sehr viel schwerer haben.

In die Chaos-/Krisenphase bringen wir nämlich genau die zuvor erwähnten Vorstellungen, Annahmen, Diagnosen und Beurteilungen über uns und die Anderen mit hinein – und fangen dort damit an uns aneinander „abzuarbeiten“.
Mit wenigen „Mitspieler*innen“ (zwei oder drei, z.B.) kann dies regelrecht zu einer Art „Beziehungsschach“ oder „-skat“ geraten (und auch als „Beziehungsdoppelkopf“ oder „-Poker“ wird es mit vier bis sechs Beteiligten nicht besser). Da werden dann buchstäblich Züge geplant und Trümpfe gegeneinander ausgespielt. Und alles in dem Bestreben, dieses „Spiel“ am Ende für sich zu entscheiden. Was bedeutet: Den anderen Beteiligten so zu zeigen, daß nur die eigene (Spiel)Weise die erwiesenermaßen vorteilhafteste und darum richtige sein muß (und die der Anderen damit natürlich nachweislich als nicht erfolgreich und daher falsch bloßgestellt wird).
Scott Peck beschreibt nun, daß diese Konkurrenz- und Krisenphase erst dann endet, wenn alle Beteiligten genau diese Strategie für sich als unsinnig und nicht zielführend entlarven.
Und hier befürchte ich eben, daß es die „Wenigen“ miteinander eventuell deutlich schwerer haben, bis sie sich aus gegenseitiger Umklammerung, Erniedrigungsversuchen oder Schuldzuweisungen entlassen können. Denn bei wenigen Beteiligten ist es allzu leicht, sich sehr lange einzureden, daß es doch noch eine Chance oder einen bislang unbekannten Winkelzug zum vermeintlichen „Sieg“ gibt – oder darauf zu hoffen,daß die Anderen vielleicht einfach von sich aus irgendwann aufgeben…
Bei 40, 60 oder mehr Teilnehmer*innen würde selbst sehr hartnäckigen Spieler*innen die letztendliche Vergeblichkeit oder Unsinnigkeit einer solchen Sisyphusaufgabe viel schneller einleuchten…

Erst also, wenn wir in unseren Liebesbeziehungen an diesen Punkt kommen, dann treffen all die hier beschriebenen Philosophien erst wirklich zusammen und die vermeintlich beharrlichen Widersprüche lösen sich auf.
Darum auch nannte Scott Peck die darauffolgende, dritte Phase nicht sogleich „Gemeinschaft“, sondern „Leere“: Weil diese Erkenntnis, dieses Loslassen der eigenen Voreingenommenheit und des eigenen Sendungsbewußtseins nichts anderes ist als das Zen der Buddhisten, das Sannyasa der Hindus und die Urteilsfreiheit der „Gewaltfreien Kommunikation“.
Diese „Leere“ ist der Moment den z.B. Sportler, Künstler oder Handwerker als „Flow“ kennen, der aus einer Einheit von purem Wahrnehmen sowie Tun und Sein in einem besteht – der Moment aus dem heraus viele Erkenntnisse und Errungenschaften entstehen können.
Auch deswegen folgt die „Gemeinschaft“ oder die „echte Beziehung“ nicht gleich nach der Krise, weil diese „Leere“ ja ebenfalls einen „Augenblick großer Klarheit“ ist, der uns unsere Wahl- und Handlungsfreiheit zurückgibt, um uns un-verstellt zu entscheiden.
Und dieser Augenblick großer Klarheit kann sich in Beziehung eben auch erst dann vollständig entfalten, wenn alle Beteiligten ihn gemeinsam erreichen.
Was zugleich bedeutet, daß dies auch ein Zustand großer selbstgewählt-zugelassener Verletzlichkeit ist. Auch und gerade vor sich selbst, wenn man sich just seiner liebgewonnen und oft auch lange Zeit sinnstiftenden Glaubenssätze entledigt hat…

Egal, was dann passiert: Es ist Raum entstanden für etwas Neues und Echtes.
Vielleicht wird es eine wirkliche Beziehung; vielleicht wird es echte Gemeinschaftlichkeit.

Aber ohne die vorhergehende wirkliche Krise, ohne die darauffolgende Auseinandersetzung, ohne die Reibung aneinander, können wir uns noch sehr lange für den alleinigen Mittelpunkt der Welt halten.
Denn auch dafür brauchen wir die anderen liebenden Menschen vom Geboren-Werden bis zum Sterben um uns:
Nicht nur, um zu erleben, daß es gar nicht darauf ankommt, ob wir dieser Mittelpunkt sind.
Sondern um die Chance zu haben, zu erfahren, daß in unseren liebevollen Beziehungen und in echter Gemeinschaft das Potential unserer Vielfältigkeit immer noch unendlich viel größer wird als das Potential unserer Einzigartigkeit alleine.

1 Erst in seinem letzten Lebensjahr gab Rajneesh die Weisung, alle seine Arbeiten und Publikationen fortan unter einem von ihm neu angenommenen Namen „Osho“ herauszubringen. Da mir der Autor für den Großteil meines eigenen Lebens unter seiner am längsten geführten Bezeichnung „Rajneesh“ bekannt war, werde ich diese weiterhin verwenden.

2 Dr. Sears Standpunkt wurde direkt von den Ergebnissen der Autorin und Anthropologin Jean Liedloff beeinflußt (Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit).

3Vom Trug der Gemeinschaftlichkeit (The Fallacy of Togetherness, 1968)

4Die Macht der Liebe, Kapitel 2: Er sagte / Sie sagte; Von Liebe in einer Beziehung

Dank geht an Jason Leung auf Unsplash.com für das schöne Schachbrettbild.

Noch mehr zu Thema #Vertrauen und Verbindlichkeit gibt es HIER in Eintrag 43

Eintrag 7

Der Tagtraum – Verbindliche Weite

Ich sitze am Ufer des entlegenen Eilands der Oligoamory. Kleine friedliche Wellen schlagen leise an den Strand – die Sonne scheint, aber hier am Strand geht meistens ein frischer Wind.
Irgendwo in den Wäldern des Inselinneren hinter mir glaube ich ganz fern eine Flöte zu hören – nur eine schlichte Folge von Tönen.
In mir hallt die Geschichte von Anday und Tavitih noch nach.
Hätten die Oligoamoren sie auch auf dem Festland oder dem vielgestaltigen Archipel der Polyamory so erzählen können?
Oder hätten sie damit Kritik und Unverständnis hervorgerufen?
Wären die Protagonist*innen als besetzend oder vereinnahmend angesehen worden? Wäre ihr Verhalten gar als besitzergreifend interpretiert worden, ihre enge, fast schon spirituelle Verflochtenheit und Feinfühligkeit als wechselseitige Abhängigkeit?
Hätte das dortige Publikum die Geschichte alsbald für sich abgehakt und Anday und Tavitih für künftige Begegnungen den Satz ins Stammbuch geschrieben „Wahre Liebe gibt frei!“ ?

Gedankenverloren blinzle ich durch mein Kelchglas mit halbdurchsichtigem Cuja-Cuja-Nektar hindurch in die Ferne, in der Himmel und Meer nun grün-gelblich erscheinen.
„Wahre Liebe“, denke ich – und dabei fallen mir all die zahlreichen Mären und Geschichten ein, die alleine ich schon kenne und die sich um dieses Thema ranken. Held*innen gibt es da und Schurk*innen, große Ideale und rabenschwarze Abgründe. Widersprüchliches also, in mannigfacher Gestalt.
„Wahre Liebe“, ich wiege die Worte nochmals auf meiner Zunge – und denke dann: „Wahre Liebe… – …macht erst einmal… …gar nichts!“
Sie ist – ja. Sie entsteht irgendwann zwischen Lebewesen – und die sind es dann eigentlich immer, die ihrerseits irgendetwas mit der Liebe oder wenigstens in ihrem Namen anstellen.
Wenn also Liebe erst einmal nur eine Verbindung, eine Art Energie zwischen Lebewesen ist… – haben dann die obigen Fürsprecher*innen nicht eventuell Recht, daß es wichtig wäre, sie darum frei und unbesetzt fließen zu lassen – wohin sie will?

Was würden die Oligoamoren wohl dazu sagen?
Den freien Fluß der Liebe würden sie wahrscheinlich gar nicht in Frage stellen. Aber wie ich das nachhaltige Völkchen kenne, hätten sie zu der Qualität vermutlich einiges zu sagen:
„Frei ja – aber nicht beliebig! Schau, Oligotropos, das paßt doch genau.“, würden sie dann verkünden. „Es ist buchstäblich wie mit Deiner Energie, die Du ‚Strom‘ nennst: Scheinbar neutral steht er Dir konstant in gleicher Stärke jeden Tag ab Deiner Steckdose zur Verfügung. Der Strom ist immer da – und ihm ist es egal, ob Du damit eine Schraube eindrehst oder ein Orchester erklingen läßt. Dir wird aber vermutlich nicht egal sein, ob seine Quelle nukleares Feuer oder Windkraft ist. Das ist es, wo Verbindlichkeit ins Spiel kommt – aber Verbindlichkeit und Freiheit müssen darum trotzdem kein Widerspruch sein!“
Tja. Manchmal überfordern diese kecken Oligoamoren sogar mich noch, wenn sie in dieser Weise von Nachhaltigkeit zur Verbindlichkeit springen… Oft suchen sie dann ein Beispiel, von welchem sie annehmen, daß ich es besser verstehen könnte: „Wie Knüpfteppiche…“
„Knüpfteppiche, also ehrlich…,“ will ich noch sagen, da sind sie schon mitten im Thema:

„Ja, stell‘ Dir vor, Du handeltest mit Knüpfteppichen. Würdest Du für Deine Kunden nicht die makelloseste Qualität zum besten Preis einkaufen wollen?“
„Durchaus…“
„Dann stell Dir vor, daß Du einen Hersteller finden würdest, der Dir das bietet: Feinste Beschaffenheit, filigranste Muster – und das zu einem Preis weit unter dem der Konkurrenten.“
„Verführerisch…!“
„Nicht wahr? – Nun würdest Du aber herausfinden, daß die Teppiche nur deshalb so fein geknüpft sind, weil sie von Kindern hergestellt werden, die eben sehr kleine Finger haben. Und weil es Kinder sind, bezahlt der Hersteller diese schlecht und gibt Dir das als niedrige Einkaufspreise weiter…“
„Ich verstehe.“
„Obwohl die Teppiche also faktisch exzellent und auch noch preisgünstig wären, wäre es für Dich vermutlich sofort nicht mehr beliebig, wie dieses Ergebnis zustande kommt.
Du würdest nun aber vielleicht im Interesse Deiner lieben Kunden und möglicherweise auch dem der ausgenutzten Kinder von Deiner Freiheit, nämlich Deiner Willens- und Wahlfreiheit Gebrauch machen – und nicht Teil dieses An- und Verkaufs werden.“
„Sehr wahrscheinlich!“
„Damit zeigst Du, daß Du Deine Freiheit sowohl nachhaltig wie auch verbindlich einsetzt.“
„Das mit der Nachhaltigkeit leuchtet mir ein, die Verbindlichkeit bleibt mir noch etwas nebulös…“
„Also Oligotropos: Den unlauteren Hersteller hast Du aussortiert…“ „Ja…“
„Nun möchtest Du aber, um ähnlichen, zweifelhaften Angeboten nicht länger ausgeliefert zu sein, nicht mehr nur passiver Teilnehmer im Teppichgeschäft bleiben. Du möchtest darum aktiv teilhaben und gestalten, einige Umstände selbst in die Hand nehmen.“
„Jetzt dämmert’s mir…!“
„Ja, z.B. gründest Du eine Qualitätsoffensive, die für bessere Bedingungen und fairen Handel wirbt. Du setzt Dich für die Handwerker*innen vor Ort ein und kämpfst mit ihnen für die Anerkennung kleiner Manufakturen…“
„Und dann bin ich verbindlich?“
„Wenn Du es ernst meinst und in Deinem Handeln konsequent bist, dann ja. Erinnerst Du Dich, daß auf dem Stein der Oligoamoren auch der Begriff ‚Integrität‘ verzeichnet war, was ja ‚Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem‘ bedeutet?“
„Habe ich nicht vergessen.“
„Das ist gut, denn es ist ja klar, daß so ein Prozess nicht immer ein Sonntagsspaziergang sein kann. Es wird Herausforderungen geben, Schwierigkeiten, auch Rückschläge…!“
„Ich ahne, worauf das hinausläuft…“
„Genau, damit sind wir nämlich schon auf der Beziehungsebene:
Wer es mit der eigenen Freiheit genau wie mit der Freiheit der anderen in Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit ernst meint, der kann seine Beziehungen nicht wie einen Aktienfonds verwalten. Heißt: Die eigenen Anteile freigeben und ausklinken, wenn es mal kriselt oder der Kurs schwankt – und sich dann nach neuen grüneren Weiden umsehen.
Womit übrigens auch wieder die Berechenbarkeit mit an Bord ist, die wir schon mal beim Vertrauen erwähnten: Integrität und Berechenbarkeit gehen in Beziehungen Hand in Hand…“

„Ausgefuchstes System, ich hab‘ so was geahnt…“, so murmele ich zu mir selbst, denn ich sitze ja noch immer am Strand und keine Seele ist weit und breit zu sehen. Nur zu der Flöte im fernen Wald hat sich unterdessen das ab und an herüberschallende Tam-Tam einer Handtrommel gesellt.
„Das wird schon alles so sein…“, gähne ich – „…aber so’n bisschen abhängig ist man dann ja doch: Vom Kurs der eigenen Aktien, wie auch vom Wohl und Wehe seiner Lieblingsmenschen in den Beziehungen…“ Mit diesem Gedanken döse ich in der Nachmittagssonne ein.

Die Geräusche von Flöte und Trommel scheinen sich aber in meine Träume zu mischen und bald sehe ich die beiden Musiker*innen auf ihrer Waldlichtung im Geiste quasi vor mir:
Sie lachen und spielen sich die Töne zu, improvisieren und wechseln dabei immer wieder die Rollen…
Da begreife ich, daß die Oligoamoren mir mit ihrem seltsamen Teppichbeispiel noch mehr sagen wollten:
In dem, was ich selber wähle, dort wo ich gestalterisch eingreife und aktiv Teil habe, bin ich nicht abhängig. Insbesondere nicht bei Dingen, die mir am Herzen liegen, die ich mit Leidenschaft aufgenommen habe und betreibe.
Und das alles, obwohl es manchmal Mißtöne geben kann und eventuell sogar mal jemand anders gerade die Melodie führt… Verbunden und doch frei…

Ich wache schlagartig auf. Der Cuja-Cuja-Nektar ist umgekippt und längst im Sand versickert. Die Musik ist auch verklungen. Oligoamory, Du seltsames Eiland..

Ich klappe meinen Campingstuhl zusammen und kehre beschwingt zu unserer Habitatsphäre zurück, die bislang das Zentrum unseres kleinen Lagers bildet. Im Eingang davon steht meine Gefährtin – gerade spricht sie aufgebracht in ein Funkgerät. Vielleicht mit jemandem von der Presse, auf jeden Fall aber mit jemandem vom Festland. Sie gestikuliert dabei und sagt:
„Warum ist Verbindlichkeit vereinnahmend? Wo ist das Problem?
Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich mich mit jemanden unterhalte und über diesen Menschen etwas wissen möchte, wenn der anfängt: ‚Hmm ja…, irgendwie bin ich irgendwas, irgendwo zwischen naja und nicht ganz…‘
Was hat das ’sich-selbst-Kennen‘ und dann in Kommunikation ’sich-selbst-Erklären‘, damit das Gegenüber eine Chance hat zu wissen – anstatt zu spekulieren – wo ich stehe, mit Vereinnahmung zu tun?
Heißt ja nicht, daß Menschen sich dann nicht mehr entwickeln oder verändern dürfen.
Habt ihr Angst, die Leute könnten sich auf eure Aussagen verlassen und ihr könntet es dann im Fall der Fälle nicht mehr so hinbiegen, wie es Euch gerade paßt?“

Ich grinse und denke: „Deutlicher hätten es auch die Oligoamoren selber nicht sagen können…“



“Du bist frei darin, eine Wahl zu treffen – aber Du bist nicht darin frei, die Konsequenzen Deiner Wahl zu verändern.” ¹

Ein Paradoxon?

Nach meinem Verständnis nicht: Es ist die angemessene Selbstzuschreibung, daß unsere Handlungen (oder nicht-Handlungen) jedesmal Weichenstellungen sind, die darum immer Auswirkungen auf den gesamten so gewählten Kurs haben werden.



¹Dieses in verschiedenen Versionen im Internet kursierende Zitat stammt ursprünglich von dem ehemaligen US-Landwirtschaftsminister Ezra Taft Benson (1899-1994).

Dank geht an Toa Heftiba auf unsplash.com für das Bild, sowie an meine Nesting-Partnerin Kerstin für ihr wunderbares Forumszitat.

Eintrag 6

Die Geschichte von Anday und Tavitih

Zu den beliebtesten Legenden, die sich die Bewohner*innen des entlegenen Eilands der Oligoamory erzählen, gehören die Geschichten um Anday und Tavitih.
Eine der bekanntesten davon ist diese hier:

Anday und Tavitih waren zwei junge Oligoamore, die sich inniglich liebten und bereits eine Weile zusammenlebten.
[Manchmal wird diese Geschichte auch mit drei oder vier schon verbundenen Partner*innen erzählt – aber auch auf dem Eiland der Oligoamory fangen manche Gemeinschaften damit an, daß sich erst einmal zwei Personen zur kleinst möglichen Einheit zusammenfinden – und der Einfachheit halber erzähle ich heute diese Version]
Einmal, an einem Morgen, erwachte Anday und sprach zu Tavitih: „Ich hatte eine sehr unruhige Nacht, ich habe kaum geschlafen an Deiner Seite. Mitten in der Nacht habe ich mich sogar einmal im Dunkeln gefürchtet – denn ich bildete mir im Halbschlaf ein, irgendetwas sei fremd an Dir.“
Tavitih wurde darob sehr nachdenklich, setzte sich langsam zu Anday an den Tisch in der Mitte des Hauses und sprach: „Ich habe gestern Nabiku kennengelernt, als ich auf meiner Wanderung war. Es war ein guter Tag und wir haben auf dem Weg viel miteinander gesprochen. Heute morgen glaube ich, daß ich mich dabei in Nabiku verliebt habe – und Nabiku auch in mich. Ich wollte Dir gestern schon davon erzählen, doch ich war mir selber noch nicht sicher, was genau geschehen war. Ich erkenne, daß ich es Dir doch sofort hätte berichten sollen.“
„Ja“, sagte Anday, „jetzt kann ich das alles gleich viel besser verstehen. Weißt Du – heute Nacht – da war es, als ob eine unbekannte Art Kraft von Dir ausgegangen ist. Wie eine Energie oder eine Aura, die ich so noch nie zuvor bei Dir wahrgenommen hatte. Und in der Nacht war ich unsicher, denn weil mir dieser Einfluß unbekannt war und darum so fremd vorkam, habe ich mich geängstigt.“
„Du hast bestimmt schon die aufwachsende Verbindung, so gering sie auch noch sein mochte, von mir zu Nabiku gespürt“, sprach Tavitih, „so wie auch ich sie verspürte, obwohl selbst ich ihr noch keinen Namen geben konnte. Das zeigt mir, wie eng unsere Verbindung, zwischen Dir, Anday, und mir, Tavitih, ist. Unsere Ahnen würden lächeln – so heißt es doch – weil wir dann wohl bereits unser ‚gemeinsames Wir‘ begründet haben, wenn Du so schnell als ich verspürst, wenn dieses angerührt wird!“
„Es mag wohl so sein, wie Du sagst, Herzens-Tavitih“, sprach Anday. „Doch gestern Nacht wähnte es mir für einen Moment schon mehr als dies. Es war mir in einem Moment, als hättest Du mehr als nur Dich selbst wieder von Deiner Wanderung in unser Haus gebracht…“
„Oh, ja, eben diese neu ersprießende Verbindung…!“ rief Tavitih.
„Nein, mir schien es zu mitternächtlicher Stunde für einen Augenblick, als ob Du einen ganzen Gast mitgebracht hättest, der dann neben mir unser Lager teilte – aber der Moment wich – und weil ich noch nicht verstand, was ich heute morgen von Dir weiß, ängstigte ich mich.“
Auf diese Weise erkannte Tavitih, daß Nabiku bereits im Herzen mit in das gemeinsame Haus zu Anday gekommen war und daß der Seele von Anday dies nicht verborgen geblieben war.
Doch Anday sprach munter: „Laß uns gleich heute Nabiku besuchen und erzähle mir doch von Eurer Wanderung. Und ihr beide sollt auch Eure neue Verbindung erkunden und pflegen und sehen, wohin es Euch und uns führt. Das Fremde ist immer das Neue, das man noch nicht kennt. Und neu mag es wohl sein – doch fremd soll es nicht länger bleiben!“

So begab es sich, daß auch Anday und Nabiku voneinander erfuhren und sich sogleich begegneten. Und Anday erkannte, was Tavitih an Nabiku schätzte, denn Tavitih war Anday wahrlich gut vertraut.
Doch gab es auch Seiten an Nabiku, die Anday weniger verstand – und eine Spur Zweifel berührte Anday, ob Tavitihs Herz wirklich so klar war, wie gedacht…
In den folgenden Nächten schlief Anday dennoch nun wieder ruhiger an Tavitihs Seite, weil Anday jetzt um Nabiku und die neue Verbindung wußte.
Dennoch wich das Fremde nicht so, wie Anday gehofft hatte, denn das Fremde an Nabiku schien trotzdem zu einem Fremden in Tavitih zu geraten. So beobachtet Anday z.B., daß Tavitih nun viel mit Nabiku das Wasserwandern betrieb, etwas was Anday und Tavitih so zuvor noch nie getan hatten. Darum sprach Anday schließlich zu Tavitih:
„Du bist nun oft mit Nabiku wasserwandern. Das haben wir nie getan. Ich weiß natürlich wohl, daß Du gerne in der Natur bist. Wenn Dir der Sinn nach wasserwandern stand, dann hättest Du das doch mir offenbaren können – dann hättest Du mit mir ebenfalls längst wasserwandern können.“
Drauf erwiderte Tavitih: „Ich wußte doch aber, daß Du Dir aus wasserwandern fast gar nichts machst. Es wäre mir darum niemals eingefallen, Dich mit diesem Ansinnen zu bedrängen. Nabiku wasserwandert jedoch viel, so daß mir an der Seite von Nabiku wieder auffiel, daß ja auch ich es eigentlich gerne tue.“
Auf diese Weise erkannte Anday, daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.

Und Anday erkannte ebenfalls, daß eine neue Welt auch zunächst stets viel Unbekanntes und daher Fremdes enthalten würde – so daß es Zeit erfordern würde, sich daran zu gewöhnen – oder es gar lieb zu gewinnen.
Als Anday dies Tavitih offenbarte, erkannte Tavitih wiederum, daß mit Nabiku nicht nur eine neue Verbindung, ja nicht nur eine neue Person, sondern eine ganze neue Welt in ihr Haus gekommen war.
Und Anday und Tavitih erkannten beide, warum die älteren Oligoamoren niemals leichtfertig von jenem „gemeinsamen Wir“ sprachen, bei dem aus „Meinem“, „Deinem“, „Seinem“ und „Ihrem“ ein „Unseres“ entstehen konnte.

Die Geschichte von Anday, Tavitih und Nabiku jedoch geriet glücklich, eben weil alle drei auf diese Weise miteinander lernten, was es bedeutete, verbunden zu sein trotz Unterschiedlichkeit.
Und daß, als die Unterschiede von Nabiku in die Verbindung von Anday und Tavitih eintraten, ein neues „gemeinsames Wir“ erwuchs, was anders war als jenes, was zuvor nur zwischen Anday und Tavitih bestanden hatte.

Nun – wie es in Legenden so kommt – begab es sich einige Zeit später, daß wiederum Anday sich leidenschaftlich in Mowin verliebte.
Gleich in der Woche darauf berührte dies nun Tavitih, zitternd auffahrend auf dem gemeinsamen Schlaflager mit Nabiku in dieser Nacht. Als Nabiku erschrocken fragte, was der Grund sei, sprach Tavitih:
„Ich schlief friedlich an Deiner Seite, als mich im Dunkeln ein Geräusch zu wecken schien. Ich wandte mich im Halbschlaf zu Dir um – doch da warst nicht mehr Du. Ganz deutlich lag Mowin direkt an meiner Seite und schaute mich mit weit offenen Augen an!“
Nabiku versuchte Tavitih zu beruhigen und erzählte darum, wie es doch einst Anday damals fast ebenso ergangen war. Im Inneren war Nabiku trotzdem etwas beunruhigt, da es für Nabiku noch keine tiefere Verbindung zu Mowin gab, wiewohl Mowin Teil des Dorfes war. Hatte also Anday Mowin schon so präsent in das gemeinsame Haus gebracht?
Tavitih fuhr fort, schlecht zu schlafen und schlechter Schlaf macht bekanntlich reizbar, so daß es nach ein paar Tagen wegen einer unwichtigen Kleinigkeit zu einem Streit zwischen Anday und Tavitih kam. Doch selbst das Streiten mit Anday, was sonst oft zu allseitiger Klarheit führte, schien Tavitih heute nicht recht zu beherrschen, so sehr machte „die neue Welt“ des Mowin zu schaffen. Darum brach es schließlich aus Tavitih hervor:
„Es kommt mir vor, Anday, als ob ich nicht mit Dir sondern mit Mowin streiten würde! Mowin ist stets so reizbar und empfindlich wie Du heute und obendrein dominant. Und wie Mowin verdrehst Du neuerdings alle meine Argumente und tust intellektuell!“
Weil aber Anday und Tavitih wahrhaftig miteinander lang vertraut waren, gelang es ihnen dennoch, diesen Streit am Ende beizulegen – doch für Tavitih wollte das Fremde einfach nicht weichen. Als Nabiku am nächsten Tag Tavitih die Haare bürstet, fuhr Tavitih irritiert herum und rief: „So habe ich Mowin Haare bürsten sehen: Selbstgefällig und ohne Gefühl. Wie kannst Du, Nabiku, es in solcher Art Mowin nachmachen?“

Nabiku und Anday waren ob dieser Ereignisse sehr erschrocken und wandten sich alsbald an einen weisen alten Oligoamoren, ob er nicht einmal mit Tavitih sprechen könne, insbesondere um des „gemeinsamen Wir“ halber, welches in Gefahr zu geraten schien.
Der oligoamore Älteste kam diesem Wunsch auch nach und lud am darauffolgenden Abend Tavitih an das Feuer der Geschichten in der Mitte des Dorfes ein – und fragte direkt nach Mowin.
Aus Tavitih brach es sofort hervor: „Allgegenwärtig scheint mir Mowin zu sein! Mowin ist stolz und selbstherrlich – und das scheint Anday auch noch anzuziehen… Ja, es wähnt mir, daß dies auch in Anday nun plötzlich ebenso eingepflanzt ist – und selbst in Nabiku scheint es schon zu keimen! Ich schätze dies alles nicht an Mowin und auch in Anday und Nabiku kann ich es nicht leiden!“
Da erinnerte der oligoamore Älteste Tavitih daran, daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.
Und er erinnerte daran, daß Tavitih nun in Anday und in Nabiku Dinge deutlicher sehen würde, die vielleicht schon immer in diesen beiden gewesen waren, nun aber durch die Gegenwart von Mowin deutlicher hervorscheinen würden. „Erinnerst Du Dich an Dein Wasserwandern?“ schloß der Alte.
Tavitih schwieg lange – und schien zu verstehen. Doch dann verdunkelte sich Tavitihs Gesicht wieder: „Mowin ist für mich ein Heuchler und ich kann mir mit Mowin kein „gemeinsames Wir“ vorstellen. Ich kann Mowin absolut nicht vertrauen!“
Der alte Oligoamore sah Tavitih an und sagte daraufhin: „Ich spreche zu Dir nicht von absolutem oder blindem Vertrauen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen absolutem Vertrauen und der Annahme, daß andere nicht vertrauenswürdig sind. Du mußt Mowin nicht lieben und vielleicht auch Mowin in Anday nicht unbedingt lieben. Aber überlege, ob Du Mowin dort nicht trotzdem zumindest erst einmal akzeptieren kannst.“

Die Geschichte von Anday und Tavitih, die dadurch ja nun auch die Geschichte von Nabiku und Mowin geworden ist, wird von den Oligoamoren von diesem Punkt an verschieden weitererzählt.
In manchen Versionen wird Mowin nicht Teil der Beziehung, in anderen Versionen trennen sich am Ende sogar Anday und Tavitih. Und in manchen Versionen leben alle zusammen glücklich bis an ihr Lebensende.

Dennoch enthalten alle Versionen die gleiche Moral: Nämlich, was für eine starke Kraft die Anderen in uns sind. Und wie bedeutend es für eine oligoamore Beziehung ist, die unabweisbare Präsenz der Beteiligten in den jeweils anderen Menschen anzuerkennen.
Daß es wichtig ist zu verstehen, daß man selber die anderen Beteiligten auch immer in sich selber trägt, sobald sich irgendeine liebende Beziehung zu entwickeln beginnt.
Und daß es es ein wunderbares Ziel wäre, die Anderen in den Anderen zu respektieren und dort mitzulieben.
Aber daß es zum gemeinsamen Gelingen zumindest wichtig ist, die anderen Lieben in den Anderen zu akzeptieren, um sie weiter als ganze Menschen wahrzunehmen und als solche wertzuschätzen.



Dank geht an Anaïs Nin für das Weltenzitat aus ihren Tagebüchern 1929–1931 „Kann ich zwei Männer lieben?“ ,
an Tanner Larson für sein Lagerfeuerbild auf unsplash.com,
und an Sandra Fels, ohne die diese Geschichte nur eine Idee geblieben wäre.


Eintrag 5

Von Angehörigen und Zugehörigen

Eine der interessantesten Überlieferungen über die geheimnisvollen Oligoamoren, die mich maßgeblich zu der Überfahrt auf das entlegene Eiland motiviert hatte, war, daß diese dort in ihrer Abgeschiedenheit nicht in klassischen Familien zusammenleben würden, sondern in Gruppen, welche sie „Zugehörigen-Gemeinschaften“ nannten.
Historisch ergab dies für mich auf jeden Fall einen Sinn, denn das Eiland der Oligoamory wurde erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts besiedelt, als die zunehmende Industrialisierung und die damit einhergehende Arbeitsmigration in die Städte die Funktionen, die einstmals die klassische ländliche Großfamilie für die Menschen übernommen hatte, aufzulösen begann.
Ich möchte dies hier aber nicht zu einem geschichtlichen Auszug gestalten, werde aber auf einige Auswirkungen des Prozesses, der zu der damaliger Zeit einsetzte, zurückkommen.

Ich selber, der ja bekennend aus der „Alten Welt der Mono-Amory“ stamme, wuchs dort nämlich mit Sinnsprüchen auf, die scheinbar das alte Ideal der Familie als allzeitiger Beistands-Gemeinschaft, begründet durch biologische Verwandtschaft, nach wie vor hochhielten. Am bekanntesten im deutschsprachigen Raum wird dabei die Maxime
„Blut ist dicker als Wasser“
sein, der auch durch ihre wiederkehrende mediale Präsenz in Radio, Fernsehen sowie Internet noch ein langes Leben beschert sein wird. In den bürgerlichen Kreisen, in denen ich mich bewegte, wurden die Betroffenen darüber hinaus – durchaus auch bei festlichen Gelegenheiten – auf die Sinnhaftigkeit des Angehörigen-Modells mit der stets leidenschaftlich vorgetragenen Formel
„Freundschaft ist ein schönes »Kann«, Familie ein schönes »Muß«!“
eingeschworen. In diesem Sinne wird vermutlich jedem von uns „Altweltlern“ noch irgendein Leitsatz einfallen, in welchem der Wert der leiblichen Familie betont oder gar über alles andere gestellt wurde…

Manche meiner Leser*innen werden nun eventuell unruhig und denken: „Jetzt zieht der Oligotropos gegen die Familie los… – da wird er wohl schlechte Erfahrungen gemacht haben. Das gilt aber nicht überall so!“
Und darauf möchte ich auch sogleich einlenken und sagen, daß ich großartige Familien kenne, in denen mehrere Generationen, in Liebe und gegenseitiger Unterstützung verbunden, sich gegenseitig fördern, umsorgen und gleichzeitig als Individuen wertschätzen.
Genau dies sind hingegen gleichzeitig auch fast immer jene Familien, die keinen der obigen Glaubenssätze hervorheben müssen, um ihre inneren Dynamiken festzuschreiben.
Ich pointiere dazu mal etwas überspitzt: Wenn Großvater beim Familiengrillfest dem Enkel und seiner Verlobten 500€ für deren geplanten Carport zusteckt, dann mag dem vielleicht ein nicht gänzlich gelungener Ausdruck von „Ich liebe Euch – und ich möchte Euch unterstützen…“ zugrunde liegen. Wenn aber Enkel und Verlobte zu dem Grillfest fahren, nur „… weil es da vermutlich 500€ von Opa gibt…“ – oder vorher gar der Enkel mit seiner Verlobten streiten, ob man denn nun unbedingt zu dem gräßlichen Grillfest fahren müßte – aber wenn man es nicht täte „…gäbe es ja von Opa nie wieder irgendeine Zuwendung…“ – dann brauchen in letzterem Beispiel längst kein Blut oder Wasser mehr zitiert zu werden: Denn die „verwandtschaftliche (Liebes)Beziehung“ ist längst einer „Geschäftsbeziehung“ gewichen. Und zum anhaltenden Funktionieren müssen „Geschäftsbeziehungen“ beschworen und eingefordert werden – Liebesbeziehungen, indessen, beruhen auf gänzlich anderen Banden.

Warum wird die leibliche Familie dennoch bis heute mit so überaus markanten Begriffen wie „Blut“ und einer Menge Superlativen anhaltend bekräftigt?
Weil es noch nicht so lange her ist, daß vor allem die Familie als Not- und Schutzgemeinschaft dienen mußte. Insbesondere von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts war dies in Deutschland der Fall, speziell in den Zeiten des postapokalyptischen Zusammenbruchs jedweder staatlichen Unterstützung und Ordnung nach den großen Weltkriegen. Damals wurden Familien und Verwandtschaften zu solchen Notgemeinschaften, zu denen sich Menschen immer unter Lebensbedrohung zusammenschließen. Darum gibt es solche Erscheinungen in allen Kriegs- und Krisengebieten, in Bunkern, Schützengräben, nach Terrorakten oder Naturkatastrophen. Dabei kommt auch die grandiose Seite der Menschheit zum Tragen wie z.B. spontane Solidarität oder sogar selbstlosem Verhalten bis hin zur Aufopferung.
Wie aber z.B. Scott Peck in seinem Buch zur Gemeinschaftsbildung „A Different Drum“ schreibt: Notgemeinschaften lösen sich allmählich wieder auf, sind nicht von Dauer, wenn die äußere Bedrohung als gemeinschaftsstiftender Auslöser irgendwann weicht.
Persönlich empfinde ich das übrigens als ein sehr hoffnungsvolles Zeichen für die Menschheit: Denn sonst müssten wir doch immer auf ein Gefühl von Bedrohung und Abgrenzung setzen, um zu Gemeinschaftlichkeit bzw. Beziehungsfähigkeit anzuregen. Aber das ist offenbar nicht der Kitt, der uns dauerhaft zueinander bringt.
Und darum wünsche ich mir, daß wir damit aufhören, unsere Geburtsfamilien als ebensolche Orte zu betrachten, an die wir aus buchstäblicher Not-Wendigkeit unumstößlich gebunden sind.

Die Realität des 21. Jahrhunderts hat unterdessen eh das Ihrige beigetragen, um rein biologische Bindungen zu relativieren: Nur äußerst selten leben die Generationen noch zusammen, oftmals trennen uns sogar viele Kilometer. Manchmal hat die Beteiligten Neigung zu der Wahl ihres (auseinanderliegenden) Wohnorts bewegt, doch häufiger ist es nach wie vor die monetäre Grundsicherung unseres Lebens durch Erwerbsarbeit, die uns dazu antreibt. Diese Erwerbsarbeit hat vor allem seit der Wende zum 21. Jahrhundert nochmals zusätzliche Anforderungen an unsere Flexibilität gestellt, so daß wir meist mehr Zeit außerhalb als innerhalb unserer eigenen vier Wände verbringen, daß wir den Einsatzort gelegentlich wechseln müssen und daß wir manchmal schon stärker in berufsständischen Netzwerken denken und interagieren als in unseren sozialen Umgebungen. Auch dies hat vielerlei Ursachen, die ich hier nicht näher beleuchten möchte, nicht alle sind zwangsläufig, doch haben diese Ursachen Wirkung auf einige unserer elementarsten menschlichen Bedürfnisse.

Mit deren Grundlagen haben sich parallel zu den Krisen des 20. Jahrhunderts vor allem die Psychologen Carl Rogers, Abraham Maslow und auch Marshall Rosenberg beschäftigt. Und dahingestellt, ob man ihren gefundenen Parametern nun eine Hierarchie zuordnet oder nicht, so identifizierten sie alle unser essentielles Bedürfniss nach Gemeinschaft, Verbundenheit und Nähe, insbesondere hinsichtlich Geborgenheit, Fürsorge, Wertschätzung und Interesse (an uns von den Anderen), Autonomieerleben und Mitbestimmung, Austausch und Anregung (durch Andere), dem Zeigendürfen von Gefühlen, sowie Vertrauen, Stabilität und einem emotionalen Zuhause.
Ihre Forschungen begannen abzuzeichnen, daß unsere unterdessen eingeschlagene Lebensweise von zunehmendem Individualismus und starker Vereinzelung diese Ziele kaum noch in einem ausreichenden Maß gewährleisten kann, so daß sogar unsere psychische wie körperliche Gesundheit in Gefahr gerät. Darüber hinaus mehrten sich die Belege dafür, daß das sich immer weiter etablierende Kleinfamilienmodell alleine genau genommen nicht mehr in der Lage ist, die Erfüllung dieses ganze Bedürfnisbündels für seine Beteiligten sicherzustellen.
Und bis in die Gegenwart bestätigt die Forschung, die auf den Ergebnissen dieser Wissenschaftler aufbaut, daß Menschen, um Gemeinschaft und Verbundenheit, die über reine Zielerreichung hinausgeht, zu erleben, der Wahrnehmung dieser verschiedenen Gefühlskomponenten zu ihrer seelischen Ausgeglichenheit und Zufriedenheit bedürfen.
Diese Bedürfnisse sind selbstverständlich speziell für die gesunde Entwicklung von Kindern grundlegend, doch betreffen sie unabhängig davon Jede und Jeden von uns – unabhängig vom Alter, unser ganzes Leben lang und zwar, wie oben gesagt, essentiell: wesentlich; zum unserem Wesen gehörig, lebensnotwendig

Dies dargestellt, erscheint mir nachvollziehbar, warum „Blutsverwandschaft“ bzw. bloßer Angehörigenstatus kein erklärendes Alleinstellungsmerkmal hinsichtlich dieser Bedürfniserfüllung sein kann. Wie sollen meine 300km entfernt wohnenden Eltern täglich dazu sinnvoll beitragen? Wie jemals eine Cousine, mit der ich seit 15 Jahren kein Wort mehr gewechselt habe und die nicht einmal genau weiß, wo ich wohne? Und wenn ich mich schon vor dem Zusammentreffen mit Großvater auf seinem Grillfest grusele, dann wird er wohl kaum in der Lage sein, zu meinem Wohlbefinden beizutragen. Dafür muß nicht einmal unbedingt Großvater ursächlich sein: Denn ich selbst entscheide und wähle doch letztendlich aus, wer zu dem Kreis der Menschen gehört, die wirklich Bedeutung für mich haben.

Wenn diese „Bedeutung“ nun nicht nur monetärer oder zweckdienlicher Natur ist (eine „Beziehung“ habe ich schließlich auch zu meinem persönlichen Versicherungsagenten…), sondern mit dieser berühmten metaphysischen Komponente „Liebe“ versehen ist, geschieht das, was ich in der Oligoamory mit der „Wahl meiner Zugehörigen“ beschreibe: Also jene Menschen, die aus meiner Sicht zu mir gehören. Und denen wiederum ich mich zugehörig fühle.
Es ist der Moment, in dem sich das ausbildet, was manchmal als „Wahlfamilie“, „Soultribe“ oder „Seelenverwandte“ bezeichnet wird. Diese „Zugehörigen“ sind also Menschen, die für einander wechselseitig Bedeutung haben, wichtige, besondere Rollen im Leben spielen, die aneinander Anteil nehmen. Und – das möchte ich für die Oligoamory betonen – dieser Anteil ist sehr hoch und versucht, den ganzen Menschen einzuschließen, mit all seinen Stärken, Schwächen, Begabungen und Macken.
Diese Anteile sind es am Ende auch, die zusammen das auf meiner Startseite und Eintrag 4 beschriebene wohlwollende „gemeinsame Wir“ ausmachen, wenn aus „Deines“, „Meines“, „Ihrem“ und „Seinem“ ein „Unseres“ entsteht.
Über die dafür erforderliche Zeit, günstige Nähe und Intensität habe ich ja bereits ein bisschen geschrieben – und werde das auch regelmäßig wieder tun

Genau wegen obiger „metaphysischer Komponente“ wünsche ich aber ebenso ganz besonders, daß all meine „Zugehörigen“ sich mit mir auch stets in einem oligoamoren Kontext befinden:
Denn wenn ich gut drauf und brillant bin, könnte es eventuell leicht sein, mit mir gut zu stehen und vermutlich bin ich auch zu diesen Zeiten überwiegend eine Bereicherung. Doch selbst in einer Durchschnittswoche treibe ich mich schon mit Taten und Gedankenspielen um (über Oligoamory z.B.), bei denen vielleicht nicht immer Jedermensch begeistert sein muß…
Wem aber kann ich mich erst an den Tagen anvertrauen oder gar zumuten, an denen selbst das nicht mal der Fall ist? Ich werde nicht immer attraktiv, eloquent und gesund sein. Vermutlich werden Zeiten kommen, an denen ich in vielerlei Hinsicht hilfebedürftig oder anderweitig unerquicklich bin.
Hoffentlich habe ich bis zu spätestens diesem Zeitpunkt die Menschen um mich versammelt, die mich auch in den vielzitierten „schlechten Zeiten“ er-tragen können, weil wir vorher verbindlich einen nachhaltigen Schatz zueinander bei-getragen haben, der uns auch noch nährt, wenn es mal nicht so gut läuft.

Ich als Autor wünsche mir, daß es mir bis hierher gelungen ist abzubilden, warum durchaus auch „biologische Familien“ die Kriterien für solche „Zugehörigen-Gemeinschaften“ erfüllen können. Bzw., daß selbstverständlich auch für einander in Liebe zugetane Familienmitglieder Platz im „Zugehörigen-Modell“ ist.
Aber eben auch für jede beliebige andere Form inniger, emotionaler Verbindung, die wechselseitig in Liebe begründet ist und Anteilname in Form von (intimer) Nähe und Alltag einschließt (Und dies ist für mich übrigens der beziehungsanarchistische Erbteil meiner Auffassung der Oligoamory).

Interessant finde ich für „Zugehörigen-Modelle“ folgende beiden eher nonkonformen „Börsen“ (die zeigen, daß dies nicht rein theoretische Überlegungen sind):

Wahlverwandtschaften e.V. mit der regelrecht oligoamoren Selbstbeschreibung:
Wahlfamilie ist…
– Interesse zeigen
– Zuhören
– Verbindlich
– Langfristig ausgelegt
– Der Wille, gegenseitig Verantwortung zu übernehmen
– Menschenfreundlichkeit: Toleranz & Vertrauen
– Plural
– Solidarität: Geben & Nehmen

sowie

Bring-toghether.de mit Webpräsens, App und Newsletter

► Obwohl ich persönlich dem Konzept des Co-Housings aus oligoamorer Sicht nicht gänzlich zugetan bin: Einerseits mache ich mir Sorgen, ob bloßes „gemeinschaftliches Wohnen“ nicht doch mittelfristig zur einer möglichen Verzweckung statt zu einem liebevollen „den-ganzen-Menschen-Meinen“ führt.
Und mich erschreckt andererseits die darüber noch hinausgehende Konzeption von ganzen Tiny-House-Siedlungen, die in meinem Herzen den Gesamtsinn vollkommen verdrehen, weil dort eine regelrechte Kolonie von neuzeitlichen Klausnerinnen und Klausnern erzeugt wird, die ihre Mitmenschen bestenfalls für kurze Zeit oder in ausgewählten Dosen (z.B. im Gemeinschaftshaus) ertragen können, bevor sie wieder in ihre selbstgewählte Ego-Isolation zurückkehren.

Last but not least, Familien(an)sprüche reloaded – und solange es noch gesagt werden muß:

Der deutsche Kulturphilosoph, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Friedrich von Schlegel (1772 – 1829) schrieb:
„Nur um eine liebende Frau herum kann sich eine Familie bilden.“
Dieser – zu meinem Leidwesen von einem Romantiker verfaßte – Satz trug über mehrere hundert Jahre zu einem Mythos bei, der bis in die Gegenwart gelegentlich noch kolportiert wird.
Demnach scheint es in einem erwachsenen Menschen irgendeinen Schalter zu geben, der prädisponieren soll, zu welcher Art Aufgabe bezeichneter Mensch besonders „geeignet“ wäre.
Dieser Mythos hat über oben erwähnte Jahrhunderte bis in oben erwähnte Gegenwart dazu geführt, daß nicht nur der Bereich „Familie“ mit seinem Aufgabenkreis von Haushalt, Erziehung, Fürsorge sowie Kinder-, Kranken- und Altenpflege dem weiblichen Geschlecht angedichtet wurde, sondern auch, daß dieser Bereich mit der „metaphysischen Komponente Liebe“ solcherart verknüpft wurde, daß sämtliche diesem Handlungskreis untergeordneten Tätigkeiten fürderhin selbstverständlich aus „aufopferungsvoller Liebe“ zu leisten waren – mithin freiwillig und unentgeltlich, versteht sich.
Ich, Oligotropos, sage hier, daß dieser Mythos der Oligoamory mit ihrem Schwerpunkt auf Bedürfnisgerechtigkeit in jeder Hinsicht widerspricht. Nicht nur, daß es in keinem Menschen, egal welcher Rasse, welchen Geschlechts, welcher Identität oder welchen Genders irgendeinen „Schalter“ gibt, der sie, es oder ihn zu irgendetwas „prädisponiert“. Niemand kommt als formvollendetes Elternteil, Erzieher*in, Lehrer*in, Sozialarbeiter*in, Küchentischpsycholog*in, Krankenpfleger*in oder Altenpfleger*in zur Welt. Niemand reißt sich automatisch um solche Aufgaben, weil es angeblich ihrem oder seinem „Naturell entspricht“, noch nicht einmal, wenn so eine Aufgabe als unabwendbare Tatsache bereits im Raum steht.
Liebe mag eine Grundlage sein. Aber sie ist keine Qualifikation und erst recht keine implizite „Berufung“.
Wenn wir uns wünschen, daß solche Aufgaben wahrhaftig aus „Berufung“ ausgeführt werden, dann müssen wir die Wahl dafür vollständig freigeben, wer sich dazu berufen fühlt. Und diese Personen müssen angemessen anerkannt und belohnt werden. Nicht mit einer romantischen Widmung, nicht mit einer gesellschaftlichen Geste, sondern so konkret, wie jede andere Berufung auch.
Das wäre verbindlich, angemessen und liebevoll.



Danke an rawpixel auf unsplash.com für die Bilder,
Gabriele Hartmann von Wahlverwandschaften e.V.
und Christoph Wieseke von Bring-together.de

Eintrag 4

Der Besuch

Gestern empfing ich zum ersten Mal Besuch auf dem entlegenen Eiland der Oligoamory, nachdem ich selber erst vor drei Wochen hier angelandet war. Es war mein*e Freund*in vom vielgestaltigen Archipel der Polyamory – und entsprechend aufgeregt war ich.
Selbstverständlich zeigte ich begeistert all die Dinge, die mir bisher begegnet waren: Wir besuchten den Ort meiner Anlandung, ich führte die Fotos und Karten vor, auf denen sich die Umrisse der Insel allmählich abzuzeichnen begannen, wir betrachteten die reichhaltige Flora und Fauna des Eilands, deren vielversprechendes Potential ich selbstverständlich betonte und natürlich begaben wir uns auch zu dem imposanten „Stein der Oligoamoren“.
Als wir allerdings am Abend auf der Veranda meiner Hütte bei einem kühlen Getränk saßen, bemerkte ich eine deutliche Irritation bei meinem Gast, von der ich den Eindruck hatte, daß sie sich über den Tag nach und nach aufgebaut hatte.
Da ich mich im Sinne der Oligoamory in großer Aufrichtigkeit üben wollte, sprach ich meine*n Freund*in darauf an – und bat, ebenso aufrichtig zu antworten.

„Jetzt hast Du mir soviel von diesem verborgenen neuen Eiland erzählt und gezeigt“, begann mein*e Gesprächspartner*in, „aber das Wichtigste, scheint mir, hast Du dabei ausgelassen. Wo sind denn diese vielbeschworenen Bewohner*innen? Selbst Du, mein guter Oligotropos, lebst hier mit Deiner Nesting-Partnerin in Deiner selbsternannten Forschungsstation – zu zweit – fast wie ein biederes Ehepaar anzusehen.“

„Auf der einen Seite bekümmert mich das natürlich auch ein bisschen“, antwortete ich, „und selbstverständlich hätte ich Dir in der Hinsicht auch gerne schon mehr präsentiert. Auf der anderen Seite ist der gegenwärtige Zustand durchaus soweit ziemlich realistisch.“
„Wie soll ich das verstehen?“ „Nun – erst einmal sind wir hier auf dem entlegenen Eiland der Oligoamory buchstäblich bereits ‚recht weit draußen‘ – es ist ganz wichtig, daß wir uns das immer wieder klar machen, gerade in Zeiten, in denen auf den ersten Blick ’nichts zu sehen ist‘. Schon der sagenumwobene Kontinent der ‚Offenen Beziehungen‘ ist seinerseits ein ganzes Stück von der gegenwärtig noch immens viel größeren ‚Alten Welt der Monogamie‘ entfernt. Nur etwa 15% der Bevölkerung können sich derzeit überhaupt vorstellen, nicht-monogame Beziehungen zu führen, schon das ist keine besonders große Menge.
Und dann erst dein vielgestaltiges Archipel der Polyamory – diese pluralistische Inselgruppe, eben so noch in den Hoheitsgewässern der „Offenen Beziehung“ befindlich. Es heißt, daß es dort gerade einmal 2 bis 3% der Leute hin verschlagen hat, die sich nun als ‚polyamor‘ bezeichnen.
Und von diesem Archipel ist nun die ‚Oligoamory‘ das bislang letzte kleine bekannte Eiland – da finde mal die paar Menschen, die sich bis hierher bewegt haben. Ich meine, da ist ja beinahe der Name schon Programm: Ich brauche dich nicht zu erinnern das ‚oligo-‚ doch ‚wenig‘ bedeutet, und Wenige sind es auch, die in dieser Hinsicht Beziehungsphilosophie und anhängige Lebensweise ähnlich auffassen und teilen möchten. Die müssen sich erst einmal finden!“
„Aber Du selbst bist doch jetzt auf dieser Insel…“, begehrte mein*e Freund*in auf. „Ja, schon“, unterbrach ich, „allerdings erst seit drei Wochen. Und damit kommt ein ganz wichtiger oligoamorer Faktor ins Spiel…“ „Welcher da ist?“
„Die Zeit natürlich“, sagte ich. „Deshalb finde ich das Symbol der Oligoamory, insbesondere dessen Doppelspirale, ja so charakterisierend: Keine Beziehung kann wie mit einem Knopf eingeschaltet werden und dann ist sie sogleich voll entfaltet in der Welt. Beziehungen bahnen sich an, werden aufgenommen, entwickeln sich, wachsen (hoffentlich) zusammen und werden über einen langen Zeitraum hinweg erst immer tiefer und ziehen größere Kreise. Ganz abgesehen von ihrer Eigendynamik und Wechselwirkung auf die daran Beteiligten, die ich in der Spirale ja erst recht gut getroffen finde…“
„Also gut, wir sind nicht an jeder Ecke zu finden, manchmal ist es regelrecht schwierig, das gebe ich zu.“ sagte mein Gegenüber. „Das mit der Beziehungsanbahnung und -führung ist aber doch wohl nirgendwo anders – oder?“
„Darauf antworte ich ein messerscharfes ‚je nachdem‘ “, sagte ich. „Wir leben leider in einer tendenziell serieller werdenden Welt. Alleine die hohen Scheidungsraten legen das nahe. Diesen Hang zur Serialität legen Menschen aber nicht automatisch ab, wenn sie das Territorium von offenen Beziehungen oder polyamoren Boden betreten, selbst wenn sie dort neue Werkzeuge zur Beziehungsführung vorfinden.“
„Und die Oligoamory…“ begann mein*e Gesprächspartner*in. „Ist so abseitig und überschaubar, daß ihre Bewohner*innen deshalb schon aus nachhaltigen Gründen keine schnelle Austauschbarkeit anstreben. Oder genauer, wie ich Dir bereits in meinem Brief schrieb, würden sie in ihrem Streben, sich wechselseitig als ‚ganze Menschen‘ mit allen Stärken und Schwächen anzuerkennen, eher keine Parallelbeziehungen aufgrund rein situativ unerfüllter Bedürfnisse aufnehmen (oder nach Laune wieder ablegen). Das würde ja auch gar nicht zu ihrem Motiv der Zeit und der Endlichkeit passen: Beziehungen sind für sie da mehr wie Pflanzen, quasi organisch. Es ist für alle Beteiligten sinnstiftender, sich über einen wirklich langen Zeitraum in sie einzubringen, um sie mitgestalten zu können. Zeit spielt in der Oligoamory also immer eine Rolle. Eine Mehrfachbeziehung unter verbindlich-nachhaltigen Kriterien zu führen, heißt auch, sie schon beim Aufbau verbindlich und nachhaltig anzugehen und das benötigt genau wiederum Zeit.“
„Was nun aber deine Zweisamkeit hier angeht, mein Bester…“ Diesmal unterbrach ich sofort: „Die Wenigen, die in der Oligoamory angesprochen werden können auch bloß Zwei sein“, sagte ich. „Qualitative Beziehungsführung steht jedem gut, egal wie viele es sind. Ich würde in dem Fall sogar sagen, daß es schon richtig klasse wäre, wenn man demgemäß eine gute Beziehung nur mit sich selbst hätte…“ „Klingt nach einem aber…“ „Richtig, Du weißt doch, daß ich da mit Scott Peck und übrigens auch Gerald Hüther einer Meinung bin: Um wirklich weiter zu kommen, brauchen wir die Anderen! So schreibt Hüther zum Beispiel in seinem 2011 erschienen Buch ‚Wer wir sind und was wir sein könnten‘:
‚Wer sich also weiterentwickeln will, muss in Beziehungen denken und in Beziehungsfähigkeit investieren. Das ist das Geheimnis der Kunst des miteinander und aneinander Wachsens. Erreichen lässt sich dieses Kunststück aber nur durch die Wertschätzung der jeweils anderen als einzigartige Persönlichkeiten, als Quelle von Wissen und Erfahrung, sowie durch die Einführung einer Lern- und Fehlerkultur im gelebten Miteinander.‘

„Ok, ich habe verstanden. Oligoamory, das sind also die Wenigen – und das Wenige braucht Zeit zur Entfaltung.
Wie soll ich dazu aber dann diesen Stein, den Du mir gezeigt hast verstehen? Das ist doch eine ziemliche Monstrosität, meinst Du nicht? Was müßte man für ein Übermensch sein, um das alles zu erfüllen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es irgendwo eine lebendige Beziehung gibt, welche die dort aufgeführten Merkmale realisiert!“ sprach mein Gegenüber immer aufgebrachter.
„Moment, Moment!“, rief ich. „Du solltest den Stein diesbezüglich weder über- noch unterbewerten.“ „Was heißt das schon wieder?“ „Du hast den Stein doch gesehen“, sagte ich, „das ist ja nun nicht gerade eine pompöse Kultstätte, an der die Oligoamoren unter dramatischen Riten ihre Beziehungen darbringen. Ganz im Gegenteil: Es ist ein versteckter, beinahe schon kontemplativer Ort.
Ab und zu, wenn ein oligoamorer Mensch das Bedürfnis danach verspürt, begibt er, sie oder es sich in diesen privaten Raum, um innere Zwiesprache zu halten. Dabei geht es dann meistens um die Person selber, beispielsweise wenn sie ihre Verbindungen im Zusammenhang mit den Werten dort betrachtet, ob ihr eine bestimmte Beziehung jene Dinge noch erfüllt, ob alles in guten Anteilen enthalten ist, ob vielleicht etwas verändert werden könnte, und ob ein Zeitpunkt für Austausch und Kommunikation miteinander darüber gekommen ist – so etwa.“
„Ah, ich beginne zu verstehen…“
„So ‚übermenschlich‘ empfinde ich die Werte übrigens gar nicht. Zugegeben, wegen der Menge der Zeichen und Synonyme kommt es einem so gewaltig vor. Genau genommen ordnen sie sich aber um nur fünf Kernbereiche an, die ich jetzt mal grob ‚Verbindlichkeit, Berechtigung, Aufrichtigkeit, Identifikation und Nachhaltigkeit‚ nennen würde. Außerdem haben die Oligoamoren seit jeher das ‚menschliche Maß‘ sehr betont. Also in dem Sinne, daß ein Ideal als Leitstern wichtig ist, nach dem es sich stets zu streben lohnt – aber für das man keine Gefangenen macht, nicht einmal sich selber. Da hat dieser Gerald Hüther auch etwas zu geschrieben, warte mal:
‚Diese Potentiale konnten damals und können auch heute Menschen nur gemeinsam entfalten. Nicht in Gemeinschaften, die Ameisenstaaten, Horden oder Schwärmen ähneln, sondern in individualistischen Gemeinschaften, in denen es auf jedes einzelne Mitglied ankommt, wo jede*r Einzelne die in ihm angelegten besonderen Begabungen entfalten und mit seinen besonderen Fähigkeiten zur Entfaltung der in diesen Gemeinschaften verborgenen Potentiale beitragen kann.‘
Das ist für mich hinsichtlich der Oligoamory ein sehr schöner Gedanke. Individualistische Gemeinschaften. Da ist sichergestellt, daß auch die vielbeschworenen ‚Werte‘ für die beteiligten Menschen vom Inhalt her immer individuell zugänglich werden und bereichern. Erinnerst Du Dich: Die oligoamoren Schlüsselworte waren ‚Bedürfnisgerechtigkeit statt Verteilungsgerechtigkeit‚ “

„In Ordnung“, gab mein*e Freund*in zu, „ wenn Du es so darstellst, klingt es gleich viel wärmer und lebensnäher.
Ein- zwei Problemchen hätte ich aber trotzdem noch…“ „So? Na dann – Feuer frei!“
Du hattest ja schon viel dazu erklärt, warum ‚Polyamory‘ für Dich selber nicht mehr charakterisierend genug war und wo Du die Chancen der ‚Oligoamory‘ siehst. Dennoch berufst Du Dich dabei gleichzeitig auf zahlreiche Errungenschaften der Polyamory. Doch dabei, scheint mir, hast Du eine Menge über Bord geworfen. Was ist mit den dortigen Werten, die Du bisher noch gar nicht genannt hast, wie z.B. Kommunikation, Vertrauen, sowie der Freiheit von Kontrolle und besitzergreifendem Verhalten?“
„Da halte ich tatsächlich am stärksten gegen“, stellte ich fest, „ weil ich nichts davon als ‚Wert‘ im eigentlichen Sinne betrachte.“ „Wie bitte?“
Ja, das hast Du richtig gehört. Im Gegensatz zu Kriterien wie z.B. Transparenz, Einvernehmlichkeit oder Gleichberechtigung, denen trotz graduell unterschiedlicher Auslegung ein einigermaßen verbindlicher Inhalt zugeordnet wird, gilt das für ‚Kommunikation‘, ‚Vertrauen‘, sowie der ‚Freiheit von Kontrolle und besitzergreifendem Verhalten‘ nicht – diese Beschreibungen enthalten nämlich eine sehr große Bandbreite von damit einhergehenden Handlungsweisen. Ich möchte die Einzelpunkte auch gar nicht näher sezieren, denn meiner Meinung nach sind es keine fixen ‚Werte‘ sondern nichtsdestoweniger wichtige, flexible Stellgrößen. Und hinter den vier obigen Begriffen stecken eigentlich ’nur‘ zwei Stellgrößen, die beide auch für die Oligoamory bedeutsam sind: Kommunikation und Vertrautheit.“
„Das erklär‘ mir mal bitte genauer.“
Kommunikation ist da ein prima Beispiel: Kommunikation ist wichtig für jede Beziehung. Ohne Kommunikation bräuchten wir Gedankenlese-Rubine, die in unsere Stirn eingelassen sein müßten, wie Marshal Rosenberg, der Schöpfer der ‚Gewaltfreien Kommunikation‘ augenzwinkernd sagte, um herauszubekommen, was im Anderen lebendig ist. Nur mit Kommunikation kann ich mich zeigen, nur mit Kommunikation kann ich die Anderen erleben. Es gibt also entsprechend stürmische Zeiten, in denen vermutlich eine Menge Kommunikation erforderlich ist – und es mag harmonische Zeiten geben, die mit sehr wenig auskommen. ‚Kommunikation‘ ist demgemäß wie ein Hebel oder ein Regler auf einer Skala. Überhaupt hat ‚Kommunikation‘ in dem Sinne sehr viel von einem Werkzeug, denn es ist umso dienlicher, je hochwertiger es ist. Das ist auch der Grund, warum soviele polyamore und gerade auch oligoamore Menschen sich ständig im guten Sprechen und im noch besseren Hören üben.“
„Und das mit dem Vertrauen ist also auch so ein ‚Regler‘?“
„Genau. Wenn Du sagst ‚Besitzanspruch‘ oder ‚Kontrolle‘ oder meinethalben sogar in Teilen ‚Eifersucht‘, dann liegt an der Wurzel all dieser Erscheinungsformen in den allermeisten Fällen ein Mangel an (wechselseitigem) Vertrauen. Vertrauen ist als ganz klar ein verstellbarer ‚Regler‘, weil das Verhalten der Beteiligten, ganz genau wie bei der Kommunikation, Einfluß auf den Punkt auf der Skala haben wird, an dem die Betroffenen miteinander stehen. So und jetzt kommt der oligoamore Faktor…“ „Och nö…“
„Oh ja. Denn Vertrauen (und gute Kommunikation genau genommen auch) ist abhängig von investierter und miteinander verbrachter Zeit. Ich muß dir an dieser Stelle vermutlich einen sehr langweilig klingenden Begriff sagen: ‚Vorhersagbarkeit’…“ „Puh….“ „Ja, puh, aber ‚Vorhersagbarkeit‘ ist für Menschen ein ganz wichtiges Ding, denn bedenke die Alternative.“ „Welche da wäre…?“ „’Unberechenbarkeit‘! Und das ist, was wir Menschen – zumindest in unseren Nahbeziehungen – gar nicht gut ertragen können (und was sogar erwiesenermaßen höchst ungesund ist).“
„Ok – aber was hat das jetzt mit unserem Thema zu tun?“
„Pass auf: Damit ‚Vertrauen‘ den beteiligten Parteien seinen Dienst erweisen kann, damit Besitzergreifung, Kontrolle oder Eifersucht nicht die Gewinner am Beziehungstisch werden, muß Zeit vergehen, in der die Menschen miteinander ‚Vorhersagbarkeit‘ und ‚Berechenbarkeit‘ erlangen. Genau dafür braucht es die ganz zu Anfang erwähnte Zeit. Und erst wenn aus einem gewissen Vorvertrauen berechenbare ‚Vertrautheit‚ entstanden ist, ist eine wirklich belastbare Beziehung entstanden. Unnötig zu sagen, daß dies kein statisches Ergebnis ist, sondern ein Prozess, der vermutlich immer mal wieder aufgesucht werden muß (was ich ja auch schon zum ‚Stein‚ sagte…)…“

„Gut“, mein Besuch stieß hörbar Luft aus. „Aber wenn das zutrifft, was Du mir bisher über Oligoamory erzählt hast und heute von der Insel gezeigt hast, dann könnten die Maßgaben der Oligoamory aber doch auf jedwede Kleingruppe von Menschen angewendet werden, die sich in einer gemeinschaftlichen Form im weitesten Sinne ‚verbunden‘ fühlen. Entfernung würde da keine Rolle spielen – und es würde irgendein gemeinsamer sinnstiftender Zweck als Grundlage ausreichen. Damit wäre Oligoamory doch auch auf kleine Interessengemeinschaften, Vereine, WG’s oder ähnliches anwendbar. Sogar auf Gruppen, die sich nur über das Internet kennen und überhaupt bloß auf diese Weise Kontakt halten…“
„Im Prinzip ja. Aber…“
„Ich wußte, daß es da auch ein ‚aber‘ geben würde…!“ „Aber“, lachte ich, „es heißt ja nicht ‚Oligo-Utility‘ sondern ‚Oligo-Amory‘. Jetzt haben wir so lange geredet, daß Du fast das Wichtigste aus den Augen verloren hast: Wir sprechen doch über emotionale, intime Beziehungen, von durch Liebe getragenen Verbindungen!
Von dem, was ich bisher weiß, würde ich darum sagen: Wenn von den Beteiligten eine tiefe emotionale Verbundenheit miteinander geteilt wird, dann entsteht eine buchstäbliche ‚Zugehörigen-Gemeinschaft‘, bei der es nicht länger bedeutungsstiftend ist, ob die darin befindlichen Verbindungen auch noch durch körperliche Intimität oder gar Sexualität unterstrichen werden. In so einer Gruppe ist Raum für z.B.den 80jährigen Großvater, genauso wie für asexuelle oder körperbehinderte Personen, natürlich auch für Kinder, für Menschen jeder Couleur, jeden Genders, jeder Berufung oder Begabung.
Ich würde sogar soweit gehen und sagen, daß, wenn diese tiefe wechselseitige emotionale Verbundenheit geteilt und gespürt wird, dies auch über Entfernung möglich ist, solange es den in einer solchen Verbindung Befindlichen jeweils zu ihrer vollen Zufriedenheit dienlich ist.
Ich glaube aber genau darum, daß dies niemals für unbegrenzt große Gruppen darstellbar ist, sondern eben auch einem übersichtlichem, menschlichen Maß gerecht werden sollte, ebenso wie dem für alle jederzeit noch erkennbaren ‚gemeinsamen Wir‘.
Diesbezüglich überlasse ich Gerald Hüther heute auch das Schlußwort:
‚Es gibt keine Freiheit ohne Verbundenheit. Aber Verbundenheit ist nicht Abhängigkeit. Wir Menschen sind in der Lage, unsere Beziehungen so zu gestalten, dass wir uns verbunden fühlen, ohne abhängig zu sein. Aber dazu müssten wir uns um die anderen kümmern oder zumindest bereit sein, all das, was wir haben, mit ihnen zu teilen. Unsere Nahrung, unseren Lebensraum, unsere Aufmerksamkeit, unsere Kraft, unser Wissen, unser Können, unsere Erfahrung.‘
– und, möchte ich hinzufügen, unsere Liebe.“



Dank an Kyle Glenn auf unsplash.com für das Bild der Habitatsphäre

Eintrag 3

Der Stein der Oligoamoren

Eines Tages entdeckte ich, ungefähr in der Mitte der Insel, einen sehr großen, halbversunkenen und bereits etwas bewachsenen Stein. Dennoch waren auf ihm recht deutlich Worte und Zeichen der Einheimischen zu erkennen, die ich sofort neugierig zu entziffern begann. Dabei stellte ich fest, daß hier vielerlei Hände die Werte der Oligoamory zusammengetragen hatten. Unter den mir schon vom Archipel der Polyamory vertrauten Größen entdeckte ich zu meiner freudigen Überraschung allerdings sowohl bislang weniger vertraute Begriffe, als auch Vertiefungen, die ich so noch nie zuvor erblickt hatte.

Meine persönliche Übertragung der dort aufgefundenen Merkmale möchte ich hier mit Euch teilen:

1) Zuallererst blieb mein Blick an einem Symbol hängen, welches mir schon lange bekannt schien: „Ach, das ist ja ‚Verantwortung‘ “, dachte ich zunächst, „das kenne ich doch bereits vom sonst eher wenig reglementierten Kontinent der offenen Beziehungen…!“. Mit Verantwortung konnte ich etwas anfangen, war es doch in jeder non-monogamen Beziehung besonders wichtig, Verantwortung für das eigene Tun in Bezug auf weitere potentielle Partner*innen zu übernehmen. „Ja, sicher“, dachte ich, „eigene und fremde Grenzen achten, keine unnötigen Risiken eingehen – insbesondere bei Intimitäten mit verschiedenen Beteiligten – ist doch klar.“
Ich wollte mich schon dem nächsten Begriff zuwenden, als ich stutzte, denn irgendjemand hatte dem Symbol eine etwas verwitterte Glyphe zugefügt, so daß hier offensichtlich nicht nur Verantwortung gemeint war, sondern der Begriff zu „Verantwortlichkeit“ erweitert worden war. „Schau an“, erkannte ich, „da sind die Schöpfer dieses Steins ganz klar mit den Leuten vom Archipel der Polyamory verwandt. Nicht nur Veranwortung für sich selbst, wünschen sie, sondern eine Form ethisch selbstverpflichtender Verantwortlichkeit für das ganze Beziehungsgeflecht!“ Nun, auch das war mir als ehemaligem Bewohner des Archipels nicht gänzlich neu. Verantwortlichkeit bedeutete ja schließlich, sich selbst nicht aus der Gleichung zu nehmen, wenn es mal unangenehm wurde, sondern zu dem zu stehen, was Mensch angezettelt hatte. Und das eben auch für den erweiterten Bereich all jener Mehrfachbeziehungen, von denen Mensch ein Teil ist. „Ja, Verantwortlichkeit heißt eben auch, daß alle Beteiligten das große Ganze im Blick haben und ihren Beitrag daran“, lächelte ich, „clever, diese Polyamoren…“
Jetzt hatte ich mir das nächste Zeichen aber verdient!
Doch was soll ich sagen: Kaum wollte ich die Verantwortlichkeit abhaken, da erkannte ich, daß die oligoamoren Macher*innen dieses ausgeklügelten Monolithen mit einem weiteren kühnen Schlag ihres Meißels die Verantwortlichkeit zur „Verbindlichkeit“ gemacht hatten. Das war ja nun beinahe schon eine Metapher, indem so die Bindung des Individuums sowohl an die einzelnen beteiligten Menschen als auch an die Gesamt-Mehrfach-Beziehung betont wurde. Und natürlich klang darin auch die Selbstverpflichtung des vielzitierten „in guten wie in schlechten Zeiten“ wieder an.
Neben diesem nun doch überraschend komplexen Zeichen hatte ein/e andere/r Künstler*in das Zeichen für „Integrität“ gesetzt. Sollte dieses reichlich altmodische Emblem etwa eine Erklärung darstellen? Ich hatte diesen vordergründig unscheinbaren Zusatz mit diesem Gedanken beinahe abgetan, als mir siedenheiß einfiel, daß Integrität ja Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem bedeutet. Innerlich dankte ich dem unbekannten Autor – und mußte gleich darauf lächeln – denn natürlich fand sich knapp daneben auch das Zeichen für „Verläßlichkeit“.

2) Nachdem der erste Begriff doch unerwartet vielfältig und bedeutungsreich ausgefallen war, wollte ich mich bei einem vermeintlich einfacheren etwas erholen. Darum freute ich mich, als ich das Wort „Konsens“ erkannte, der mir auch schon auf dem Kontinent der offenen Beziehungen begegnet war. Konsens war für den Aufbruch von Beziehungen in die Nicht-Monogamie das A und O – sonst wäre es ja eine Affäre oder irgendeine andere Heimlichkeit, wenn nicht alle Partner eine informierte Wahl bzw. Mitsprach auf Augenhöhe bei diesem wichtigen Öffnungsschritt hätten.
Aber meine Erfahrung mit dem mehrschichtigen ersten Zeichen ließ mich hier sofort genauer hinsehen. Und – tatsächlich – die Sigille für Konsens war von eindeutig polyamor geprägter Hand gleich auf „Berechtigung“, was sogar eventuell als „Gleichberechtigung“ gelesen werden konnte, ausgedehnt worden. „Folgerichtig…“, dachte ich, „…ethisch geführte Mehrfachbeziehungen räumen allen Beteiligten gleiche Rechte hinsichtlich persönlicher Entscheidungen, Ressourcenverteilung und Grenzen ein, da gab’s doch sogar mal so eine Art Charta zu… Darum ist ja in der Polyamory auch kaum Raum für ‚Don’t-ask-don’t-tell-Vereinbarungen¹‘, denn damit wird meistens zu sehr das Recht der allseitig informierten Wahl beschnitten. Berechtigung, ja, ganz wichtig, um gut für sich und mit seinen Lieben ebenbürtig verhandeln zu können…“
Gerade wollte ich mich von diesem vermeintlich gut verständlichen Begriff abwenden, als mir erneut einer dieser kühnen oligoamoren Zusätze auffiel, die unversehens dem Symbol die Bedeutung „Teilnahme“ beigefügt hatte. „Warum denn Teilnahme statt Teilhabe?“, grübelte ich, „wenn man dann schon (gleich)berechtigter Teil einer Mehrfachbeziehung ist, ist das doch wunderbar…?“ Da begriff ich, daß der Oligoamory die Möglichkeit rein passive Berechtigung oder Teilhabe wohl nicht ausreichte. Für die der Oligoamory zugrunde liegenden kleinen Beziehungsnetzwerke schien es sehr bedeutsam, wenn auch alle dort Beteiligten aktiv an der Beziehungsgestaltung teilnahmen – und somit auch von ihren unveräußerlichen Rechten mitgestaltend Gebrauch machten. Noch beim Niederschreiben erkannte ich den Sinn dahinter: Eine Beziehung, die alle daran Beteiligten repräsentieren soll und in der sich alle wohl fühlen wollen, muß auch von allen darin gestaltet werden.

3) Die Sonne war mittlerweile hoch gestiegen und ich erkannte, daß dieses oligoamore Vermächtnis mehr einhielt, als es oberflächlich dem Auge darbot. Ich beschloß, die Herausforderung anzunehmen und widmete mich dem Symbol für „Transparenz“. Transparenz konnte nur von den polyamoren Vorfahren der Insulanern auf den Stein gebracht worden sein, denn viele bloß offene Beziehungen kamen ohne dieses Merkmal aus. Für funktionierende Mehrfachbeziehungen hingegen war das Symbol so nachvollziehbar wie auch notwendig, denn wie hieß es doch: Transparenz ist ein für erstrebenswert gehaltener Zustand frei zugänglicher Informationen und stetiger Rechenschaft über Abläufe, Sachverhalte, Vorhaben und Entscheidungsprozesse. Kein Wunder, daß dem Symbol für Transparenz unmittelbar das Piktogramm für „Ehrlichkeit“ beigeordnet war.
Genau dort aber hatten nun die oligoamoren Nachfahren angesetzt und diese geradlinigen Zeichen mit weiteren Vertiefungen ergänzt. „Wahrhaftigkeit“, las ich da, „Offenheit“ und zusammengefaßt war das Ganze in „Aufrichtigkeit“. Ich mußte an die zahlreichen Bewohner des polyamoren Archipels denken, die fortgesetzt bestrebt waren, ihren Partner*innen gegenüber so ehrlich wie nur möglich zu sein – und die zu diesem Zweck sogar die „Gewaltfreie Kommunikation“ bemühten, um so klar als möglich ihre eigenen Beweggründe und Bedürfnisse dabei darzulegen. Und natürlich wußte ich darum selbst, wie schwierig es manchmal sein konnte, ungeschönt die (subjektive) Wahrheit hören zu müssen. Warum jetzt also die „Aufrichtigkeit“ als besondere oligoamore Tugend?
Da fiel mir die Geschichte der „Radikalen Ehrlichkeit“ ein, die in deutscher Übersetzung besser „Radikale Aufrichtigkeit“ heißen müsste, für die ein US-Amerikaner namens Dr. Brad Blanton eintrat. Gemäß dessen Philosophie wäre es notwendig, um unter Menschen Lügen und Manipulation aufzulösen, stets radikal aufrichtig zu sein: Sich also gänzlich unverstellt und ungeschönt mit allen Schwächen und Unzulänglichkeiten zu zeigen, ohne in Wort und Tat besser erscheinen zu wollen, als man es eigentlich meinen würde. Nur so – folgerte dieser Doktor – würde ein authentischer „Moment großer Klarheit“ entstehen, in dem Menschen einander wahrhaft erkennen könnten, und ob ihre Gegenüber wirklich zu einem wechselseitigen Beitragen bereit wären.
Für die Bildung oligoamorer Nahbeziehungen war dies ganz offensichtlich ein so entscheidende Erkenntnis, die über bloße „Ehrlichkeit“ hinausging, daß es den Schöpfer*innen dieses Steins ein eigenes Zeichen wert war.

4) An dieser Stelle wurde ich von einer Stelle auf dem Stein abgelenkt, an der den Künstler*innen wohl tatsächlich ein Fehler unterlaufen war. Denn ich entdeckte ein Symbol, welches auf den ersten Blick mit dem Zeichen für „Treue“ identisch war. Mittlerweile hätte ich die oligoamoren Handwerker*innen aber besser kennen sollen, denn ich brauchte nicht einmal eine Lupe, um bei näherem Besehen zu erkennen, daß da in Wirklichkeit „Loyalität“ zu sehen war. Für mich selber gebe ich zu, daß ich den Begriff der Treue eigentlich ganz gern mag, denn das ehemals mittelhochdeutsche Wort, welches auch „sicher sein“, „vertrauen“ und „wagen“ bedeutete, ist ja nicht der Mononormativität vorbehalten. Treu sein kann man sich z.B. selbst, verschiedenen Idealen und darum natürlich auch mehreren lieben Menschen zugleich. Daß die Schöpfer*innen der Bildzeichen aber fehlerhafte Zuordnung vermeiden wollten, konnte ich nachvollziehen, verstehen doch derzeit noch allzu viele Menschen unter „Treue“ schnell so etwas wie „Eheknast lebenslänglich“ – und das meinten unsere Vorfahren mit dem Wort ganz sicher nicht.
Nun also „Loyalität“, da zitiere ich Wikipedia, denn ich kann es selbst nicht besser sagen: „[…] bezeichnet die auf gemeinsamen moralischen Maximen basierende oder von einem Vernunftinteresse geleitete innere Verbundenheit und deren Ausdruck im Verhalten gegenüber einer Person, Gruppe oder Gemeinschaft. Loyalität bedeutet, im Interesse eines gemeinsamen höheren Zieles, die Werte (und Ideologie) des Anderen zu teilen und zu vertreten bzw. diese auch dann zu vertreten, wenn man sie nicht vollumfänglich teilt, solange dies der Bewahrung des gemeinsam vertretenen höheren Zieles dient. Loyalität zeigt sich sowohl im Verhalten gegenüber demjenigen, dem man loyal verbunden ist, als auch Dritten gegenüber.“ Da verwunderte es mich nicht mehr, daß die oligoamoren Urheber*innen, denen das „gemeinsame Wir“ so wichtig war, daß sie es zu ihrem wichtigsten Merkmal erhoben, dieser Stelle auch noch mit den Symbolen für „Einlassung“ und „Identifikation“ schmückten.

5) Als ich nach einem kurzen Päuschen im Schatten am Fuße des Steins erwachte, hatte ich meinen Rücken gegen ein weiteres Zeichen gelehnt, welches mich schmunzeln ließ, da es mir in dieser idyllischen Umgebung in seiner scheinbaren Neuzeitlichkeit hier geradezu unpassend erschien. „Guck an“, amüsierte ich mich, „da wollten die alten Oligoamoren auch mal modern erscheinen….“ Indessen erkannte ich augenblicklich, daß das von mir bespöttelte Zeichen für „Nachhaltigkeit“ schon genauso lange auf dem Stein sein mußte, wie all die anderen auch – daß es aber mit Nachdruck an dieser wichtigen Stelle, quasi der Basis des Steins, angebracht worden war. Trotzdem hatte in jüngere Zeit wohl irgendein kluger Mensch ein komplexes – und tatsächlich neues – Bild als Erklärung danebengesetzt. Aber was sollten denn nun auch noch die drei Komponenten der Nachhaltigkeit „Konsistenz“, „Effizienz“ und „Suffizienz“ mit menschlichen Mehrfachbeziehungen zu tun haben? Wir waren doch keine Recyclingverpackungen…

Als ich auf diese Dreiecksanordnung blickte, fiel es mir endlich wie Schuppen von den Augen. „Aber natürlich!“ Selbstverständlich wünschten sich die Vertreter*innen der Oligoamory, daß ihre Beziehungen konsistent, also sowohl dauerhaft als auch (werte- und personen-)beständig waren. Darum gab es ja sogar in der Polyamorie oftmals das Streben nach Langfristigkeit.
Zugleich sollten oligoamore Beziehungen aber auch für die daran Beteiligten effizient sein. Damit war nicht weniger gemeint, als daß die Beziehungen den Menschen darin dienlich sein sollten, geeignet für alle Beteiligte, und förderlich, sich nach ihren jeweils individuellen Potentialen entfalten und ergänzen zu können.
Und suffizient sollten sie sein – wie hätte ich das jemals unter dem Symbol der endlichen und offenen Doppelspirale im Herzen der Oligoamory vergessen können – weil die Beziehungen zufriedenstellend und (selbst)genügsam sein sollten, also eben gerade nicht unendlich oder beliebig, sondern menschlichen Maßen von Überschaubarkeit und Vertrautheit angemessen.

Abendliches Licht hatte den Platz rund um den Stein eingehüllt und verlieh damit dem Ort fast so etwas wie eine besondere Kraft. Als ich meine Ausrüstung zusammenpackte und einen letzten Blick auf den Stein warf, fiel mir etwas ein, was vor langer Zeit ein Mann namens Scott Peck in seinem Buch „A Different Drum“ über Gemeinschaftsbildung gesagt hatte:

„Es ist wahr, daß wir zur Ganzheit aufgerufen sind, Aber es ist ebenso wahr, daß wir nie völlig heil werden können in uns selbst und durch uns selbst. Wir können nicht alles für uns und andere sein. […]
Es ist zwar wahr, daß wir dazu geschaffen sind, als Einzelne einmalig zu sein.
Wir sind jedoch auch soziale Wesen, die sich gegenseitig nötig brauchen, nicht nur als Versorger, nicht nur zur Gesellschaft, sondern damit unser Leben sinnvoll ist. […]
Wenn wir soweit gekommen sind, den sehr unterschiedlichen Stil der anderen als Geschenk zu schätzen, fangen wir allmählich an, die Begabungen der anderen bis zu einem gewissen Grad zu verinnerlichen. […] Das wäre nicht möglich gewesen, wenn wir nicht zuerst mit unseren eigenen Unzulänglichkeiten fertig geworden wären und wir nicht unsere gegenseitige Abhängigkeit erkannt hätten. […]
Es ist diese Art von sanftem Individualismus, die unsere Abhängigkeit voneinander anerkennt, nicht nur intellektuell, sondern tief in unserem Herzen.“


Fußnote
¹ Don’t-ask-don’t-tell: zu deutsch etwa „Frag nicht, sag nicht[s]“: intransparente Beziehungsvereinbarung, bei der die beteiligten Parteien festlegen, einander weder bezüglich Details weitere Partner*innen betreffend zu befragen noch zu informieren.

Dank geht an die freundliche Genehmigung von Prof. Dr. Bernd Siebenhüner zur Nutzung der „Nachhaltigkeitsgrafik“;
sowie an den User darf-nicht-mehr-hochladen auf pixabay für das Bild des Steins.

Eintrag 2

Rückantwort an das Archipel der Polyamory

Liebe*r Freund*in,

Du fragtest mich, warum ich das vielgestaltige Archipel der Polyamory für ein bislang unbekanntes Eiland verlassen habe.
Zunächst einmal möchte ich Dich beruhigen, indem ich ja nicht aus der Welt bin, da meine neue Wirkungsstätte – entlegen wie sie auch sein mag – doch Teil Deines Archipels ist und bleibt.
Gleichzeitig möchte ich Dir ausführlich Antwort auf Deine Frage geben, da diese Angelegenheit für mich natürlich ebenfalls erhebliche Bedeutung hat:

Abgesehen von der mittlerweile etwas inflationären Anwendung des Begriffs „Polyamory“ auf doch recht unterschiedliche Erscheinungsformen und Lebensweisen von Mehrfachbeziehungen (was ich in Eintrag 1 kurz skizzierte), sind aus meiner Sicht auch dem polyamoren Kernbereich selber im 21. Jahrhundert vor allem drei problematische Aspekte entsprossen, die für Beziehungsmenschen meiner Art gegenwärtig regelmäßig wiederkehrende Stolpersteine dieser gesamten Beziehungsphilosophie darstellen.
Und diese neuralgischen Punkte hängen dabei auf gewisse Weise sogar miteinander zusammen.

1) Sexualität als wichtigstes gemeinschaftsstiftendes Hauptinteresse:
Diesem Absatz muß ich zuvor schicken, daß ich keineswegs „sexnegativ“ bin – ich selber schätze, genieße und praktiziere Sexualität in mancherlei Formen, und insbesondere meine Hochsensibilität läßt mich dabei regelmäßig grandiose Höhenflüge mit meinen Lieblingsmenschen erleben.
Was mich hinsichtlich der Polyamory aber immer wieder irritiert, ist die selbst in ernstzunehmenden Foren und Fachaufsätzen regelmäßig beschworene Betonung von gelebter Sexualität als essentiellen und unveräußerlichen Bestandteil der polyamoren Lebensweise.
Diese Betonung wird insbesondere meist dann besonders hervorgehoben, wenn die wichtige Rolle polyamorer Denkweise und Lebensart hinsichtlich der individuellen sexuellen Befreiung und der anhängigen Relevanz von diesbezüglichem moralischen Nonkonformismus Nachdruck verliehen werden soll. Diese Relevanz, die also genau genommen ein soziopolitisches wie kulturpolitisches Argument aus den Wurzeln des Feminismus wie auch der „Freien-Liebe-Bewegung“ ist, kann aus meiner Sicht in gelebter Anwendung in sich anbahnenden Liebesbeziehungen jedoch zu Verwicklungen führen.
Einmal ganz platt darin, indem „Poly-Amory“ als „Viele-Lieben“ dann als „Mit-Vielen-Liebe-machen“ mehr im Sinne von Promiskuität vor allem quantitativ ausgelebt wird.
Was wiederum in etwas abgeschwächter Form dazu führen kann, daß Sexualität in der Polyamory dann zum wichtigsten „gemeinschaftsstiftenden Hauptinteresse“ geraten kann, was in Folge so gewissermaßen als früh initiierter „Türöffner“ bzw. „Kompatibilitätstest“ auf potentielle Liebespartner*innen angewendet werden könnte.
Wiewohl ich ja selber oben erwähnte, daß gemeinschaftliche Sexualität etwas sehr schönes und bereicherndes sein kann, besteht für mich auf diese Weise das Risiko, daß auch das partnerschaftliche Interesse dann oft nicht weiter gehen wird als bis auf die rein sexuelle Ebene. Und selbst wenn dies für alle beteiligten Parteien völlig in Ordnung ist, habe ich damit trotzdem folgende zwei Probleme:
a) Für serielle bzw. parallel sexuelle Verbindungen ohne zusätzliche Beziehungsdimensionen braucht es keine (pseudo-)Legitimation durch eine so komplexe Beziehungsphilosophie, wie Polyamory es sein kann. Offene Beziehungen, Swinger-Arrangements, und Gelegenheits-Dating decken diesen Bereich bereits seit Jahrzehnten etabliert ab – also nennt die Dinge doch bitte bei ihrem richtigen Namen.
Sexualität als Hauptmerkmal der Polyamorie hervorzukehren, sorgt indessen vor allem für fragwürdige mediale Aufmerksamkeit – und dortige anhaltende Begriffsvermischung.
b) In einem solchen Arrangement kompartmentalisiere ich genau genommen meine Partner*innen, indem ich sie auf ihre sexuellen Aspekte reduziere. Womit ich also nicht mehr die Person als Ganzes anspreche. Dadurch erhöht sich meiner Meinung nach die Gefahr von Serialität bzw. Austauschbarkeit, wenn z.B. Attraktivität oder Leistung nachlassen, da die Beziehung eben vor allem auf diesem Teilzweck aufbaut. Und dies wäre für mich ein höchst unethischer Umgang mit meinen etwaigen Partner*innen – und ich selbst möchte natürlich ebenfalls von meinen Lieblingsmenschen keinesfalls so gesehen oder gar behandelt werden wollen.

2) Bedingungslosigkeit und Bedürfnislosigkeit:
Selbst die Wikipedia-Artikel nennen derzeit „nicht-besitzergreifendes Verhalten“ als günstige Grundvoraussetzung einer funktionierenden polyamoren Lebensweise. Dies wird allerdings oftmals mit „Un-Bedingtheit“ (meist der Liebe) gleichgesetzt. Diese Bedingungslosigkeit wird dabei regelmäßig auch mit den Begriffen „Freiheit von (wechselseitigen) Ansprüchen/Erwartungen“ oder „Bedürfnislosigkeit“ paraphrasiert.
Insbesondere polyamore Kreise, die sich mit politischer „Freier Liebe“, spiritueller „Universeller Liebe“ oder – wie unter 1) dargestellt – mit Pan- bzw. Polysexualität beschäftigen, betonen diese Maximen ganz besonders. Dabei wird meist als Begründung angeführt, daß erst wenn ein Mensch jenseits seiner sämtlichen Vor-Urteile, Ansprüche und Bedürfnisse gelangt wäre, er/sie zu einer wirklich entwickelten Form der Viel- bzw. All-Liebe (zu jedwedem Geschöpf) fähig wäre.
Dieses Postulat ist für mich aus meiner oligoamoren Sicht, selbst als Idealist, der ich bin, zutiefst un-menschlich. Mir scheint dadurch nämlich die polyamore Wurst so hoch gehängt zu werden, daß sie zum einen lediglich einer kleinen Elite vorbehalten wird (die auch gerne noch nachschickt, daß man zum „echten Poly“ nur geboren wird) – und zum anderen sich wir Übrigen regelmäßig als „unreif“, „nicht weit genug“, „unterentwickelt“ oder „scheiternd“ erleben müssen. Und das ist für mich kaum eine liebevolle Grundhaltung. Auch hier möchte ich weder meine Partner*innen so sehen, noch von ihnen nach solchen Maßstäben bewertet werden.
Was mich dabei jedoch am meisten nachdenklich macht ist, daß hier ein Ideal formuliert wird, dem wir Menschen von unserem eigentlichen Wesen her nicht gerecht werden können : Soll ich wirklich alles und alle (partnerschaftlich) lieben können? Ist es dann beliebig, mit wem oder was ich mich in Beziehung begeben kann – oder will?
Ich sage: Als Menschen sind wir Individuen mit einzigartigen Grundvoraussetzungen, kombiniert mit einer jeweils einzigartigen Biographie. Beides hat uns zu dem gemacht, was wir hier und jetzt gerade sind. Genau diese Einzigartigkeiten machen meine (potentiellen) Partner*innen für mich anziehend – und ich bin es wegen meiner Eigenheiten hoffentlich für sie… – eben darum liebe ich sie und wünsche mir mit ihnen enge Beziehungen. Ihre und meine Liebe knüpft also direkt an unsere Einzigartigkeiten, Eigenheiten und Ausprägungen an, denn gerade das macht uns Menschen wechselseitig interessant und bereichernd.
Aber selbstverständlich haben wir Menschen genau wegen unserer biologischen und biographischen Unterschiede auch exakt jene unterschiedlichen Präferenzen, daß für uns bestimmte Einzigartigkeiten, Eigenheiten und Ausprägungen attraktiv erscheinen. Wodurch es genau nicht beliebig, frei oder universell ist, wer oder was zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Sondern zutiefst menschlich, wenn wir Bedürfnisse, Wünsche und auch Ansprüche hinsichtlich dem haben, was sich exakt die besonderen Personen in unseren selbstgewählten Beziehungsgemeinschaften wechselseitig erfüllen wollen.
Ein Anspruch auf Anspruchslosigkeit hingegen, der sowohl unsere Biologie negiert als auch unser Biographie marginalisiert, entlarvt sich für mich als Widerspruch in sich.

3) Pokémon-Poly und die Unendlichkeit der Liebe(n):
Last but not least habe ich aktuell den Eindruck, daß die Polyamory von manchen ihrer Anhänger*innen zu stark als Modell einer „zeitgemäßen Beziehungsform“ propagiert wird. Die dabei starke Betonung des sexuell- wie bindungsanspruchs-befreiten Individuums hat dabei zu der seltsamen Erscheinungsform der „Pokémon-Polyamorie“ geführt, wozu vermutlich unsere Lebensweise mit Paradigmen einer westlichen Industrienation, wie u.a. betonte Eigenständigkeit, Ideal einer Leistungsgesellschaft, substantielles Arbeitsnomaden- und Singletum, beigetragen haben.
So wird dieser zunächst etwas putzig klingende Modus dann auch vor allem – aber nicht nur – von Solopolys¹ gelebt, die dafür häufig als polyamore bzw. beziehungsanarchistische² Begründung anbieten, daß nach freiheitlich-aufgeklärtem Verständnis „…ein einziger Beziehungsmensch für alle evtl. bestehenden oder aufkommenden Wünsche und Bedürfnisse eines anderen Individuums gar nicht geeignet/in der Lage/zu belangen sei.“
Die Lösung gemäß dieser Doktrin besteht dann häufig darin, sehr individuell und freiheitlich-aufgeklärt alsdann jeweils ein*e Partner*in für jedes mögliche anfallende Bedürfnis anzunehmen – und sich in diesen Beziehungen dann jeweils mit dem entsprechenden Menschen (nur) nach situativer Befähigung zu verbinden: Shoppen mit René, Sex mit Lou, Kultur mit Alex, Workshops mit Fritzi, Kitesurfen mit Micky und Kochen mit Jojo, etc….
Meiner Meinung nach ist ein solches Vorgehen weder besonders polyamor, noch sehr aufgeklärt – oder gar zukunftsfähig. Ich empfinde es vor allem als egozentriert und den Partnern als ganzen Menschen gegenüber ungerecht. Denn auch hier liegt wieder die Kompartmentalisierung und Zweckreduzierung vor, die ich schon in 1) bemängelte: Es wird nicht der ganze Mensch mit seinen Stärken und Schwächen gesehen, wohl auch nicht gewollt – und sicher keinesfalls erwünscht oder geliebt. So werden Menschen zu (wechselseitigen) Bedürfniserfüllmaschinen.
Da wird mir himmelangst vor solcher „Poly-Amory“, weil ich befürchte, daß wir dabei irgendwann die Menschen, die aus irgendwelchen Gründen ihren designierten Zweck nicht mehr erfüllen wollen oder können, in die Wüste jagen. Und was würde uns selbst wohl widerfahren, sollten wir selber einmal krank, behindert oder alt werden? Wieviel Liebe ist dann für uns in diesem Modell noch drin?

Nein, liebe*r Freund*in. Dies alles sind Gründe, bei denen ich nicht möchte, daß sie einmal Teil meines Nachrufs sind, wenn ich dereinst alt und vereinsamt abtrete, weil ich Menschen unter polyamorer Flagge vorwiegend als Sexobjekte, arbiträre Wesen oder Wunscherfüller*innen betrachtet habe.
Darum habe ich Segel gesetzt hin zu jenem Eiland der Oligoamory, weil mir diesbezüglich das „Viele-Lieben“ zu beliebig zu werden droht.
Und hier hoffe ich, mit den Wenigen, die sich ob meiner sämtlichen Eigenheiten auf mich einzulassen bereit sind, verbindlich-nachhaltige Beziehungen aufzubauen, auf daß wir einander Zugehörige und vielleicht sogar Soultribe werden.

Mit dem Versprechen, Dir regelmäßig zu schreiben, grüßt Dich Dein Freund


Oligotropos

PS: Auf die Frage, ob ich/wir unbedingt noch einen weiteren Begriff benötigen, um Mehrfachbeziehungen zu beschreiben, werde ich als Expeditionsleiter dieser Entdeckungsreise selbstverständlich mit „JA!“ antworten.
Den oft damit implizierten Vorwurf, daß so bloß eine weitere „Schublade“ erschaffen würde, halte ich – wie stets in einem solchen Fall – entgegen, daß ein Begriff immer erst einmal nur ein Begriff ist, und das eine sg. „Schublade“ erst durch die Kombination von Begriff plus Bewertung (meist einer negativen) entsteht.
Begriffe selber unterstützen meiner Ansicht nach indessen meistens gute Kommunikation, mit dem Ziel, daß Menschen sich beschreiben und verständigen können – indem sie damit z.B. eine individuelle Ausgangsposition skizzieren. Und danach weiter miteinander sprechen sollten Menschen dann ja trotzdem, um wirklich ein wechselseitiges Verstehen zu bewirken.
So könnte ein Mensch nun z.B. sagen: „Ich wünsche mir für mich persönlich, enge oligoamore Beziehungen zu führen. Oligoamory gehört dem Bereich der polyamoren und transparenten Mehrfachbeziehungen an, die wiederum im weitesten Sinne eine Form von offener Beziehung darstellen.“





Fußnoten:
¹ Solopoly: Ein polyamorer Mensch, der zwar alleine lebt, dabei aber gleichzeitig Teil von Mehrfachbeziehungen sein kann.
² Beziehungsanarchie: Eine Form von Mehrfachbeziehung, in der alle anhängigen Partner*innen bzw. Beziehungen keine Rangfolge oder Gewichtung haben, sondern gleichwertig nebeneinander existieren.



Danke an Joanna Kosinska auf unsplash.com für das Foto!

Eintrag 1

Wie es dazu kam, daß ich mich aufmachte, das entlegene Eiland zu entdecken:

Meine vorherige Ehe wurde von meinen damaligen Freunden und Bekannten stets als „Offene Beziehung“ bezeichnet – eine Beschreibung, mit der sich meine damalige Frau und ich niemals als zutreffend beschrieben wohlfühlten.
Wir hatten kurz vor Ende des letzten Jahrtausends, wenige Jahre bevor wir dann 2002 heirateten, „lediglich“ – und zugegeben, vermutlich etwas naiv – miteinander ausgemacht, daß niemals einer von uns beiden eine weitere sexuelle Begegnung außerhalb unserer Beziehung mit jemand anderem erleben sollte, für den man nicht wahrhafte Zuneigung und Gefühle empfand (!).
Ja, Ihr da draußen habt richtig gelesen. Während viele Paare in „Offenen Beziehungen“ ebenfalls wohl die Vereinbarung haben, weitere sexuelle Begegnungen zuzulassen, wird dort häufig gerade das Heraushalten von Zuneigung bzw. Liebe ebenfalls festgelegt, um die Bestandsbeziehung zu sichern – und wir beide hielten es damals genau genommen nahezu umgekehrt.

Diese gewissermaßen antithetische Übereinkunft funktionierte für uns über ein Jahrzehnt gut bis…, ja, bis aus den zugelassenen Gefühlen und der Zuneigung eines Tages unversehens ein Wunsch nach einer echten weiteren Nahbeziehung im Raum stand.
Die geneigten Leser*innen mag es eventuell verwundern, da diese Folge beim heutigen darüber Nachsinnen sich doch als recht logische Konsequenz einer solchen Haltung darstellen mag. Wir jedoch hatten nie irgendein Vorgehen, einen B-Plan für genau diesen Moment überlegt, wenn aus den Empfindungen für einen weiteren lieben Menschen ein weiterer vollwertiger Beziehungswunsch entstehen würde…
Sämtliche Beteiligte fielen buchstäblich aus allen rosa Wolken.

Dementsprechend versuchten wir von da an etwa ein Jahr lang zu dritt (also gut, zu fünft, wenn man die Kinder mitzählt), gewissermaßen im „Heimwerkermodus“, mit Verständnis, Humor, und Mitgefühl eine Herangehensweise an dieses vermeintlich konventionslose neue Miteinander hinsichtlich veränderter Konfigurationen an Tisch und Bett zu finden.
Erst einige Zeit später gerieten wir – quasi durch eine Zufallsempfehlung – an das Buch „More Than Two – A Practical Guide to Ethical Polyamory“ von Eve Rickert und Franklin Veaux. Und diese 480-Seiten starke Abhandlung wurde quasi unsere erste wirkliche Grundlage – wenn man so will eine erste Landkarte – hin zu einem echten Verständnis der Bedeutung und der Auswirkungen von Mehrfachbeziehungen, insbesondere betreffs der daran Beteiligten.
Dadurch ergaben sich aber auch letztendlich Kriterien bezüglich der Bedürfnisse und Ansprüche eben jener Beteiligten an die Substanz dieser der Polyamory anhängigen Beziehungsphilosophie und der angestrebten eigenen Lebensweise selbst.

Am Ende trug unser selbstgezimmertes Floß darum dann auch nur noch zwei von uns (und nicht die Stammbesatzung!) vom altweltlichen Gestade der Monoamory zu dem vielgestaltigen Archipel der Polyamory hinüber, mit Landkarte und viel Idealismus im Gepäck.
Meine Hoffnung, daß meine Suchwanderung hier alsbald ihr ersehntes Ziel finden würde, erwies sich allerdings als verfrüht. Dabei erschien das neue Land zunächst weit und frei und voller spannender Bewohner*innen, deren Gepflogenheiten wir uns mit Eifer anzupassen suchten.
Dies geschah über rege Teilnahme an netzseitigen Foren zum Thema, über den Besuch von Stammtischen mit Einheimischen – und natürlich auch mit dem gezielten Eingehen einiger weniger Liebesbeziehungen mit jenen (den Einheimischen, nicht den Stammtischen).
Sogar das erstaunliche Atoll der Beziehungsanarchie nahmen wir dabei anfänglich mit Ehrfurcht zur Kenntnis und wagten sogar einige Schritte auf seiner eigentümlich egalitären Oberfläche.

Indessen: Nach beinahe drei Jahren intensiver Forschungsarbeit hatte sich in meinem kleinen Expeditionscorps Unruhe und Verwirrung ausgebreitet. Denn als ob ein zürnender Amor die Sprachen der polyamor Lebenden verwirrt und verstreut hätte, wollte sich keine beständige Basis für die dazugehörige Lebensweise etablieren lassen.

So gab es dort etwa Liebende, die wie in einer geschlossenen Ehe zu Mehreren lebten. Etliche Menschen sahen sich hingegen als Teile weitverzweigter und offener Beziehungsnetzwerke an. Einige wiederum lebten jedoch nahezu ausschließlich allein und verbanden sich mit jeweils ausgewählten Partner*innen nur auf Festivals, Seminaren oder an besonders gestalteten Wochenenden. Teilweise wurde dazu die unbedingte Deckungsgleichheit mit freier oder universeller Liebe postuliert. Andere Polyamoristen schienen indessen etwas zu leben, was Swingen nicht unähnlich war, und eine Anzahl führte sogar serielle oder parallele Affären im Namen der Viel-Liebe, und überhaupt schien die Betonung persönlicher sexueller Aspekte und Freiheiten vielerorts im Vordergrund zu stehen.
Aber dem ungeachtet nannten sich alle stolz Praktizierende der Lebensweise „Polyamory“ – und behaupteten dies besonders vehement und laut in Abgrenzung zu ihren nächsten Nachbarn, die mit entsprechender Leidenschaftlichkeit exakt das Gleiche wiederum für sich in Anspruch nahmen…

Die überall hervortretenden Meinungsverschiedenheiten schienen dadurch die verheißenen Merkmale von Transparenz, Verantwortung und Verbindlichkeit, durch die auch ich einst motiviert zu dem Archipel der Polyamorie aufgebrochen war, auf jederzeit verhandelbare Fußnoten zu reduzieren.

Zu diesem Zeitpunkt erkannte ich, daß ich eben nicht nur als Forscher, sondern selbst auch als Suchender gekommen war, mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen daran, was ich an Mehrwert für mich in polyamoren Beziehungen zu finden hoffte.
Was mir aber besonders deutlich wurde war das Dilemma, daß der bloße Begriff der Polyamorie zu Beginn des 21. Jahrhunderts von den Nutzer*innen nicht mehr konsistent verwendet wurde – und also auch nicht mehr in der Kommunikation zum Zusammenfinden Gleichgesinnter und zur Gemeinschaftsbildung taugte.

Was war zu tun?
Sich mit „Mission Impossible“ zufriedengeben und im Ungefähren mit Kompromissen einrichten? Ruhelos wanderte mein Fernglas über den vielgestaltigen Archipel, der auf einmal so unwirtlich und zerklüftet erschien. Sollte es…?

Doch dort, am äußersten Ende des Archipel, kaum sichtbar, in flimmernde Ferne entrückt, war da nicht doch noch ein weiteres Eiland, nominell dem Archipel zuzuordnen – und doch in seiner Ausprägung eigenständig? Mit einer streng wirkenden Küstenlinie – jedoch üppig grünendem, höchst lebendig erscheinendem Inneren…?
Ein Eiland, welches noch so ursprünglich wähnte, als wäre es bislang noch von keiner sauren Quelle der Begriffsverwässerung getrübt worden.

Mein Entschluß stand umgehend fest. Mit einem kleinen Boot wagten eine einzige Begleiterin und ich die ungewisse Überfahrt. Doch glücklich knirschte schließlich rauh der Kies des Strandes unter unserem Kiel.
Und so setzte ich endlich meinen Fuß in dieses neue Land.
Als ich dabei die mitgebrachte Herzflagge mit der blauen Doppelspirale entrollte, meinte ich in der Weite des blühenden Landesinneren einige wenige menschliche Silhouetten von Mitgliedern des hiesigen Stammes wahrzunehmen. Die kurze Erscheinung dieser ausgewählt Wenigen war es, die mir in jenem Moment den Namen des kleinen Eilandes eingab – und so sprach ich, die Insel betretend:
„Ich nenne Dich OLIGOAMORY!“





(Dank an Ken Suarez auf unsplash.com für das Bild der Insel!)